von Helene.
Ich öffnete meine Augen. Grelles Licht empfing mich aus der nun endlich endenden, so tiefen Dunkelheit. Benommen blinzelte ich ein paar Mal, bis ich mich an das Licht gewöhnte. Ich spürte eine Hand, die meine drückte, und hörte eine angenehm helle Frauenstimme. Sie sprach zu mir, doch ich verstand die Wörter undeutlich. Ich konzentrierte mich.
„Ich bin so froh, dass du wach bist.“ Die Stimme gehörte zu einer Frau mittleren Alters, ihre langen braunen Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt. An den Handgelenken trug sie edel aussehenden Schmuck, um ihren Hals eine dicke Perlenkette, und an ihrem Ringfinger funkelte ein Diamantring in der Sonne. Elegant gekleidet saß sie an meinem Bett und hielt meine Hand fest in ihrer. Der Duft ihres süßen Parfums hing schwer im Raum.
Ich versuchte, mich aufzusetzen, doch ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Körper und ich ließ mich stöhnend zurück in die Kissen sinken.
„Ganz ruhig, Liebes, bleib liegen, du brauchst noch etwas Ruhe“, sagte die Frau. Wieder sprach sie mit mir, doch ich hatte keine Ahnung, wer sie war. „Wer sind Sie?“ fragte ich sie, und sie lächelte schwach.
„Die Ärzte meinten schon, dass so etwas in der Art passieren könnte, aber deine Erinnerungen sollten in der nächsten Stunde wiederkommen. Ich bin deine Mutter, Schatz. Papa und ich wohnen zusammen in einem kleinen Einfamilienhaus am Rand von Hamburg. Du bist vor zwei Wochen zu Markus, deinem Freund, gezogen.“
Zu viele Informationen prasselten auf mich ein, zu viel für meinen schmerzenden Kopf. Ich schloss die Augen, genoss die Ruhe, die mich umgab, bis die Realität auf mich einprasselte.
Ich hatte meine Erinnerungen verloren! Die an meine Familie, an meinen angeblichen Freund, an einfach alles aus meinem Leben. Ich versuchte, mich zu erinnern, an irgendetwas, doch da war nur diese Leere, diese unendlich tiefe Leere und der Schmerz. Mir wurde wieder schwarz vor Augen.
Als ich das nächste Mal aufwachte, war es schon dunkel draußen. Meine Mutter war gegangen, stattdessen standen ein Arzt mittleren Alters mit leicht gräulichen Haaren und eine Krankenschwester im Raum und besprachen sich leise. Als sie bemerkten, dass ich aufgewacht war, kam der Arzt auf mich zu. Er fragte mich nach meinem Wohlbefinden, ob mir etwas wehtat, und erzählte mir von einem Autounfall, den ich gehabt hatte, dass ich dabei zwei Knochenbrüche erlitten hatte und eine leichte Gehirnerschütterung. Sie verließen mein Zimmer mit den Worten, ich dürfe morgen entlassen werden und würde laut meiner Mutter von meinem Freund abgeholt werden. Die Erinnerungen waren immer noch nicht zurück, was mich leicht beunruhigte und mich wieder die Augen schließen ließ.
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Am nächsten Morgen schien die Sonne in mein Zimmer und ich erwachte aus einem tiefen, erholsamen Schlaf. Müde rieb ich mir die Augen, und um richtig wach zu werden, ging ich schnell duschen. Das Wasser prasselte warm auf meine Haut und ich entspannte mich.
Als ich aus der Dusche trat, ging es mir schon deutlich besser. Generell hatte ich mich die Nacht über erholt. Meine Kopfschmerzen waren weg, und außer meinem in Gips gehüllten Arm tat mir kaum noch etwas weh. Als ich in frischen Klamotten wieder das Zimmer betrat, zuckte ich zusammen.
Ein hochgewachsener Mann stand am Fenster und blickte auf den Park vor dem Krankenhaus. Seine große Statur verdeckte fast komplett das Fenster, weshalb in den Raum nur wenig Tageslicht hineinschien. Er trug eine Jeans und einen grauen Pullover, in der Hand hielt er einen riesigen Strauß mit Wildblumen. Sie dufteten herrlich, und ich sog tief einatmend den sommerlichen Geruch ein, der so gar nicht zu dem regnerischen Wetter draußen passte.
Ruckartig drehte er sich um, ein erleichterndes Lächeln schmückte seine markanten Gesichtszüge, und er blickte mich aus braunen Augen an. Seine Haare, vom Tageslicht beschienen, fielen ihm locker in die Stirn, und auf einmal kam ein Gefühl in mir auf. Ein Gefühl von Vertrautheit. Ich kannte diese Gesichtszüge, diese Augen. Ich kannte ihn.
Und auf einmal strömten die Bilder nur so durch meinen Kopf. Bilder von ihm und mir, von Markus und mir an verschiedenen Orten. Dann wir beide in den letzten Wochen, immer wieder streitend, weil er so abweisend und kalt zu mir war. Und schließlich der Unfalltag, als ich über die Straße gegangen bin und ein Auto, rasend und ohne zu bremsen, auf mich zukam. Ein blaues Auto, ein mir bekanntes Auto, Markus’ Auto.
Ich erinnerte mich wieder an das Gesicht hinter dem Lenkrad. Sein Gesicht mit diesem so entschlossenen Blick, der mich fokussierte. Geschockt über die Erinnerungen, den Fakt, dass er sich trotz seiner Tat traute, hier aufzukreuzen, sah ich ihn an.
Langsam fiel sein Lächeln in sich zusammen. Reuevoll und fast ängstlich sah er mir in die Augen, hielt mir den Blumenstrauß hin, doch ich nahm ihn nicht an. Ich begann, meine Sachen zusammenzupacken. Er versuchte ein paar Mal, mit mir zu reden, doch ich würgte ihn immer wieder ab. Irgendwann gab er es auf, und es legte sich bedrückende Stille über uns, während er mir zusah, wie ich stumm und den Tränen nah meine Sachen zusammenpackte.
Mit den Worten „Es ist vorbei“ verließ ich den Raum und schlug die Tür hinter mir zu. Und dann traf sie mich. Die Erkenntnis. Erkenntnis und Enttäuschung darüber, dass mich schon wieder jemand für mein Geld ausnutzen wollte. Dass ich schon wieder nur benutzt wurde. Dass ich mich schon wieder in einer Person getäuscht hatte, die mir so wichtig geworden war.
Ich schaffte es bis raus, in ein Taxi, wo ich auf dem Weg nach Hause meinen Tränen stumm freien Lauf ließ, während ich mit verschwommener Sicht aus dem Fenster auf die verregneten Straßen Hamburgs blickte.
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