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Kurosch der Große

von Arsalan Ismailzadae. 


In einer Hierarchie, die davon geprägt ist, dass ein Bauer nur ein Bauer bleibt und ein Fürst jede Art von Macht ausüben darf, um seine ureigensten Interessen zu folgen, in der Frauen keinerlei Rechte haben und unterdrückt, geschlagen und verbrannt werden, weil sie nicht der Vorstellung von Schönheit entsprechen, einer Hierarchie, der es Frauen verbietet, ihre Meinung frei zu äußern und zu sagen, was sie im Herzen tragen, einem Ort, wo Tyrannei das Leben des Individuums bestimmt und die Freiheit des Einzelnen einschränkt, einem System welches keinerlei sozialen Werte vertritt, lebt ein Junge und fragt “Warum?”

Es war ein Tag, an dem die Sonne brannte und der Wind wie glühende Klingen über die staubigen Straßen zog. Kurosch war ein Junge, der gerade begann, die Welt mit eigenen Augen zu erblicken, als er Zeuge einer Situation wurde, welche tief in seine Seele schnitt.

Das Mädchen, sie war kaum älter als er, mit wildem, ungekämmtem Haar und zerrissenen Kleidern, stand da, den Blick gesenkt, als ihr Herr, ein Mann von Gewalt geprägt, mit einer Peitsche in der Hand, die mit spitzen Dornen besetzt war. Ihre Hände waren zusammengebunden und bluteten von den Striemen, die der Herr ihr verpasst hatte. Doch es war nicht der Anblick der Wunden auf ihrer Haut, der Kurosch zerriss. Es war der Blick in ihre Augen, die von Verzweiflung gezeichnet waren. Sie weinte nicht. Sie bettelte nicht um Gnade. Sie ertrug den Schmerz mit einer Stille, die die Luft zu ersticken schien. Der Mann schrie, riss ihr das Haar. „Wie kannst du es wagen, deinem Herrn zu widersprechen?” brüllte er, seine Stimme wie das Zertrümmern von Schädeln. Und dann, vor aller Augen, trat er zu ihr und riss ihr Kleid von der Schulter, als sei sie nichts weiter als ein Spielzeug. Der Junge konnte nicht mehr hinschauen, doch seine Füße waren wie festgenagelt. Er wollte schreien, flehen, um das Mädchen vor dem Horror zu retten, aber seine Kehle war wie eingefroren. „Warum tue ich nichts?” schrie er in sich hinein. Doch es war zu spät, sie fiel zu Boden, ihr Körper in einem Winkel, der nicht lebendig wirkte. Und die Männer um sie herum starrten mit einem Anblick, als sei es der Lauf der Dinge, als sei sie keine Frau, oder viel wichtiger: ein Mensch. An diesem Abend legte sich Kurosch hin. Das Bild des Mädchens brannte vor seinen Augen. „Warum habe ich nichts getan? Oder warum sollten wir eher leben, als wären wir im Dschungel. Wenn es Gerechtigkeit geben würde, dann würden wir Menschen nicht leben wie die Tiere.”

Die Jahre vergingen, als Kurosch älter wurde und schließlich ein heranwachsender junger Mann war und die Welt mit eigenen Augen erblicken konnte. Doch er sah nicht nur, er begann zu begreifen.

In den frühen Morgenstunden, wenn das erste Licht über die Hügel strich, saß er mit alten Schriftrollen unter dem Feigenbaum, den seine Urgroßvater gepflanzt hatte. Dort las er von Philosophen und Denkern. Von Völkern, die gefallen, aber aufgestanden waren. Von Visionen einer Welt, die auf Gerechtigkeit, nicht auf Gewalt gebaut ist. Er hörte auf zu schweigen. Seine Gedanken wurden klarer, seine Sprache gerechtigkeitsorientierter. Während andere in der Trägheit des Alltags gefallen sind, suchte Kurosch nach Sinn. Er fragte die Alten, beobachtete die Jungen in seinem Alter. Sein Antrieb wurde zur Klinge und sein Denken zur Rebellion. Und in all dem blieb das Bild des Mädchens in seinem Kopf... nicht als Wunde, sondern als Antrieb. Die Welt wie sie war genügte ihm nicht. Und langsam, beinahe unmerklich, wächst aus dem zornigen Jungen ein Weiser Mann. Einer der nicht nur reden kann, sondern auch führen.

