von Timo Kramberg.
Als Erstes danke ich mir selbst. Ein Satz, gespickt mit Hochmut und Selbstbewusstsein, von jemandem, der genau das eigentlich nicht sagen dürfte. Denn ich bin schüchtern. Ich habe Angst, vor Menschen zu sprechen. Das Wort „introvertiert“ beschreibt mich ganz gut. Gerade deswegen habe ich nur zwei Freunde, die aber eher Klassenkameraden sind.
Jeden Tag der gleiche Ablauf. Um sechs Uhr ertönt der Wecker meines Handys mit der typischen Samsung-Melodie. Sofort schnappe ich mir mein Telefon vom Nachttisch und schalte den Wecker aus. Nun muss ich erst einmal zu mir kommen, tief durchatmen und mich strecken. Ich bin müde, viel zu müde. Meine Augenringe sind schrecklich, lila und orange. Aber auch der Sonnenaufgang, der über dem Wald aufsteigt, leuchtet in diesen Farben. Der Anblick wirkt freundlich, fast schon lebendig. Trotzdem spüre ich in mir nur die Kraftlosigkeit des kaum vorhandenen Schlafs. Was erwarte ich auch, wenn ich erst um halb drei einschlafe, dass ich nun hellwach bin? Sicher nicht. Vielleicht habe ich keine Freunde, dafür aber Schlafprobleme. Die sozialen Medien TikTok und Instagram ziehen mich in ihren Bann. Die vielen unterschiedlichen Meinungen, Perspektiven und Ansichten gefallen mir. Sie sind wie das passende Gegenstück zu meinem eintönigen Charakter.
Nichtsdestotrotz springe ich unter die Dusche, ziehe mich an und kümmere mich um mein Gesicht, das dauert. Skincare und so ein Kram eben, was man als siebzehnjähriger Junge, geplagt von schwerer Akne und einem winzigen Ego, halt so macht. Die Schultasche habe ich schon am Vortag gepackt. Typisch für einen Musterknaben wie mich. Hauptsache, nicht aus der Reihe tanzen. Alles, nur nicht auffallen, denn das Rampenlicht steht mir nicht. Heute stehen Mathe, Seminar und Deutsch auf dem Plan. Falls ihr euch fragt, was es mit dem Fach Seminar auf sich hat, kann ich das nicht wirklich beantworten. Es spielt aber keine große Rolle, denn heute würden wir ein neues Thema beginnen. Die Tutorin meinte vor einer Woche, es würde jedem richtig Spaß machen, weil wir etwas fürs Leben lernen und nicht nur für eine Klausur. Und wenn ein Lehrer das sagt, könnt ihr euch zu neunundneunzig Prozent sicher sein, dass es todlangweilig wird. Trotzdem gibt es die Möglichkeit, dass genau das eine Prozent Spannung, Freude und Spaß verspricht. Und heute sollte dieses eine Prozent greifen.
In dem ganzen Trubel am Morgen habe ich völlig die Zeit vergessen. Jetzt zeigt die Uhr meines Handys 07:45 Uhr an. Ich werfe noch einen schnellen Blick in den Spiegel, lasse mich vom Wind aufwecken und renne los. Übrigens, der Junge im Spiegel bin ich. Joshua lautet mein Name. Ich bin eins achtzig groß, habe braunes Haar. Ich laufe zur Schule, der Klinke Schule am Hauptweg. Der Matheunterricht vergeht schnell, so wie die meisten Fächer. Das liegt daran, dass ich ein relativ guter Schüler bin. Ich bereite mich eben vor, mehr auch nicht. Nach dem Schulschluss gibt es für mich keine Freunde und auch Sport ist für mich ein Fremdwort.
In der großen Pause kommt Frau Schuster, unsere Seminarlehrerin, pünktlich wie immer um zehn Uhr. Ich dachte, jetzt kommt das neue Thema, vielleicht Textarbeit oder so ähnlich. Aber nein, es geht ums Debattieren, Argumentieren, richtiges Kommunizieren. Unterhalten, aufeinander zugehen, all das gehört dazu. Das sind keine Stärken von mir. Trotzdem oder gerade deswegen war ich interessiert. Als Frau Schuster von einem Wettbewerb sprach, der zunächst an unserer Schule stattfinden würde, war es um mich geschehen. Sie sprach von einer Chance, die ich nutzen sollte. Mir wurde zugesichert, dass ich zusammen mit Leon im Pro-Team antreten würde. Das Streit-Thema lautete: "Soll die Meinungsfreiheit Grenzen haben?" Spannend, dachte ich, und ich hatte bereits eine Meinung dazu. "Wessen Zunge nicht frei ist, dessen Herz ist tot." Dieser Satz stammt aus einer Dokumentation, die ich mir am Abend angeschaut hatte.
