von Taylan Çetin.
Wie kann man einen Mann, der scheinbar alles hat, dazu bringen alles aufzugeben.
Das Leben fühlte sich so langsam an, als würde man förmlich nur auf den Tod warten. Aufstehen, frühstücken, die Nachrichten einschalten. „52.400 Menschen gestorben und rund 118.014
wurden verletzt.“ Bevor überhaupt klar war, um welches Kriegsgebiet es sich nun handelte, wurde der Sender gewechselt.
„Herr Rose wie geht es ihnen?“
„So gut wie es jemanden wie mir halt gehen kann.“
Herr Rose sitzt vor seiner Therapeutin Dr. McKenzie, die mit der Antwort noch nicht ganz zufrieden war.
„Das war keine Antwort.“
„Gut.“ Ohne ein Hauch von Glaubwürdigkeit.
„Was haben sie denn übers Wochenende gemacht?“
Sie erwartete nicht mal mehr eine ehrliche Antwort.
„Nichts Besonderes.“ Wieder keine Glanzleistung, was die Authentizität angeht. „Haben sie sich mir irgendwem getroffen?“
Dr. McKenzie war der Meinung, dass fehlender menschlicher Kontakt der Grund für die mangelnden Sozialkompetenzen von Herrn Rose war.
Keine Antwort von Herrn Rose.
„Sie müssen damit anfangen, sich mit Menschen zu umgeben.“
Sie merkte, dass sie damit einen kleinen Nerv getroffen hatte.
„Ach hören Sie auf.“ Herr Rose wurde lauter und nahm einen strengen Ton ein. Er machte ihr Angst. Sie hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, die Therapie mit ihm zu beenden.
Besonders nach dem Vorfall am 9 November.
Er hatte angefangen, sie aufs Übelste zu beschimpfen und zu bedrohen. Was sie an dem Tag besprochen hatten, wusste sie nicht mehr. Wahrscheinlich hatte sie aus Versehen seine verstorbene Ehefrau angesprochen.
Ein sehr schwieriges Thema.
„Naja“, sagte Dr. McKenzie „Manche Menschen kommen nun mal am besten mit nur sich selbst klar, das stimmt schon, aber menschlicher Kontakt und Konversation sind für einen gesunden Menschenverstand unumgänglich.“
Das verärgerte Herrn Rose nur noch mehr. Dr. McKenzie merkte, dass Herr Rose immer wütender wurde. „Was für ein Schwachsinn. Woher kommt denn diese Annahme?“
„Beruhigen sie sich bitte.“ sagte Dr. McKenzie vergeblich.
„Gesunder Menschenverstand. Was nehmen Sie sich heraus?
Eine Frechheit. Wollen sie damit sagen, dass ich krank im Kopf bin?“
Er griff nach einer Packung Taschentücher, die auf dem Tisch lag, und warf sie gegen die Wand. Nicht nach Dr. McKenzie. Nur gegen die Wand. Er traf ein Bild, das offensichtlich dort hing, damit ihre Patienten sich in ihrer Praxis wohlfühlten. Wie ironisch.
„Beruhigen sie sich, sonst rufe ich die Polizei“ Dr. McKenzie
zitterte.
„Schon gut. Schon gut. Ich bin doch ruhig. Keine Sorge.“
„Sie werden sofort meine Praxis verlassen. Ihre Termine für die Zukunft werden sie nicht wahrnehmen.“
Herr Rose lachte kurz und verließ langsam den Raum
„Das können sie unmöglich ernst meinen.“
„Selbstverständlich meine ich das ernst.“
Herr Rose setzte noch einmal an. „Was denken Sie eigentlich, wer Sie sind? So langsam sollten sie sich doch im Klaren sein, wer ich bin und dass sie nicht so mit mir zu reden haben.“
Ein gebrochener Mann.
So zumindest die Diagnose von Dr. McKenzie.
Es war das letzte Mal, dass Herr Rose bei der Therapie war.
Dr. McKenzie legte eine einstweilige Verfügung ein. Herr Rose sah seine einzigen 50 Minuten lange wöchentliche menschliche Konversation nie wieder.
Die Pflicht ruft. Er muss zur Arbeit.
