von Mliha Mahmood.
Mit zittrigen Händen beendete ich meinen letzten Satz „…und deswegen solltet ihr mich gehen lassen.“ Mein unruhiger Blick tanzte über die vielen Gesichter, in denen sich Anspannung und Enttäuschung spiegelte. Ich hatte sie extra alle zu uns ins Wohnzimmer eingeladen, um dieses Anliegen zu besprechen. „Du-du willst also gehen? Um deinem Vater hinterherzurennen?“, fragte meine Mutter schließlich unglaubwürdig. Ich hatte mit dieser Reaktion gerechnet. „Ich will doch nur meinen Vater finden.“, versuchte ich sie zu besänftigen. „Ich muss die Stadt sehen, die ihm so viel bedeutet hat.“ „Esther!“, rief meine Mutter nun wütend. „Dein Vater hat dich verlassen. Dein Vater hat UNS verlassen! Und jetzt willst du genauso werden und auch weggehen?!“ „Ich verlasse euch doch nicht. Ich werde meinen Vater finden und MIT ihm zurück nachhause kommen.
Mein Onkel, der bisher nur zugehört hatte, stieß ein tonloses Lachen aus. „Dein Vater hat sich seit 15 Jahren nicht bei dir gemeldet. Glaub mir es interessiert ihn nicht, ob du lebst oder tot bist. Er wird nicht mit dir zurückkommen.“ Auch andere Verwandte, die bisher ruhig geblieben waren, gaben zustimmende Laute von sich. Meine Augen begannen zu brennen. Doch ich unterdrückte meine Tränen und ballte stattdessen meine Hand zur Faust. Mein fester Blick traf auf seinen. „Ich bin jetzt 18 Jahre alt, ich habe die Schule mit Bestnoten abgeschlossen und meine Uni beginnt erst in 3 Monaten. Ich habe also noch genügend Zeit, um nach Paris zu reisen.“ „Und wie willst du das Finanzieren?“, fragte meine Mutter. „Glaube ja nicht, dass ich dich bei dieser Hirnrissigen Aktion unterstütze!“ „Geld spielt keine Rolle, ich habe das gesamte Jahr über gearbeitet und gespart, ich komme bei einer Gastfamilie unter und suche mir noch zusätzlich einen Nebenjob in Paris.” Ich blickte sie an, „Das wird schon und nichts und niemand wird mich von diesem Vorhaben abbringen können.“
Ich vernahm das Geräusch rollender Koffer auf dem Flughafenboden. Die Menschen hatten es eilig und liefen durcheinander. Überall blinkte und leuchtete es. Es war das erste Mal, dass ich mich an einem Flughafen befand. Ich hatte bis jetzt noch nie unser kleines Dorf in Deutschland verlassen. Meine schwitzigen Hände klammerten sich um meinen Koffer. „Hast du auch sicher alles?“, erkundigte sich meine Mutter besorgt. Ich musste lächeln. Sie war gestresster als ich. „Ja mach dir keine Sorgen. Ich muss jetzt los, sonst verpasse ich den Flug.“ Mit glasigen Augen blickte sie mich an und sagte: „Viel Spaß in Paris und bitte komm bald zu mir zurück Esther. Ich könnte es nicht ertragen dich auch noch zu verlieren.“ Ich zog sie fest in meine Arme „Natürlich komme ich zurück Mama.“, flüsterte ich. Ich winkte ihr nochmal zum Abschied zu und ging los.