Drei weitere Schüler und ich schrieben uns für den Wettbewerb ein. Ich kann gar nicht genau sagen, was mich an diesem Tag geritten hat. Vielleicht war es die Aussicht auf etwas Neues, vielleicht der Gedanke, mich endlich mal nicht zu verstecken, sondern zu zeigen, wer ich bin. Als ich am Vormittag Ja sagte, fühlte es sich an, als hätte ich mit dem Fuß eine unsichtbare Linie überschritten. Eine Linie zwischen dem leisen Joshua und dem Joshua, der sich durchsetzen wollte.
Die folgenden Tage vergingen schnell, fast zu schnell. In meinem Kopf ratterte es. Ist Meinungsfreiheit gut oder gefährlich? Was spricht gegen sie? Wie verteidigt man so ein Thema, wenn alle Augen auf einen gerichtet sind? Fragen über Fragen, die mich nachts länger wachhielten, als mir lieb war.
Eine Sache war sicher: Ich war mit Leon im Team. Leon war das genaue Gegenteil von mir. Selbstbewusst, schlagfertig, jemand, der sich sogar traut, einen Lehrer zu korrigieren. Nicht, um jemanden bloßzustellen, sondern weil er es kann. Er hatte es nicht nötig andere klein zu machen. Er ließ mich reden, ohne mir ins Wort zu fallen. Das war neu für mich. Allein der Gedanke, vor der Klasse zu sprechen, drehte mir den Magen um. Jedes Mal, wenn ich übte, vergaß ich Teile meines Textes. Meine Stimme wurde dünn wie Papier, meine Hände waren schweißnass. Ich war frustriert und traurig zugleich.
"Du musst dich nicht verbiegen, Joshua", sagte Leon eines Nachmittags, als wir wieder im Seminarraum saßen. "Nutze deine Ruhe. Wenn du sprichst, hören die Leute zu, weil du nicht plapperst, sondern wirklich etwas zu sagen hast." Ich wusste nicht, ob er das nur sagte, um mich zu beruhigen, aber es tat gut. Irgendwie begann ich ihm langsam zu glauben.
Am Morgen des Wettbewerbs konnte ich kaum frühstücken. Ich warf zweimal meine Kleidung um, bis ich schließlich bei einer schwarzen Jeans und einem schwarzen Hemd landete. Schlicht und sicher. Vor dem Spiegel zitterten meine Hände. Eine Stimme in mir flüsterte: "Du kannst noch absagen. Sag einfach, dir ist schlecht." Aber ich wollte nicht mehr zurück, nicht heute.
Die Aula war brechend voll. Schüler aus dem zehnten und elften Jahrgang, Lehrer, sogar einige Eltern. Das Gemurmel, das Lachen und das Klappern der Stühle fühlten sich an wie ein riesiger Wasserfall, der auf mich einstürzte. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich war kurz davor aufzugeben. Da traten die beiden anderen Teilnehmer auf uns zu, das Kontra-Team. Jonas, ein großgewachsener Typ mit sportlichem Blick, sagte: "Bereit, Joshua? Heute reden? Mutig, mutig." Er tat so, als wäre er beeindruckt, zwinkerte aber seinem Partner Fabian zu. "Hoffentlich fällst du nicht um, wenn alle dich anstarren."
Ich wusste, was sie taten, und doch traf es mich. Meine Kehle schnürte sich zu. Ich konnte Leon kaum noch hören, der versuchte, mich zu beruhigen: "Die merken nur, dass du eine Gefahr bist. Sonst würden sie keine Spielchen spielen." Aber in meinem Kopf rauschte nur das Blut.
Leon begann. Seine Stimme war klar, seine Argumente präzise. Er sprach mit Leidenschaft, als wäre das Thema sein Leben. Als er endete, brandete Applaus auf. Jetzt war ich dran. Ich griff in meinen Rucksack und suchte meine Notizen. Sie waren weg. Die Klarsichtfolie war leer. Nur ein kleiner Sticker klebte daran, mit der Aufschrift: "Schon verloren." Natürlich! Mein Magen drehte sich wild, als hätte jemand einen Sturm darin entfesselt. Ein scharfer Schmerz zuckte durch meinen Bauch, wie ein Messer, das immer wieder zustach. Meine Knie wurden weich, als wären sie aus Gummi. Ich fühlte, wie das Blut aus meinem Gesicht wich, meine Haut wurde kalt und feucht. Meine Augen huschten panisch durch die Aula. Links sah ich Leon, der mir aufmunternd zunickte, doch sein Gesicht wirkte verschwommen, verzerrt von meiner aufsteigenden Panik. Rechts erspähte ich Jonas, der grinsend die Arme verschränkte und mir spöttisch zunickte.
Meine Finger krallten sich verzweifelt in den Stoff meiner Hose, während mein Herz so schnell schlug, dass ich glaubte, es würde jeden Moment aufhören. Die Geräusche um mich herum – das Husten, das Stühlerücken, das leise Murmeln – verschmolzen zu einem einzigen dröhnenden Rauschen, das mein Denken übertönte. Meine Gedanken wirbelten chaotisch durcheinander: Was, wenn ich gleich einfach umkippte? Was, wenn ich kein einziges Wort herausbekam? Was, wenn sie lachten?