So stellt sich Kurosch eines Tages vor die Menge und verkündet, “Oh ihr Menschen, befreit euch von dieser ewigen Sklaverei. Wollt ihr das die, die Macht haben eure Frauen zu Witwen und eure Kinder zu Waisen machen? Wollt ihr euer Leben der Knechtschaft widmen und denen dienen, die euch nicht dienen? Ich sage euch, schließt euch meinen Worten an und werdet Anhänger meiner Anschauung. Erschafft gemeinsam mit mir eine Welt, in der Mann und Frau des Gleichen sind. Eine Welt, in der wir unsere Meinung frei äußern dürfen, denn erinnert euch: Derjenige, der seiner Zunge beraubt wird, dessen Herz ist tot.” Dabei merkt Kurosch, dass niemand ihm seine Aufmerksamkeit schenkt. Er sieht in die Menschenmenge und beobachtet die Gesichter der Menschen, die von Angst und Unsicherheit geplagt sind und flüsternd Geschichten erzählen. „Hast du gehört, was mit Arash passiert ist? Man sagt, Wächter haben ihn um Mitternacht aus dem Haus mitgenommen und ihn geschlagen.” Kurosch blickt weiter und sieht abgemagerte Männer, Frauen mit Kindern im Arm und Alte mit zitternden Händen, die am Straßenrand knien. Ihre Kleidung sind zerrissen, ihre Gesichter vom Staub der Straße gezeichnet, Sie strecken dir ihre Hand entgegen - nicht aus Faulheit, sondern weil die Tyrannei ihnen die Möglichkeit genommen hat, für sich zu sorgen. Einige flüstern mit gekränkter Stimme: „Nur ein Stück Brot... für mein Kind...” Doch die Reichen laufen achtlos vorbei. In Seide und Gold gekleidet, die Augen geradeaus, als wären die Bettler nichts anderes als Luft. „Wenn ich jetzt schweige, werden andere für immer schweigen müssen. Ich spüre die Last der Tyrannei auf meinen Schultern. Doch gleichzeitig spüre ich den Wunsch es abzuwerfen. Vielleicht bin ich nur ein Tropfen im Sand, aber auch Sand erhebt sich bei Sturm.” Etwas wie einen Monolog führt er mit sich und wendet sein Rücken zur Menge und geht mit gesenktem Kopf Heim. Die Bilder des Tages brannten in seinem Kopf: Das Leid, die Angst, das Schweigen. Er war wütend, aber auch müde. „Was kann schon ein einzelner gegen ein Reich ausrichten?” Doch nach dieser Rede beginnt für Kurosch nicht der Triumph, sondern die Einsamkeit. Die Worte, die er sprach, hallen nach... aber Veränderungen geschehen nicht über Nacht. Er setzte sich an den Tisch, legte die Hand auf ein Stück Ton, griff zum Stift und begann zu schreiben. Nicht mit dem Ziel gehört zu werden, sondern um nicht zu vergessen. Zeile für Zeile floss aus seinem Herzen. Worte über Gerechtigkeit, Freiheit und Menschlichkeit. Unter diesen Gedanken wuchs ein Gedicht... Ein Aufschrei gegen das, was er gesehen hatte.

“Die Existenz neigt sich ohnehin einem Ende zu, also sollte Knechtschaft kein Platz in ihr haben. Wenn Knechtschaft unabdingbar ist, dann ist die Existenz selbst wertlos.

Wenn es mit Unterdrückung Edelsteine regnen sollte, so sprich zum Himmel und sage: Zieh dich zurück! Denn selbst Regen hat keinen Sinn, wenn er dich in Erniedrigung hüllt.

Das Leben besteht aus der Freiheit des Menschen und seiner Selbstbestimmung. Für die Freiheit, kämpfe, denn Knechtschaft hat in diesem Leben keinen Platz.”

