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Das graue Ungeheuer

Maike Freudentheil

Schreibwerkstatt an der Stadtteilschule Lurup zum Thema "DU HAST DIE WAHL" - Sieger der kreativen Gruppe.


Um ganz ehrlich zu sein und auch vom Anfang an zu beginnen, auch wenn ich nicht mehr weiß, wann es angefangen hatte, wir waren Flüchtlinge. Oder Zivilisten. Die nannten uns irgendwie immer anders und konnten sich nicht so ganz entscheiden.

 

Emily sagte mir, dass Zivilisten das richtigere Wort für uns war. Wenn Emily das sagte, würde es schon stimmen.

 

Wir hatten uns in einer Hausruine niedergelassen. Momentan waren wir hier am Aufräumen. Überall lag Schutt herum und machte es schwer, von einem Raum in den anderen zu kommen.

 

Viktor erzählte mir gestern, wir würden uns in den Keller zum Schlafen einquartieren. Er meinte auch, dass das etwas Wichtiges war, denn das Haus hatte ein Loch im Dach und die oberen, nicht beschädigten Räume seien zu gefährlich. Er wollte auch nicht, dass wir dort hingingen.

 

Unsere Gruppe bestand mittlerweile aus fünf Leuten.

 

Viktor und Emily waren die Ältesten. Viktor war um die 30, sagte er mir einmal, als ich ihn danach gefragt hatte. Emily hingegen wollte mir ihr Alter nicht verraten. Sie wirkte älter als Viktor. Aber sie war hübsch, sie hatte ihre hellbraunen Haare mittlerweile kurz geschnitten, ihr Gesicht besaß feine Züge und wache blaue Augen. Viktor war blond, er kam mir manchmal vor wie eine Gestalt aus einem Märchenbuch, ein Prinz oder so. Dann waren da noch zwei weitere Kinder, Julia und Sascha. Julia war Viktors Tochter, Sascha hingegen kam aus Emilys und meiner Gruppe. Allerdings spielte ich nicht sonderlich häufig mit ihnen, auch wenn sie an sich ganz in Ordnung waren, bloß etwas laut manchmal.

 

Von oben ertönte ein hebelndes Knirschen, ein lautes Fluchen und ich war schon auf dem Weg nach oben. Es war Viktor, der diesen Lärm verursacht hatte.

 

Er hatte einen verschlossenen Schrank aufgebrochen. Die Tür war aus den Angeln gehoben worden, Viktor saß etwas verwirrt aussehend auf seinem Hosenboden.

 

„Alles in Ordnung?“, wollte ich wissen und half ihm auf. Zumindest versuchte ich es, die Tatsache, dass er doppelt so groß war wie ich, machte dieses Unterfangen nicht wirklich leichter.

 

„Ja.“ Viktor begann, im Schrank herumzuwühlen, und ich beschloss, ihm zu helfen. Allerdings fanden wir nicht viel.

 

Bloß eine Box mit drei Zigaretten, ein Familienfoto und einen Schlüsselbund voll mit Anhängern und ohne Schlüssel. Im unteren Fach lag ein Buch. Ich griff es mir.

 

Alice im Wunderland.

 

„Irina, du weißt, dass das gerade nicht wichtig ist?“

 

„Aber ich kann den Kleinen daraus vorlesen und selbst lesen üben! Emily hat gesagt, es wäre wichtig, lesen zu können!“

 

Er nickte, ich las aus seiner Mimik, dass es ihm eigentlich egal war, was ich mit diesem Buch tat.

 

„Okay, dann behalt es eben.“

 

Ich nickte bloß zurück. Wahrscheinlich hätte ich es eh behalten, egal was er mir erzählt hätte. Ich konnte lesen, allerdings nicht besonders gut. Das letzte Jahr über war ich nicht zur Schule gegangen, das Schulgebäude stand nur noch halb. An jenem Tag war ich zu Hause geblieben. Ich hatte gehört, dass die Bombe das Gebäude während der dritten Stunde getroffen hatte, als die Schüler in ihren Klassen waren, und ich fragte mich, was mit ihnen passiert war.

