von Timo Nourry.
Kapitel 1: Der Ruf der Entscheidung
“Nein, Nein, Nein! An die Front? Bist du verrückt geworden?” Sara stand mitten im Wohnzimmer, die Stimme zitternd, Tränen in den Augen. David schwieg. Seine Finger umklammerten das Handy. Die Nachricht war immer noch da. Schwarz auf weiß.
“Vilnius wird evakuiert. Russische Truppen haben die Grenzen überschritten.”
Draußen rauschte der Pariser Verkehr. Drinnen schien alles still zu stehen. Nur seine Tochter spielte im Nebenzimmer. Die Geräusche ihrer Bauklötze mischten sich mit dem Ticken der Uhr.
Sara machte einen Schritt auf ihn zu. “David... bitte. Du hast hier alles. Du hast uns.”
Er sah sie an. Es tat weh. Nicht weil sie Unrecht hatte. Sondern weil sie Recht hatte.
Doch sein Herz war woanders.
Kapitel 2: Litauen: Wo alles begann (15 Jahre zuvor)
Vilnius war eine dieser Städte, die man nicht auf Postkarten sah. Und doch war es eine Heimat. Nicht schön, aber echt. Die Fassaden grau, die Winter lang, die Gesichter ernst. Litauen war jahrzehntelang Teil der Sowjetunion gewesen, nicht freiwillig.
Die alten Mauern und Menschen trugen diese Geschichte noch in sich. Es war, als hänge ständig ein Schatten über allen. David wuchs in einer kleinen Wohnung mit seiner jüngeren Schwester Vanessa und seinen Eltern auf.
Der Fernseher war alt, die Möbel vom Flohmarkt. Doch es fehlte nie an Essen und nie an Disziplin.
“Du musst besser sein als die anderen” sagte sein Vater oft. “Sonst bleibst du hier stecken.”
Und David war besser. Schon mit zehn Jahren trainierte er jeden Tag. Morgens rannte er durch die Straßen, wenn es noch dunkel war. Egal ob Regen, Eis oder Schnee. Danach Schule. Danach Rugby. Danach lernen.
Er war schneller, kräftig, klug, aber nicht verwöhnt. Sein Vater war als Kind der sowjetischen Zeit aufgewachsen mit harter Arbeit und Strenge. Gefühle wurden selten gezeigt, Schwäche nicht akzeptiert. Und David wuchs genauso auf: mit Disziplin, mit Druck, mit wenig Platz für Träume. Aber genau deshalb war sein Wunsch so groß, etwas aus sich zu machen.
Seine Freunde gingen feiern. David trainierte. Seine Noten waren gut. Aber das Rugby war sein Leben. Er hatte sich nie beklagt. Manchmal weinte er, wenn er alleine war. Aber er hörte nie auf. Denn tief in ihm war ein Traum: Eines Tages würde er es schaffen. Und seine Familie würde stolz auf ihn sein.
Mit 17 Jahren kam dann die große Nachricht:
Ein Sportstipendium für eine Eliteschule in Frankreich.
Seine Mutter weinte vor Freude. Sein Vater ebenfalls und dies zum ersten Mal und klopfte ihm auf die Schulter. “Jetzt zeig ihen was du kannst mein Sohn.”
Kapitel 3: Der lange Weg nach oben
Lyon war wie eine andere Welt. Die Sprache, die Menschen, das Essen, alles fremd. Am Anfang war David verloren. Er verstand nichts. War allein.
Für ihm war es ein täglicher Kampf, mit seinem Körper, mit seinem Kopf, mit der Angst zu scheitern.
Er lernte Französisch, nachts, heimlich, mit YouTube Videos.
Er lernte neue Trainingsmethoden. Neue Gegner. Neuen Schmerz.
Er lebte in einem kleinen Zimmer im Internat. Das Fenster ging raus auf eine laute Straße. Manchmal lag er nachts wach und dachte an zuhause. An seine Familie. An das litauische essen. An den Klang der Sprache. Dann weinte er wieder leise. Und am nächsten Morgen stand er dann trotzdem um fünf wieder auf für seine erste Trainingseinheit des Tages.
Mit der Zeit wurde er stärker. Seine Trainer lobten ihn. Sein Name tauchte in Artikeln auf. Schließlich unterschrieb er bei einen Pariser Profiverein.
Er zog um. Paris war groß, laut und fremd. Er spielte vor tausenden. Die Tribünen waren voll, die Leute jubelten, wenn er denn Ball trug. Mit seinen ersten Gehältern machte er sein erstes Fitnessstudio auf. Dann ein zweites. Die Leute erkannten ihn manchmal auf der Straße. Manche wollten sogar Fotos mit ihm machen. Dann lernte er Sara kennen. Sie war anders. Direkt, aber warm. Mit ihr konnte er lachen, auch wenn es ein harter Tag war. Später kam ihre Tochter Emilija zur Welt. Als er sie zum ersten Mal in die Armen nahm. Spürte er Ruhe, die er zuvor noch nie kannte. Kein einziger Stress mehr, nur sie.
