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Ein Anruf in der Nacht

von Gesa Ocker.

 


Es war eine sternenlose Nacht, als ich den Anruf bekam. Das Telefon klingelte leise auf meinem Nachttisch, im Halbschlaf griff ich danach. Welcher Mensch würde mich um diese Uhrzeit anrufen? Blinzelnd blickte ich auf das Display: „Lotta“. Sofort war ich hellwach. Lotta, meine beste Freundin, ich kannte sie vom Sport und seitdem waren wir unzertrennlich. Aber was in Gottes Namen wollte sie um drei Uhr nachts von mir… Wahrscheinlich wollte sie nur mal wieder wissen, was sie sich zu essen machen sollte oder ob ich der Meinung war, dass Rot besser zu Blau oder lieber zu Lila passte. Ich versuchte mich nicht allzusehr zu sorgen, als ich den Anruf annahm.

„Gesa?“, Panik schwang in ihrer Stimme, sie flüsterte, als hätte sie Angst, dass jemand uns hören könnte.

„Lotta. Was ist los?“, fragte ich besorgt.

„Ich… ich brauche deine Hilfe. Sofort. Ich… ich habe ein großes Problem.“ In Rekordzeit saß ich im Auto auf dem Weg zu dem Treffpunkt, den Lotta mir gesagt hatte. Ein abgelegener Parkplatz am Rande der Stadt. Meine Gedanken rasten, noch nie hatte ich Lotta so verzweifelt und ängstlich erlebt, jedes mögliche Szenario spielte in meinem Kopf und doch hätte mich nichts auf das vorbereiten können, was ich auf diesem Parkplatz erfahren würde.

Als ich ankam lehnte Lotta an ihrem Wagen, das Gesicht bleich und die Hände in den Taschen ihrer Jacke vergraben. Die dunklen Schatten unter ihren Augen zeigten, dass sie eine lange Nacht hinter sich hatte. Ich lief zu ihr und nahm sie in den Arm.

„Was ist passiert?“, fragte ich. Lotta holte tief Luft, als würde sie sich auf das vorbereiten, was sie gleich sagen würde.

„Gesa… ich habe jemanden umgebracht.“

Mein Herz setzte für einen Moment aus, sie hatte was!?

,,Was? Was redest du da?“

„Es war ein Unfall!“, platzte Lotta heraus. „Ich wollte das nicht! Es war… er hat mich bedroht… und ich… ich habe ihn gestoßen und er ist gefallen… und… und…“ Ihre Stimme brach, und sie kämpfte gegen die Tränen an.

Mühsam versuchte ich meine Fassung wieder zu gewinnen.

„Okay du hast also jemanden umgebracht, und was ist jetzt das Problem?“

Lotta wischte sich über das Gesicht und sah mich mit flehenden Augen an.„Ich habe ihn vergraben in der Nähe der alten Fabrik. Aber jetzt… jetzt bauen sie dort. Sie haben angefangen, den Boden zu bearbeiten, und… und wenn sie weitergraben, finden sie ihn! Ich brauche deine Hilfe, Gesa, Bitte. Ich weiß nicht, was du jetzt von mir hältst und es ist okay, wenn du das nicht machen möchtest und nie wieder etwas mit mir zu tun haben willst. Aber wir müssen die Leiche umbetten, bevor es zu spät und sie ihn finden.“

+++

In meinem Kopf drehte sich alles, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Lotta, die Lotta, meine allerbeste Freundin hatte jemanden umgebracht! Erst langsam realisierte ich, was sie mir gerade offenbart hatte. Entgeistert schaute ich sie an, mein Herz begann zu rasen und automatisch machte ich einen Schritt von Lotta weg. Vor mir stand eine Mörderin, Panik machte sich in mir breit.

,,Gesa?“, es war mehr ein Flüstern und beinahe hätte ich es überhört, die Verzweiflung in ihrer Stimme ging mir durch Mark und Bein. Wie oft ich diese Stimme schon gehört hatte.

,,Natürlich würde ich dir helfen, eine Leiche zu verstecken“, hörte ich sie sagen, bei einem unserer Late Night Talks, rein hypothetisch natürlich. Doch das war es nicht mehr, jetzt war es bitterer Ernst. Doch ich konnte Lotta nicht im Stich lassen, sie würde es für mich tun und ich musste es jetzt für sie tun, nein ich musste nicht: ich wollte. Vor mir stand keine Mörderin, sie hatte das nicht gewollt, es war ein Unfall gewesen. Meine Entscheidung stand fest.

„Okay“, sagte ich langsam. „Was genau soll ich tun?“

Lotta sah mich mit geröteten Augen an, doch ich sah, wie das Licht in ihre Augen zurück kehrte, mit Tränen in den Augen fiel sie mir in den Arm:,,Wir müssen hinfahren. Grabwerkzeuge sind im Kofferraum. Es muss schnell gehen. Bevor die Bauarbeiter morgen früh wiederkommen, du weißt gar nicht, wie froh ich bin dich zu haben.“

Eine halbe Stunde später standen wir auf dem leeren Baugelände. Es war totenstill. Nur der Wind raschelte durch die wenigen Bäume in der Nähe, und das Licht der fernen Stadt schimmerte schwach am Horizont.

„Hier“, sagte Lotta und deutete auf einen Fleck Erde, der sich kaum von den anderen unterschied. „Ich habe ihn hier vergraben.“

Ich schluckte einmal und krempelte meine Ärmel nach oben. Es schien, als ob ich heute Nacht noch etwas zu erledigen hätte.

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