Paris war deutlich überfüllter und hektischer als in meiner Vorstellung. Ich kannte die Stadt bis jetzt nur aus Filmen und hatte sie mir eigentlich immer ziemlich romantisch und gemächlich vorgestellt. Naja, macht ja nichts. Ich stand ziemlich verloren vor dem Flughafen rum und wartete auf meine Gastmutter. Dabei rempelte mich ein unfreundlich aussehender Mann an. „Pass doch auf!“, keifte er und schubste mich zur Seite. Ich stolperte nach hinten und schlug der länge nach auf dem Boden auf. Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Schulter. Die Glasscheibe einer kaputten Flasche hatte sich in meine Schulter gebohrt. Stöhnend versuchte ich mich aufzurichten. Niemand schien sich dafür zu interessieren, sie alle waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Ich schnappte mir meinen Koffer und lief zur anderen Straßenseite. Ich hatte meine Gastmutter, die ich nur von Videocalls kannte, entdeckt. „Hallo Marija.“, begrüßte ich sie lächelnd. Eine etwas rundlichere, braunhaarige Frau drehte sich zu mir um. Ein herzliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie umarmte mich fest. „Hallo Esther. Schön dich endlich mal in echt zu sehen, ich habe mich schon so auf deine Ankunft-“, sie hielt erschrocken inne. „Was ist denn das?! Was ist mit deiner Schulter passiert?“ Ich erklärte ihr was passiert war und sie fuhr mich schnell zu sich nachhause. Angekommen setzte sie mich an den Küchentisch. Ein Junge kam rein und blickte erschrocken auf meine Schulter. „Was ist denn mit der passiert?!“ In dem Moment klingelte es. Seine Mutter blickte gestresst zur Tür. „Ich muss da ran. Samuel, verbinde doch bitte Esthers Schulter.“ Sie drückte ihm das Verbandszeug in die Hand und rauschte an ihm vorbei. Ich blickte zu Samuel und mein Herz begann ganz komisch zu schlagen. Samuel hatte dunkelbraunes kurzes Haar, war braun gebrannt, groß und schlank. Ohne lange zu zögern, setzte er sich zu mir und begann meine Schulter zu verarzten. Dabei fragte er mich, woher ich kam und was ich in Paris machte. Ich erzählte ihm alles. Als ich fertig war, stellte er das Verbandszeug zur Seite und sah mich an. Seine hellbraunen Augen bohrten sich in meine. „Sag mal kommst du dir nicht total dumm vor?“ Perplex blickte ich ihn an. „Was? … Was meinst du damit?“ „Naja, du hast eine liebende Familie und verlässt sie einfach um nach einem Mann zu suchen dem du völlig egal bist. Nimm‘s mir nicht übel, aber das klingt für mich ziemlich undankbar.“ „Und du bist nochmal wer, um das zu beurteilen?“, fragte ich ärgerlich. Schulterzuckend blickte er mich an. „Ich mein ja nur, ich will nicht, dass du dir unnötige
Hoffnungen machst. Für eine 18-Jährige bist du ganz schön naiv.“ „Für jemanden der mich erst seit 20 Minuten kennt bist du ganz schön neugierig.“, fauchte ich zurück. Ich stand auf. Das Gespräch war für mich beendet. Den restlichen Tag verbrachte ich mit meiner Gastmutter und ihrer Tochter Isabella. Sie war Samuels Zwillingsschwester und ist 19 Jahre alt. Sie zeigten mir das Haus und mein Zimmer. Es blieb sogar noch Zeit, um sich die Stadt ein wenig anzusehen. Morgen wird Isabella mir die restliche Stadt zeigen. Mit ihr verstand ich mich ziemlich gut im Gegensatz zu Samuel, den ich den restlichen Tag mied.