Diese Worte verbreiten sich wie Feuer im Wind. In dunklen Gassen wurden sie geflüstert, auf Märkten leise zitiert, von Müttern in Schlaflieder gesungen. Das Volk hörte und wurde aufmerksam auf Kurosch. „Hast du schon von diesem Kurosch gehört?”, “Man sagt er hat in seinem Gedicht den König kritisiert, stimmt das?”. Doch mit der Verbreitung dieser Worte wuchs auch die Gefahr. In der Stille der Nächte klopfte es an Türen, und die, die zu laut träumten, blieben verschwunden. Kuroschs Name lag nun auf den Lippen... aber nicht nur auf den der Hoffnungsvollen. Eines Nachts, als der Wind durch die engen Gassen wie ein Flüstern strich, geschah es. Kurosch saß am Feuer, die Glut reflektierte in seinen Augen, als plötzlich das Holz der Tür splitterte. Dunkle Gestalten stürmten herein, ihre Gesichter bedeckt von einem roten Tuch. Ihre Hände so hart wie das Gesetz, das sie trugen.  Sie packten ihn ohne ein Wort, schlugen ihn zu Boden, bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah. Der Stift fiel, der Ton zerbrach. Schweigend wurde er fortgeschleppt, hinaus in die Nacht, in der nur Gott der Zeuge blieb.

Als sie ihn aus dem Haus rissen, vernahm Kurosch nur stumpfe Geräusche... Schritte, das Krachen der Tür. Dann der Schmerz. Hart, brennend, endgültig. Hände packten ihn wie kaltes Eisen. „So also endet es? Nicht auf dem Feld, nicht vor einem Gericht, sondern im Dunkel... Wie ein Dieb?” Er spürte, wie sein Gesicht auf den Boden gedrückt wurde, den feinen Staub zwischen den Zähnen. Ein Schlag traf seine Seite, er keuchte.

„Sie fürchten nicht das Schwert. Sie fürchten das Erwachen.“

Als man ihn durch die Gassen schleifte, fühlte er das Pflaster unter den Knien. Über ihm der Himmel.... gleichgültig, sternenklar.  

Ein weiterer Stoß. Ein Tritt. Ein Griff in den Nacken.

„Ich werde nicht betteln. Nicht schweigen. Wenn sie mich brechen, dann sollen sie hören, wie ich klinge, bevor ich falle. Seht mich an. Nicht als Opfer. Als Spiegel. Denn was mir geschieht, geschieht uns allen.“

Sie warfen ihn in einem Raum ohne Fenster, ohne Zeit. Kein Laut, kein Licht und auch kein Wasser. Nur der Atem des Kerkers, der wie eine lebendige Haut an ihm klebte. Die Tür zerfiel wie das Ende einer Welt. Niemand wusste, wo er war. Kein Weg führte hierher... und auch keiner wieder raus. Die Stunden zerfielen zu Staub, die Dunkelheit flackerte in seinen Gedanken. Doch Kurosch gab diesem Nichts einen Sinn. Mit zitternden Fingern suchte er die Wand ab, ertastete eine Unebenheit in der Wand. Er riss einen scharfkantigen Stein aus dem Boden und begann zu schreiben. Nicht für andere... nicht für Hoffnung, sondern um sich selbst nicht zu verlieren.

“O mein Herr, ich habe keine Erkenntnis, doch durch deine Erkenntnis weißt Du. Mancher wurde zum Bettler, mancher fiel noch tiefer und einer wurde Herrscher über sieben Länder. Manche wurden dem Staub gleich... und doch hast du anderen eine Krone geschenkt.”

Das Echo seines Kratzens war das Einzige, was noch an Leben erinnerte.

Dann kamen sie....

Die Tür wurde aufgerissen wie eine Wunde. Fünf Männer, vermummt, bewaffnet mit Stöcken, Peitschen, Haken. Ohne ein Wort packten sie ihn, zerrten ihn hinaus in einem anderen Raum... hell von einer einzigen flackernden Kerze, die seine Schatten an der Wand reflektierte. Die Folter begann... Sein Rücken wurde aufgerissen von Riemen, seine Rippen zitterten unter Schlägen wie dünnes Papier unter Hagel. Er wurde an den Armen aufgehängt bis seine Gelenke knackten. Wasser... eiskalt wurde ihm übergegossen, nur um ihn gleich mit dem glühenden Eisen zu brennen.

Fleisch platzte auf, Haut klebte an Metall.

Ein Wächter erhob seine Stimme und sagte: “Sag uns, wer bist du? Wer schickt dich? Wem gehorchst du? Sprich oder ich töte dich. Was willst du dann tun? Wenn dein Name vergessen, deine Leiche hier verwest wird. Wer erinnert sich noch an so einem Narren?”

Kurosch hob den Blick... blutig, zitternd, aber voller Mut. Er sprach, ruhig, wie ein uraltes Gebet.

“Ein Mann, stirbt nicht durch den Tod, denn der Tod flieht vor seinem Namen. Wenn sein Name ewig wird...wo ist denn da der Tod?”

Stille.

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