von Mona Alhalabi.
Ich wusste damals nicht, dass ein einziger Anruf alles verändern würde.
Es war Dienstag, kurz nach fünf, als Lina mir sagte, sie müsse gehen. Für immer.
Es war der letzte Freitag im August, und die Sonne hing wie ein Versprechen über den Dächern unserer kleinen Stadt.
Ich saß neben Jonas auf der alten Parkbank hinter der Schule, genau dort, wo wir uns vor einem Jahr zum ersten Mal getroffen hatten. Die Zeit war seither stehen geblieben. Zumindest hat es sich so angefühlt.
„Und, hast du schon gepackt?“, fragte Jonas. Er versuchte dabei zu lächeln, doch ich hörte den Schmerz in seiner Stimme. Ich nickte langsam.
„Ein bisschen. Mama hat schon die Hälfte der Koffer vollgemacht, obwohl wir erst Sonntag fliegen.“
Ich starrte auf meine Hände, sie zitterten leicht. Ich hoffte, er bemerkte es nicht.
Jonas sagte nichts.
Er nahm nur meine Hand, und für einen Moment war es still.
Nur die Vögel zwitscherten, als würden sie versuchen, den Moment zusammenzuhalten.
Ich hatte nie davon geträumt, weg zu sein, aber als die Zusage vom College in New York kam — mit Stipendium, mit allem — konnte ich nicht Nein sagen. Es war mein Traum.
Und trotzdem tat es weh, ihn zu leben.
Jonas drückte meine Hand fester.
„Du bist mutig, Lina“, sagte er leise.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin feige“, sagte ich mit einer traurigen Stimme.
„Ich gehe einfach.“
„Nein“, sagte er
Er sah mich an.
„Du gehst, weil du musst. Weil du kannst. Und ich bleibe, weil ich nicht wüsste, wohin.“
Ich hatte Angst vor dem Moment, in dem ich ihn nicht mehr sehen würde. Nicht mehr riechen. Nicht mehr lachen hören. Und doch saßen wir hier, hielten uns fest, als könnten wir die Zeit so festhalten.
Aber wir wussten beide, dass der Abschied näher rückte, als es uns lieb war.
Dann drückte er mir etwas in die Hand. Ein kleiner Zettel, gefaltet wie früher in der Schule.
„Erst lesen, wenn du oben bist“, flüsterte er.
Ich wollte etwas sagen. Irgendwas. Aber ich kam nicht dazu.
Denn ich musste gehen.
Lina im Flugzeug…
Im Flugzeug war es irgendwie stiller, als ich gedacht hatte. Man hörte nur dieses gleichmäßige Rauschen und ab und zu klapperte irgendwo ein Tablett. Ich saß am Fenster und starrte hinaus, aber da war nur so ein graues Nichts. Und ich hab mich richtig komisch gefühlt. So leer und voll gleichzeitig.
Ich hatte Jonas’ Zettel immer noch in der Hand. Zerknittert, ein bisschen feucht, keine Ahnung ob vom Regen oder weil ich ihn die ganze Zeit festgehalten hab. Ich hatte ihm versprochen, erst zu lesen, wenn ich oben bin. Jetzt war ich oben.
Und trotzdem hab ich’s nicht direkt aufgemacht. Ich hab den Zettel nur so zwischen meinen Fingern gedreht und wusste irgendwie, dass ich gleich heulen könnte, wenn ich ihn lese. Mein Bauch hat sich voll komisch angefühlt. So ein Mischung aus Angst und Vermissen.
Dann hab ich einmal tief durchgeatmet und ihn langsam aufgefaltet
Nur ein Satz stand da. In einer Schrift, leicht schief, wie immer:
„Ich war nie gut im Loslassen. Aber ich will gut darin sein, dich zu halten, egal wo du bist.“
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich schaute aus dem Fenster, suchte irgendwo zwischen den Wolken nach etwas. Vielleicht Hoffnung. Vielleicht ihn.
Zwei Monate später…
Lina
Ich hatte gedacht, man gewöhnte sich irgendwann an das Vermissen. Aber nein, das tat ich nicht.
Ich gewöhnte mich nur daran, es zu verstecken. Tagsüber war alles gut.
Ich ging zu den Vorlesungen, lernte, wie man in New York seinen Weg findet, ohne stark aufzufallen.