Er hatte es geschafft. Er hatte sich selbst rausgekämpft. Aus Litauen, aus der Kälte, aus dem Druck. Er schickte Geld nachhause, jeden Monat. Seine Mutter konnte endlich mal durchatmen. Seine kleine Schwester musste keinen Nebenjob mehr machen. Und sein Vater? Der sagte zum ersten Mal zu jemanden “Das ist mein Sohn”
David hatte das alles durchgestanden, die schweren Jahre, das Alleinsein, die Zweifel. Aber jetzt?
Kapitel 4 : Der Preis der Freiheit
Jetzt stand er an der Tür. Der Rucksack lag bereit. Das Handy vibrierte noch in der Tasche. Und alles, was er aufgebaut hatte, alles wofür er gekämpft hatte, drohte in einem einzigen Moment wieder zu zerbrechen.
Paris war ruhig an diesem Abend. Als wäre Frieden normal.
“David...” schluchzte Sara.
“Du bist kein Soldat. Du bist Vater. Du bist Sportler. Du bist Unternehmer. Ein Held für so viele. Du hast so lange gekämpft, um hier zu sein, und jetzt willst du das alles aufgeben?”
David schwieg. Aber in seinen Augen lag nur eine richtige Antwort. Da lag alles, was gewesen war.
Die eisigen Winter in Litauen, wo er mit eiskalten Fingern den Ball trug. Das frühe Aufstehen, das ständige Frieren. Der Schweiß, der ihm in die Augen lief. Das Kämpfen. Das Wiederaufstehen.
Und jetzt Krieg.
Er drehte sich um und ging ins Schlafzimmer. Er öffnete die untere Schublade des Schranks. Darin lag der Rucksack. Alt, Ausgeblichen, aus Litauen.
Er war nicht besonders, grau, längst abgenutzt, etwas eingerissen.
Aber David konnte sofort riechen was darin klebte. Erinnerung, Herkunft. Staub von einem Leben, dass er glaubte hinter sich gelassen zu haben. Er legte ihn auf das Bett, setzte sich an seinen Schreibtisch und zog langsam ein Blatt Papier vor sich hin.
“An Vanessa, meine kleine Schwester
Ich habe dich, Mama und Papa nie vergessen, aber Ich habe gelernt mich selbst zu retten. Für euch. Ich habe trainiert, als mein Körper nicht mehr konnte. Ich habe durchgehalten, wenn andere schon längst aufgegeben hatten. Ich habe ein neues Leben aufgebaut. Aber heute ist das alte Leben zurück. Krieg. In Litauen. In unseren Straßen. Und Ich kann hier nicht sitzen. In Sicherheit mit einem Anzug im Schrank, während ihr vielleicht versteckt unter der Erde liegt. Ich kann und darf nicht.
Du bist meine Schwester. Mama ist meine Mutter. Papa mein Vater. Und Litauen ist mein Land. Nicht weil es perfekt ist, sondern weil es meins ist. Wenn du das liest, bin Ich unterwegs. Ich weiß nicht, ob Ich zurückkomme. Ich weiß nur, Ich MUSS es tun. Bleib stark Vanessa.
Und wenn Ich nicht zurückkehre, erzähl meiner Tochter wer Ich war. Und warum Ich gegangen bin.
Dein David.”
Kapitel 5: Das Ticket
Er legte den Brief ins obere Regal. Ganz oben. So dass Sara ihn finden würde. Dann zog er sich an.
Kein Soldat aber ein Mann, der wusste, dass es einen Moment im Leben gibt, wo man nicht mehr fliehen konnte. Im Flur traf er auf seine Tochter. Sie war noch klein, nicht älter als drei. Sie hielt ihr Kuscheltier in der Hand. Die, die Sie mit ins Bett nahm “Papa?” fragte sie leise.
“Gehst du weg?”
Er ging in die Hocke. Schaute Ihr in die Augen. Da war so viel Unschuld. So viel Vertrauen.
“Ich muss jemanden helfen” sagte er. “Aber ich komme zurück, okay?”
Sie nickte langsam, obwohl sie es nicht verstand.
Dann drückte Sie ihm, ihr Kuscheltier in die Hand. “Nimm Lulu mit” sagte sie “Sie passt auf dich auf.”
David schluckte. Er hielt das Kuscheltier fest. Das war der schwerste Moment. Nicht der Krieg. Nicht die Entscheidung. Sondern dieser Blick. Ihre Stimme, Ihr Vertrauen.
Hinter ihr stand Sara. Starr. Die Tränen liefen längst, doch sie sagte nichts mehr.
Denn sie wusste, dass Wörter jetzt nichts mehr bedeuten.
David gab ihr eine letzte dicke Umarmung.
David trat hinaus in die dunkle Nacht.
Die Straßen von Paris waren voll wie immer Liebe, Lache, Musik, Leben.
Jugendliche spielten Gitarre an einer Brücke.
Am Metro Eingang blieb er stehen. Er griff in seine Jackentasche.
Darin war ein kleines, zerknittertes Foto.
Darauf: Sara, die ihre Tochter auf dem Arm hielt. Beide lachten.
Er sah das Bild lange an. Dann zog er ein Zugticket hervor.
PARIS-VILNIUS
Dann steckte er das Foto wieder ein.
Das Zugticket behielt er in der Hand.
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