 

Emily hatte mir erzählt, die hinteren Klassenzimmer waren unversehrt und dass sich dort mittlerweile auch Leute einquartiert hatten.

 

Nun, ein Jahr keine Schule bedeutete ein Jahr lang nicht nennenswert gelesen. Aber ich hatte Bücher immer schon gern gemocht.

 

Bücher boten mir einen Ausweg. Einen Ausweg hier raus, raus aus den verstaubten Trümmern von mehreren Tausend zerbombten Leben.

 

Ich half Viktor noch ein wenig. Während wir uns so durch das alte Haus wühlten und nach nützlichen Dingen suchten, fragte ich mich selbst, wann da alles enden und wie ich enden würde. Wie meine Person werden würde. Wenn ich mir die Menschen hier so ansah, dann wurde ich mir immer sicherer, dass ich nicht so werden wollte.

 

Gegen Ende knackten Viktor und ich das Schloss zur Vorratskammer in einem der Kellerräume.

 

Das meiste hatte die Familie hier wohl mitgenommen, aber wir fanden noch ein paar Dosen mit irgendwas, was wohl mit Bohnen zu tun hatte.

 

Nachdem die Regierung das Gebiet und meine Heimatstadt hier evakuiert hatte, waren die meisten Menschen den Anweisungen gefolgt. Nur diejenigen, die es nicht geschafft hatten oder nicht schaffen wollten, waren hiergeblieben.

 

Tagsüber konnten wir das Haus auf keinen Fall verlassen. Es war laut Viktor und Emily viel zu gefährlich. Und nachts ging einer von ihnen Essen und anderes beschaffen, während der andere Wache hielt.

 

Ich wusste nicht, wo sie diese Dinge herbekamen. Sie sprachen nicht darüber.

 

Viktor trug mir auf, die Dosen zu Sascha und Emily nach oben zu bringen. Julia hatte sich wohl eine Grippe eingefangen, sie lag nun auf einem der drei provisorischen Betten.

 

Ich persönlich mochte den Keller erstaunlicherweise. Sonst war das nie mein Lieblingsplatz im Haus gewesen, jedoch vermittelte er nun Sicherheit vor allem, was oben so lauerte.

 

Viktor und Emily hatten den Ofen wieder zum Laufen gebracht. Aus Europaletten hatten wir uns Betten zusammengebaut. Emily hatte Sascha auf die Frage, was das denn bringen sollte und dass es sich genauso hart anfühlen würde wie der Boden, geantwortet, dass es das Holz war, was den Unterschied machte.

 

Sie sagte uns, das Holz würde atmen und leben, auch wenn es nicht mehr am Baum war. Mir war Holz lieber als Beton.

 

Während ich so durch die Flure des großen und ehemals sicherlich hübschen Hauses wanderte und Viktor von unten erneut derbe fluchen hörte, fielen mir die vielen Bilder an der Wand auf. Da wir hier erst vor kurzer Zeit eingezogen waren, hatte ich noch nicht viel mehr als die Küche, ein paar Flure und den Keller gesehen.

 

Das Haus war vermutlich schon eine Weile verlassen, denn die Bilder waren verstaubt und teilweise hinter dem Glas eingerissen. Die meisten Bilderrahmen hingen schief und das Glas hatte einzelne Sprünge und Risse. Einige Bilder waren auch ganz heruntergefallen und lagen in Scherben vor meinen kleinen Füßen.