„Und Esther? Was sind deine Pläne für heute?“ Wir saßen gerade zu 5 am Esstisch und genossen unser Frühstück. Den Vater der Zwillinge, einen netten Mann namens Dennis hatte ich auch schon kennengelernt. Mittlerweile befand ich mich schon eine Woche in Paris und hatte mich einigermaßen an die riesige Stadt gewöhnt. „Ich fahre heute zur Arbeitsstelle meines Vaters. Ich möchte ihn endlich treffen.“ Meine Mutter erinnerte sich noch an seine Arbeitsstelle, hoffentlich hatte er seine Arbeit nicht gewechselt, sonst habe ich keine Ahnung wie ich ihn finden soll. „In Ordnung. Seine Arbeitsstelle ist leider ziemlich weit weg und ich und Isabella sind heute ziemlich beschäftigt. Deswegen würde ich vorschlagen Samuel sollte dich fahren.“ Ich nickte nur. Mit Samuel hatte ich seit dem Vorfall vom ersten Tag nur wenige Worte gewechselt. Aber wer weis vielleicht ergab sich heute eine möglichkeit mit ihm darüber zu reden.
Im Auto entschuldigte sich Samuel als aller erstes bei mir. Er sagte, dass er sich nicht hätte in mein Leben einmischen sollen und dass er nicht wollte, dass ich am ende enttäuscht werde. Ich nahm seine Entschuldigung lächelnd an. Den restlichen Weg unterhielten wir uns über alles mögliche, was eine willkommene Ablenkung war. Allein bei dem Gedanken, dass ich gleich meinen Vater treffe, begann mein Herz zu rasen. Bei der Arbeitsstelle angekommen setzte Samuel mich ab und fuhr davon. Ich atmete einmal tief ein und aus, bevor ich das Bürogebäude vor mir betrat. An der Rezeption erkundigte ich mich nach ihm und lief auf direktem Wege zu seinem Büro. Voller Nervosität klopfte ich an seine Tür und wartete. Als ein „Herein“ ertönte trat ich ein. „Hallo...“ „Ja bitte. Was ist ihr Anliegen. Sprachlos blickte ich den Mann vor mir an. Mein Vater hatte die gleichen Braunen Haare wie ich, und auch seine Augen sahen genauso aus wie meine. Erwartungsvoll schaute er mich an. Er schien nicht die leistete Ahnung zu haben, dass seine Tochter vor ihm stand. Ich räusperte mich kurz bevor ich sagte: „Ich bin’s. Esther.“. Ein paar Sekunden lang starrte er mich bloß verständnislos an. Dann
schien er es zu realisieren. „Esther?!“ stieß er fassungslos aus. Stumm nickte ich. Sichtlich ergriffen stand er auf, lief um seinen Schreibtisch herum und umarmte mich fest. Ich umarmte ihn zurück. Endlich hatte ich meinen Vater wieder.
Die nächsten 3 Stunden verbrachten wir gemeinsam in einem Café. Dabei redeten wir ununterbrochen und fragten uns gegenseitig über unser Leben aus. Ich erfuhr, dass er eine neue Frau und eine 12-jährige Tochter hatte. Auch ich erzählte ihm von meinem Leben. Die Frage, wieso er mich damals verlassen hatte, stellte ich ihm nicht. Er hatte bestimmt seine Gründe gehabt… Nach unserem Gespräch verabredeten wir uns morgen zum Abendessen bei ihm zuhause. Glücklich kam ich zuhause an. Samuel wartete schon auf mich. Gut gelaunt erzählte ich ihm alles. Er sah mich an. „Das freut mich für dich Esther, aber bitte vertrau ihm nicht zu schnell. Sonst wirst du am ende nur verletzt.“ Genervt blickte ich ihn an. „Kannst du aufhören immer so negativ zu sein. Mein Vater freut sich mich wieder zu sehen. Er will gerne mehr Zeit mit mir verbringen und ich auch.“ Ich wandte mich ab und lief in mein Zimmer, um das passende Outfit für das bald anstehende Abendessen rauszusuchen.
