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Die perfekte Welt

von Larissa Karasoylu. 


Aufstehen. Obedit nehmen. Arbeiten.

Vergessen.

 

24.02.1971 00:12 Uhr

„Sie sind überall! Es ist überall! Im Essen, in den Nachrichten, alles was wir konsumieren, ich kann’s euch zeigen, ihr müsst nur mitkommen!“

John Wilson beobachtete, wie die Wachen seinen Kollegen mitnahmen.

Man nannte sie "Die Augen".

Es war das Letzte, das John Wilson von ihm sah. Er war sein Kollege gewesen, sie hatten seit über 20 Jahren gemeinsam als Busfahrer gearbeitet und sich jeden Morgen vor Johns Schicht getroffen.

 

Nicht, dass er ihn vermisste oder trauerte, nein so war es nicht. Aber irgendwas war danach anders. Und dass etwas anders war, war selten. Am nächsten Tag, vor seiner Schicht, wollte er, so wie jeder andere in dieser Stadt es jeden Tag mindestens einmal tat, das Obedit nehmen. Dadurch wäre der Vorfall wie vergessen und er würde sich besser auf die Arbeit konzentrieren können. Dass sein Arbeitskollege fehlte, beunruhigte ihn. Es war, als hätte man ihm Teile eines Puzzles weggenommen, das sein bisheriges, perfekt strukturiertes und produktives Leben bildete. Der 37-jährige griff nach seiner Wasserflasche in seiner zu großen, grauen Jacke und nach seiner Obedit- Tablette, die er rationiert in einem Behälter aufbewahrte. Er warf einen längeren Blick auf sie die Tablette in seiner Hand, als es anfing, stark zu regnen. Hinter ihm lag der verlassene Park. John sah kurz zu, wie der Regen das Obedit auf seiner Handfläche auflöste. Seine Augen weiteten sich und sein Herz begann wie wild zu pochen. Er versuchte, die Tablette noch schnell einzunehmen, doch es war schon zu spät. Das Medikament zerfloss gerade so durch die Zwischenräume seiner Finger. Er schlürfte hastig seine Handfläche ab, wie ein Kleinkind, das an einem heißen Sommertag ein Eis in die Hand gedrückt bekommen hatte und nun die letzten Reste abschleckte. Widerlich. Erschrocken sah er nach, ob er noch ein weiteres Obedit dabei hatte, obwohl er ganz genau wusste, dass es nicht sein konnte.

 

Zuhause, es war bereits 23 Uhr, legte er sich sofort ins Bett. Er spürte, wie er in die Matratze sank und seine Augenlider schwerer wurden. Am nächsten Morgen hatte er ein ungewöhnliches Gefühl, als er aufwachte. Er blickte zum Wecker, der neben dem Bild seiner Mutter stand. Sie hatte ein Pflaster am Arm, wie um einen Stich zu verbergen. Normalerweise schaute er sich das Bild am Morgen etwas länger an, aber heute blieb dafür keine Zeit, weil: bereits 7 Uhr!? Seine Schicht begann immer um drei. Jeden einzelnen Tag. Er macht sich hysterisch fertig, wissend, dass es Konsequenzen für ihn haben würde.

 

Tür abschließen und los. Auf der anderen Straßenseite erblickte er seine Nachbarn. Sie wohnten beide schon über 10 Jahre dort, doch sie sahen sich zum ersten Mal. Ihm wurde übel.

 

Die Konsequenz: Sein Bonum, die Währung, die den Leistungswert beträgt, wurde gekürzt. "Zu spät Mr. Wilson. Viel zu spät. Die Kürzung ihres Bonums soll als kleine Motivation dienen. Strengen Sie sich mehr an." John nickte nur demütig, aber entschlossen genug, weil es die Wahrheit war, ohne seinem Chef in die Augen zu gucken.  "Das kommt nicht mehr vor. Du beginnst jetzt und bist fertig um 2 verstanden?" – "Verstanden" gab John von sich. "Hast du das Obedit dabei? Du solltest es nehmen. Du wirkst abgelenkt und das können wir bei der Arbeit am Steuer nicht gebrauchen." – "Bedauerlicherweise nicht, Sir." – "Nimm diese." Er wollte sich nicht bedanken, denn er wusste, dass sein Chef ihm die Tablette nicht aus Mitgefühl gab. Noch sechs Minuten, bis die Schicht begann. Sollte er sie einnehmen? Er überlegte verzweifelt. Es war, als würde man mit dem Trinken von Wasser aufhören wollen. Eine Gewohnheit, die so essenziell für die Leistung des menschlichen Körpers ist. Trinken. Essen. Obedit. Aber etwas kitzelte ihn, es diesmal anders zu machen. Er warf die Tablette weg. Auch wenn es sich falsch anfühlte, tat es ebenso gut. Ihm ging es besser. Das war schwer zuzugeben.