„Ekelhaft“ Herr Rose steht vor dem Fenster seines Büros und beobachtet angewidert die Menschen in Manhattan.
„Habt ihr nichts Besseres zu tun als den ganzen Tag nur in der Stadt herumzulaufen?“ murmelt er leise vor sich hin.
„Sie werden uns hier noch zu einem alten Mann. Sie sind doch erst 37“, scherzt seine Sekretärin Nora. Keine Reaktion.
Nicht mal ein kleines Lächeln aus Mitleid bekommt sie von ihm. „Wollen sie nicht mal aus dem Büro rauskommen und eine kleine Pause einlegen? Mal weg vom Schreibtisch und einen kleinen Kaffee trinken? Also ich hätte Zeit“, schlägt die Sekretärin vor.
„Nein“. Kälter geht es gar nicht. Nora schämt sich ein wenig.
„Ach so ja. Ich habe auch wirklich viel zu tun. Wer hat denn schon Zeit für einen Kaffee.“ Zeit für einen Kaffee hat er schon. Sogar reichlich Zeit, denn er arbeitet gar nicht wirklich.
Mittlerweile ist Herr Rose mit seinem Unternehmen, das er mit seiner Ehefrau gegründet hatte, so erfolgreich, dass sein Geld für ihn arbeitet.
„Ich mache für heute Schluss.“ Herr Rose macht sich auf den Weg zum Friedhof, auf dem seine Ehefrau begraben wurde.
Heute vor 7 Jahren ist sie verstorben. Er setzt sich auf eine Bank und beginnt, mit ihr zu reden. Stunde um Stunde bis zur Geisterstunde, als er von einem Mann angesprochen wird. Ein kleiner gebrechlicher sehr alter Mann, um die 90 Jahre alt, schätzt Herr Rose.
„Mein Beileid, junger Mann. In welcher Beziehung standen sie zu dieser Frau?“ fragt der alte Mann ihn.
„Wir waren verheiratet, bis der Tod uns vor sieben Jahren schied.“
„Das tut mir leid.“
„Das muss es nicht. Es war ja nicht Ihre Schuld“, scherzt er.
Der alte Mann lacht, als wäre es der beste Witz gewesen, den er jemals gehört hatte.
„Vermissen Sie sie auch nach sieben Jahren noch?“ fragt der alte Mann. Eine ziemlich persönliche Frage.
„Natürlich, aber der Tod ist leider eben irreversibel.“
„Naja, Ansichtssache.“ Nun setzt der alte Mann sich auf die Bank neben Herrn Rose.
Im Gesicht von Herr Rose bildet sich ein großes Fragezeichen.
„Wie meinen sie das?“ Herr Rose wird wütend. „Ansichtssache? Was soll das denn heißen?“
„Beruhigen sie sich. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“
„Wer sind sie?“ Langsam verliert Herr Rose die Geduld.
„Wer ich bin, ist völlig irrelevant. Was wirklich wichtig ist, ist der Handel, den ich Ihnen anbieten kann.“ Der alte Mann redet so selbstsicher, als hätte er solche Gespräche schon tausende Male geführt.
„Sie sind doch verrückt. Haben sie eine Telefonnummer von
einem Pfleger bei sich?“ Herr Rose fängt an, sich Sorgen um den alten Mann zu machen.
„Ganz schön frech, junger Mann!“ Der alte Mann kriegt sich vor Lachen nicht mehr ein.
„Ich fasse mich kurz. Sie können ihre Frau wiedersehen, jedoch brauche ich von Ihnen Ihr Leben.“
Herr Rose hört schon gar nicht mehr zu und schickt sich an, die Polizei zu rufen, damit diese den verwirrten Rentner zurück zu seiner Familie bringt. Vielleicht ist er auch der Anführer einer Sekte?
Als Herr Rose endlich einen Polizisten an der Leitung hat,
ist der alte Mann spurlos verschwunden. Dabei konnte er doch nicht so schnell sein und in der kurzen Zeit quer über den ganzen Friedhof laufen?
Drei Tage später hatte Herr Rose der Gedanke von einem Wiedersehen mit seiner Ehefrau immer noch nicht losgelassen, sodass sich Gabriel Rose am 30. Dezember 2016 mit einem Seil in einer Luxussuite mitten in Manhattan erhängte.
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