Vorsichtig strich ich den Stoff meines Dunkelblauen Kleids glatt, bevor ich die Klingel betätigte. Eine hochgewachsene, blonde Frau öffnete die Tür. „Esther!“, begrüßte sie mich mit einem aufgesetzten Lächeln. Ihr scannender Blick glitt über meinen Körper und sie zog abschätzig die Augenbrauen zusammen. Mein Vater erschien auch am Türrahmen und umarmte mich lächelnd. „Dann kommt mal rein. Wie ich sehe, hast du Madeleine schon kennengelernt.“ Ich folgte ihm zum Esstisch, wo seine 12-jährige Tochter Josefine schon saß. Ich begrüßte sie. Sie warf mir nur einen bösen Blick zu. Das Essen verlief furchtbar. Ich versuchte krampfhaft mich mit allen zu unterhalten. Jedoch erntete ich nur kurze Antworten, kalte Blicke und abschätzige Bemerkungen. Ich war froh, als es vorbei war. Den ganzen Abend über brannte mir schon eine bestimmte Frage auf der Zunge. Aber ich hatte sie meinem Vater allein stellen wollen. Nach dem Essen zog ich ihn zur Seite und fragte, wie es jetzt weitergehen sollte. Verständnislos blickte er mich an. „Was meinst du?“ „Naja, da wir wieder Kontakt haben wirst du bestimmt auch immer wieder nach Deutschland zu mir kommen.“ „Esther, da hast du was falsch verstanden. Meinetwegen können wir Kontakt haben, aber ich will nicht die Vater Rolle für dich spielen. Ich habe hier schon meine Familie, mit der ich glücklich bin. Ich will dich nicht als Tochter.“ Fassungslos starrte ich ihn an. Mein Gehirn konnte nicht realisieren, was er mir da gerade gesagt hatte. Ich starrte ihn an. Ich konnte mich weder bewegen noch etwas sagen. Mein Körper war wie festgefroren. Erst als er nach meiner Hand griff und „Esther…“ sagte, kam wieder Leben in mir. Ich riss mich los und rannte aus dem Haus raus. Ich rannte immer weiter und ignorierte seine Rufe. Zu allem Überfluss fing es auch noch an zu Regnen.
Durchnässt, verheult und außer Atem kam ich zuhause an. Samuel kam mir entgegen und umarmte mich „Was ist denn los?“ Ich erzählte ihm alles. „Du hattest die ganze Zeit recht. Du, meine Mutter und alle anderen. Ich konnte es nicht sehen. Ich WOLLTE es nicht sehen. Es war so naiv und dumm von mir zu glauben, dass mein Vater mit mir zurückkommen würde. Samuel sah mich an. Sein Blick war warm. „Esther…“, sprach er und strich mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. „Es war nicht dumm oder naiv. Es war mutig. Du hast dich etwas getraut, wo Leute die Hoffnung längst aufgegeben hätten. Und auch wenn es nicht, dass ist was du hören wolltest, hast du jetzt wenigstens Klarheit. Er zögerte einen Moment bevor weitersprach. „Ich will nicht, dass du dich allein fühlst. Nicht hier, nicht in Paris, auch nicht irgendwo anders. Vielleicht hast du deinen Vater nicht zurückgewinnen können, aber…, trotzdem, trotz allem hast du Menschen gefunden, denen du etwas bedeutest. Mir zum Beispiel.“ Ein zaghaftes Lächeln umspielte seine Lippen. „Und wenn du willst…, dann bin ich hier. Nicht nur heute.“ Überrascht blickte ich ihn an, mein Herzschlag beschleunigte sich. Seine Worte waren wie ein warmer Lichtstrahl in all dem Dunkel, dass mich umgeben hatte. Vorsichtig griff ich nach seiner Hand. „Vielleicht sollte ich gar nicht nur wegen meinem Vater herkommen. Vielleicht musste ich ihn erstmal wirklich verlieren, um zu erkennen, was ich wirklich suche. Und trotzdem… fühlt es sich jetzt so an, als wäre ich genau da angekommen, wo ich hingehöre.“ Ein sanftes Lächeln trat auf mein Gesicht. „Und vielleicht… möchte ich jetzt einfach nur hierbleiben. Hier bei dir.“
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