Plötzlich beugte sich Leon zu mir herüber. Normalerweise war er immer der Fels in der Brandung, der, auf den man sich verlassen konnte. Doch diesmal hörte ich ein Zittern in seiner Stimme.
„Alles okay bei dir?“, flüsterte er hastig, sein Blick sprang nervös zwischen mir und dem Pult hin und her.
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, spürte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterlief.
„Ich... ich glaub, ich fall gleich um“, stammelte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Hauch.
Leon fuhr sich fahrig durch die Haare, was ich an ihm noch nie gesehen hatte. „Verdammt...“, murmelte er, „warte... warte kurz... tief atmen! Irgendwas...“ Er klang, als suche er verzweifelt nach einer Anleitung, die er selbst nicht kannte.
Sein sonst so sicheres Auftreten bröckelte, und das erschreckte mich fast mehr als meine eigene Panik. Wenn selbst Leon unsicher war – wie sollte ich das dann schaffen?
Mein Magen krampfte sich zusammen, als würde er sich selbst aufessen. Ein schwarzer Punkt begann sich in meinem Blickfeld auszubreiten. Die Aula verschwamm zu einem einzigen dröhnenden Strom aus Lärm und Bewegungen.
Die Welt um mich schwankte. Noch ein Schritt – nur einer – und ich würde stürzen, mitten hinein in all diese Blicke, dieses Gemurmel, dieses erwartungsvolle Schweigen. Es fühlte sich an, als stünde ich auf einem schmalen Steg, hoch über einem tosenden Wasserfall, und unter mir splitterte langsam das Holz.
Ich hörte kaum, wie mein Name aufgerufen wurde. Meine Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung, schwer wie Blei, während mein Herz gegen meinen Brustkorb donnerte. Jeder Schritt Richtung Pult war eine Überwindung, als würde ich mich gegen einen unsichtbaren Sturm stemmen.
Und doch Mein Magen drehte sich. Ich schaute nach links und rechts. Ich glaubte, ich würde gleich ohnmächtig werden. Leon flüsterte: "Du schaffst das. Glaub an dich. Nutze diese Chance." Ich atmete tief durch. Meine Beine schwer wie Blei, als würde ich durch Wasser laufen.
Am Pult sah ich in die Gesichter voller Erwartung, Langeweile und Neugier. Ich wollte wegrennen. Doch dann sah ich Frau Schuster in der dritten Reihe. Rosa Pulli. Sie lächelte. Klein, aber Mut machend. Meine Stimme war zunächst leise. Ich fühlte, wie sie zitterte. Aber ich machte weiter. Wort für Wort.
Ich sprach über die Verantwortung, die Meinungsfreiheit bedeutet. Über die feine Linie zwischen Meinung und Hetze. Ich zitierte einen Philosophen namens Saadi: „Von allem, was gesagt wird, spricht die Stimme deines Freundes das Süßeste.“ Ich sprach über die Toleranzparadoxie, über die Gefahr, Intoleranz zu tolerieren. Und darüber, dass ohne Pluralismus unsere Demokratie in Gefahr wäre.
Mit jedem Satz wurde meine Stimme fester. Als ich endete, war es kurz still. Dann kam echter Applaus. Kein tosender Jubel, aber ehrlicher Beifall. Ich lächelte. Ein echtes Lächeln.
Das Kontra-Team betrat das Podium. Jonas redete, gestikulierte wild. Er sprach von naiven Weltverbesserern. Fabian sprach ruhiger, aber belehrend. Besonders als Fabian auf unsere Argumente einging, wurde er abscheulich in der Ausdrucksweise. Wir hätten durch unsere Punkte offen gezeigt, dass wir die Welt und das Thema im Allgemeinen nicht verstanden hätten. Ihre Argumente waren nicht schlecht, aber ihr Ton machte es schwer, ihnen zuzuhören.
Gerade dieser Kontrast ließ mich innerlich wachsen. Ich stand da, ruhig und bestimmt. Und genau das zählte.
Die Jury zog sich zur Beratung zurück. Meine Hände zitterten leicht, aber diesmal vor Aufregung. Frau Schuster trat nach vorn, Urkunden in der Hand.
"Dritter Platz für das Kontra-Team, Jonas und Fabian." Vereinzelter Applaus.
"Zweiter Platz für Joshua Berger." Mir wurde heiß und kalt zugleich. Ich stand auf. Richtiger Applaus.
"Erster Platz für Leon Walter." Leon lächelte und nickte mir zu. Ich spürte keinen Neid, nur Dankbarkeit.
Wir würden unsere Schule in der Regionalrunde vertreten. Ich wusste, die nächste Herausforderung wäre noch größer. Die Bühne noch heller. Das Publikum noch lauter. Aber ich war nicht mehr der gleiche Joshua wie vor ein paar Tagen. Ich hatte die Chance genutzt Ich hatte meine Stimme gefunden. Und ich war bereit, sie erneut zu erheben.
Deshalb danke ich mir selbst.
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