Aber abends, wenn es still wurde und nur noch das schwache Licht von der kleinen Lampe auf meinen Schreibtisch fiel, saß ich oft einfach nur da. Mein Zimmer war dann so still, dass ich jedes Knacken vom Holzboden hören konnte. Die Geräusche der Stadt draußen klangen weit weg, so, als gehörten sie nicht zu mir.
Und dann hab ich mich erwischt, wie ich einfach durch unsere alten Chats gescrollt hab. Nachrichten, die eigentlich nichts Besonderes waren, aber in dem Moment alles. Jedes „Hey“ und jedes „Was machst du grad?“ hat sich angefühlt wie ein kleiner Stich, weil er nicht hier war.
Ich schrieb Jonas zwar noch fast jeden Tag, doch es fühlte sich anders an.
„Hey, wie geht’s dir?“
„Viel los grad. Ich melde mich später.“
Und später kam nicht immer etwas.
Ich wusste, dass er sich nicht absichtlich entfernte. Ich wusste auch, dass wir beide einfach mit allem überfordert waren. Und trotzdem tat es weh.
Jonas
Meine Freunde sagten, ich hätte mich verändert. Ich sei stiller geworden. Doch ich sagte, ich hätte einfach viel zu tun.
Aber in Wahrheit war es nicht so gewesen. Mir fehlte eine Sache. Eine Person.
Lina
Ich sah mir seine Story an, hörte seine Stimme in alten Sprachnachrichten, aber es fühlte sich an wie ein Echo, das nicht greifbar ist.
Manchmal dachte ich, vielleicht wäre es angebracht, wenn wir’s einfach lassen.
Und trotzdem konnte ich nicht.
Ich warf hundert Mal mein Handy aufs Bett, weil ich nicht wusste, was ich schreiben sollte. Ich hatte Angst, ihn mit meiner Unsicherheit zu belasten.
Ich fühlte mich schwach und alleingelassen.
Aber dann kam eines Abends eine Nachricht von ihm:
„Ich habe heute fast geweint im Supermarkt, weil sie hier keine deiner Lieblingskekse haben. Total bescheuert, ich weiß.“
Und ich musste grinsen.
Weil er es verstanden hatte.
Weil er es trotzdem sagte.
Lina
Es war schwer.
Nicht, weil wir uns gestritten hatten, sondern weil wir beide leise an der Entfernung zerbrachen.
Und trotzdem dachte ich an ihn bei jeder Entscheidung, trotzdem schickte ich ihm morgens ein
„Guten Morgen“ und ich wartete auch auf sein „Schlaf gut“ — doch das kam selten.
Vielleicht war das die echte Liebe.
Nicht das Perfekte, nicht das Filmhafte, sondern das, was bleibt. Trotz allem.
Sechs Monate später…
Ich war wieder zurück.
Nicht für immer, nur für ein paar Wochen Semesterferien. Aber es fühlte sich groß an.
Fremd irgendwie.
Und gleichzeitig vertraut.
Die Straßen rochen noch genauso wie damals.
Nach Bäumen, Regen und diesem undefinierbaren Gefühl von „Zuhause.“
Ich hatte nicht angekündigt, dass ich früher komme. Ich wollte kein großes Wiedersehen,
keine Erwartungen.
Ich wollte einfach sehen, was passiert.
Und dann saßen wir wieder auf der gleichen alten Parkbank hinter der Schule.
Die Bank war ein bisschen verwittert. Wir auch, auf unsere Art.
Es war kein Neuanfang.
Nicht die Art von Wiedersehen, bei der man sich in die Arme fällt und alles wieder gut ist.
Es war vorsichtig.
Zögernd.
Ehrlich.
Die Sonne lag warm auf unseren Gesichtern. Ich sah zu Lina rüber, wie das Licht auf ihren grünen Augen lag und ihre braunen Haare ein bisschen goldener wirken ließ. Für einen Moment sah sie genau so aus wie damals, bevor alles kompliziert wurde.
Und für einen kurzen Augenblick hab ich mir eingeredet, dass vielleicht gar nicht so viel passiert ist in all den Monaten. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Wir beide wussten es.
„Ich habe oft gedacht, dass es einfacher wäre, sich loszulassen“, sagte Jonas.
Ich nickte. „Ich auch.“
Wir schwiegen. Aber es war kein unangenehmes Schweigen.
Es war das Schweigen von zwei Menschen, die wissen, dass sie etwas überstanden haben und nicht sicher sind, was jetzt kommt.
„Und trotzdem sind wir hier“, sagte ich schließlich.
„Ja. Trotzdem.“
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