 

2:34 Uhr: Im Lebensmittelgeschäft betrachtete er die fertigen Nahrungsmixturen. Er drehte die schweren Dosen um. „34 Obedit ... 8% Obedit ... 29% Obedit …“ murmelte er. Sie taten es auch ins Essen. Die Tatsache schockte ihn. Er würde nichts kaufen; er wusste, er hatte sowieso nicht genug Bonum dafür.

 

Heute setzte er sich zum ersten Mal nach seiner Arbeit auf die Bank im Park, statt nach Hause zu gehen. Er saß dort eine, vielleicht zwei Stunden, und lernte den Sonnenaufgang kennen. Er wollte verstehen, was dahintersteckte. Einen Sonnenaufgang hatte er noch nie gesehen. Nicht mit dem Obedit. Er dachte dabei an seinen Kollegen. Wo war er jetzt? Er bemerkte, dass er die Stadt in der er geboren war, noch nie verlassen hatte. Was ist hinter dem, was man mit bloßem Auge nicht erblicken kann? Ohne das Obedit fühlte sich alles anders an. Sein Körper war angezogen von der Neugier, die nun in ihm geboren war. Also ging er los. Ohne einen Plan. Er wollte nur aufdecken, ans Licht bringen, was für ihn so lange in der Dunkelheit und der Verschwommenheit gelegen hatte. "Stehenbleiben!" Die „Augen“! Einer von ihnen richtete eine Waffe auf ihn. John brach in Schweiß aus. "Was tun Sie hier?", fragte der Wachmann.

 

Stille. Anscheinend wurde er beobachtet. Er hatte keine Ausrede parat, denn er hatte das noch nie getan. Er hatte nie über die Nutzung des Parks nachgedacht. Er existierte einfach nur, aber niemand ging jemals hinein. Vielleicht durfte er es nicht. "Nehmen sie ein Obedit, Sie sehen krank und verwirrt aus." – "Das ist die Lösung für alles, nicht wahr?" Auf einmal wurde John wütend. Er griff nach der Waffe und schlug ihm mit einem kräftigen Schub gegen die Schläfe. Das „Auge“ wurde bewusstlos. Jetzt gab es kein Zurück mehr.  Er rannte über den Horizont, stundenlang. Sein Bauch knurrte ohne Pause.

 

Dann ging es nicht weiter. Eine Grenze. Kilometerlang. Was sollte das bedeuten? Ihm war nicht klar gewesen, dass seine Welt ein Ende hatte. Noch bevor er weiterdenken konnte, wurde er bewusstlos.

 

Als er wieder zu sich kam, erblickte er einen älteren Mann mit weißen, nach hinten gegelten Haaren. An seiner Seite stand ein weiterer, etwas jüngerer Mann. Er trug einen Kittel. Um ihn herum Farben, die er noch nie gesehen hat. Ein riesiger Raum mit Gemälden, diese Harmonie von Tönen. Endlich konnte er sehen. Das neue Unbekannte war himmlisch. "Und, was machen wir jetzt mit dir?"

 

JOHN WILSON: Was soll das alles...ich verstehe nicht.

UNBEKANNT: Ich weiß, John Wilson. Ihr seid gar nicht dazu fähig.

JOHN WILSON: Ihr?

UNBEKANNT: Du und dein Volk. Ihr müsst euch damit abfinden. Ihr müsst das wiedergutmachen, was ihr uns angetan habt.

JOHN WILSON: Angetan? Wovon reden Sie?

UNBEKANNT: Nachdem wir den Weltkrieg gegen euch gewonnen hatten, wollten mein Bruder und ich eine perfekte Welt erschaffen. Das Leid, das ihr uns zugefügt habt, war unermesslich. Ein Paradies, in dem so etwas nicht existiert, das ist das, was wir wollten. Und irgendwer musste dafür arbeiten. Euer Volk, eure Männer sollten bezahlen. Wir injizierten euch ein Serum, das euch alles vergessen ließ. Die Existenz unserer Welt.

JOHN WILSON: Ich will sie nur sehen.

UNBEKANNT: Was meinen Sie?

JOHN WILSON: Eure Welt. Die perfekte Welt.

 

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