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Die Flucht

von Ty-Nicola Blutke. 


Seite 1: Eingesperrt im eigenen Land

 

Frühjahr 1982, ein kleines Dorf bei Magdeburg. Der Putz bröckelte, die Straße war mehr Loch als Asphalt. Auf den Dächern: versteckte Antennen sind nach Westen ausgerichtet.

 

Wolfgang, Hans-Joachim und Jürgen saßen in ihrer Kneipe – eine umgebaute Scheune, halb Werkstatt, halb Zuflucht. Ölgeruch, Werkzeug. Im Fernsehen, „Der schwarze Kanal“.

 

„Immer diese Parolen…“, knurrte Wolfgang und knallte die Bierflasche auf den Tisch. „Wir bauen den Sozialismus auf. Aber was bauen wir denn? Nüschte!“

 

„Und wenn du was sagst“, sagte Jürgen, „stehen sie am nächsten Tag bei dir vor der Tür.“

 

Hans-Joachim starrte auf den Fernseher: glitzernde Waschmaschinen, Supermarktregale voller Schokolade.

 

„Das ist ’ne andere Welt“, murmelte er. „Da will ich hin. Einfach mal einkaufen. Ohne Marken. Ohne Plan.“

 

Dann, fast beiläufig, sagte Wolfgang: „Wir nehmen die Planierraupe. Fahren durch den Zaun. Wenn sie uns erschießen – besser, als hier zu verrotten.“

 

Stille. Dann: kein Lachen. Nur ein Blick. Eine Idee.

 

Seite 2: Ein wilder Plan

 

Am nächsten Morgen war der Gedanke noch da.

 

Die drei kannten Maschinen, kannten sich mit Motoren aus. Die Planierraupe – sowjetisch, rostig, aber stark – stand auf einem alten LPG-Gelände. Stillgelegt, aber bereit.

 

„Die macht alles platt“, sagte Hans-Joachim. „Wenn wir sie auftanken und die Route stimmt – warum nicht?“

 

Sie beobachteten die Grenze. Zählten Patrouillen. Zeichneten Karten.

 

Signalzaun – Minenstreifen – Hauptzaun.

 

„Zwölf Minuten“, sagte Wolfgang. „Dann sind wir durch. Rechne mit Schüssen.“

 

Sie versteckten Werkzeug, füllten Kanister, packten Proviant. Jeder wusste: Es gibt kein Zurück.

 

Fluchttermin: 29. April, 23:30 Uhr.

 

Seite 3: Der Aufbruch und der Fehler

 

Alles war bereit. Jeder Schritt geprobt.

 

Doch dann kam die Müdigkeit.

 

„Nur 20 Minuten pennen“, meinte Jürgen. Sie hatten seit Tagen kaum geschlafen.

 

Dann schreckte er hoch. 23:41 Uhr.

 

„VERDAMMT! Wir haben verpennt!“

 

Sie rissen die Sachen vom Haken, rannten los. Die Angst raste mit. Jeder Schritt zählte.

 

23:50 Uhr. Hans-Joachim startete die Raupe. Der Motor brüllte los wie ein Befreiungsschrei.

 

„LOS!“, rief Wolfgang. „JETZT ODER NIE!“

 

Seite 4: Der Durchbruch

 

Die Raupe rollte. Schwer. Unaufhaltsam.

 

Der erste Zaun bog sich, quietschte, riss. Sirenen heulten. Lichter flackerten auf. Stimmen. Schüsse.

 

„NICHT ANHALTEN!“, brüllte Jürgen. Splitter flogen durch die Nacht.

 

Der Minenstreifen bebte – aber nichts explodierte.

 

Dann der Hauptzaun. Höher. Stabiler. Doch die Raupe fraß sich durch.

 

0:01 Uhr. Westdeutschland.

 

Ein Polizeiwagen kam näher. Blaulicht. Waffen wurden gezogen – und wieder gesenkt.

 

„DDR?“, fragte ein Beamter.

 

„Ja“, keuchte Wolfgang. „Und jetzt sind wir frei. Wir hamˋs geschafft.“

 

Seite 5: Danach – Schatten der Freiheit

 

Sie wurden gefeiert – kurz.

 

Dann kam das Schweigen. Die Eltern von Hans-Joachim und Jürgen verloren ihre Wohnung. Wolfgangs Schwester wurde von der Stasi verhört. Sie verlor ihre Qualifikation für das Studium.

 

Es gab Schuldgefühle. Aber keine Reue.

 

„War es das wert?“, fragte Hans-Joachim schließlich.

 

Jürgen zögerte. Dann:

 

„Ich hab‘ meine Eltern beerdigt, ohne ihnen zu erklären, warum. Aber… ich konnte reden. Reisen. Leben.“

 

… Ja, es war‘s wert.

 

Draußen wehte der Wind. Die Grenze war weg. Doch die Geschichte nicht. „Aber ich konnte sagen, was ich dachte. Ich konnte reisen. Ich konnte atmen.“

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