 

Von der Wand lächelte mir eine braunhaarige Frau entgegen, auf ihrem Arm ein Baby. Auf einem anderen Bild war auch der Vater zu sehen. Ich wunderte mich, was sie jetzt wohl machten und wo sie waren. Ich erinnerte mich an das schiefe Namensschild aus Messing neben der Haustür, welches ich sah, als ich das Haus das erste Mal betreten hatte. Ich hatte Schwierigkeiten gehabt, es zu lesen, als wir gestern hier angekommen waren. Emily hatte es mir dann vorgelesen. Brodnizka. Ich fand den Namen hübsch. Familie Brodnizka begleitete mich, während ich so durch das Haus wanderte, über die Trümmer kletterte, die durch die Erschütterungen der fallenden Bomben auf die nahegelegene Stadt aus der Decke heruntergebrochen waren. Manchmal rieselte der Staub, wenn wieder eine fiel. Ich wusste nicht, warum sie meine Heimat bombardierten, warum dort immer noch Schüsse fielen. Ihr grollendes Echo erreichte uns bis hier. Die Stadt wirkte wie ein großes, graues Ungeheuer auf mich, welches sich auftürmte und schrie, nach den Flugzeugen griff, welche über es hinwegflogen, sie aber nie erreichte und mit seinen Klauen wieder heftig auf dem Boden aufschlug. Es ließ die Erde beben und brennen, schrie bis in den Abend hinein, bis die Soldaten wegen zu schlechter Sicht und dem Schnee aufhören mussten, es zu attackieren. Erst dann hörte das Gebrüll langsam auf. Seit es angefangen hatte zu schneien, war es noch trister geworden, kalt und nicht gerade einladend.

 

Meine Klamotten waren staubig, als ich in der Küche ankam. Strom hatten wir nur manchmal, das kam immer drauf an. Das Licht flackerte oft und wir waren nicht in der Lage, verderbliche Lebensmittel lange aufzubewahren. Doch um ganz ehrlich zu sein, eigentlich hielt sich hier gar nichts lange, weil wir alle immer viel zu hungrig waren.

 

Ich sah zu Emily hoch, die gerade die Sachen aus ihrem Rucksack auf dem Tisch ausgebreitet hatte, um sie zu sortieren und neu zu packen.

 

„Hier, das haben wir gefunden“, sagte ich und stellte die Konserven neben ihren Sachen auf den Tisch. Emily sah auf die Dosen und lächelte mich an.

 

„Das ist wundervoll, danke.“ Sie nahm sich die Dosen und räumte sie in einen Schrank, der offensichtlich unsere Vorratskammer war. Der Schrank war… nun ja… erschreckend leer.

 

„Gibt es heute noch was zu essen?“, wollte ich wissen.

 

Innerlich hatte ich mich schon auf ein Nein eingestellt.

 

„Leider nicht.“

 

Und da war das Nein. Aber es war schon in Ordnung. Ich hatte es eigentlich ja auch nicht anders erwartet.

 

„Was machen wir mit Julia?“, fragte ich, „Sie hat Fieber.“

 

Emily schien nicht gerade erfreut darüber zu sein, dass ich sie jetzt daran erinnerte.

 

„Ich spreche nachher mal mit Viktor darüber.“

 

Begeistert schien sie allerdings immer noch nicht. Ich wusste auch relativ gut, was der Grund dafür war. Viktor war nicht sonderlich an Dingen interessiert, die ihm direkt nichts brachten. Dazu zählten Bücher, alte Erinnerungsstücke aus dem Haus, Fotos, Briefe und so weiter. Ich fand das manchmal etwas gemein. Aber ich akzeptierte es. Was sollte ich auch anderes tun?

 

Das Problem hierbei war, Julia betraf ihn schon ziemlich direkt. Er würde wohl Felsen in Bewegung setzten, weil es ihn betraf. Das konnte für uns wohl recht unschön enden, wenn er wieder egoistisch wurde.

 

Emily sah das Buch in meinen Händen. „Hast du das gefunden?“, fragte sie mich und schien nun etwas besser gelaunt zu sein. Sascha meldete sich nun ebenfalls.

 

„Was ist das? Ein Buch? Zeig her!“ Er versuchte, mir das Buch aus der Hand zu reißen, aber ich hielt daran fest und zerrte es von ihm weg, es war mein Schatz, seine Finger hatten da gar nichts dran zu suchen.

 

„Nein! Das ist meins!“

 

Emily griff von oben zwischen uns und zog das Buch vorsichtig aus meinem verkrampften Klammergriff.

 

„Nicht streiten“, ermahnte sie uns. „Bücher sind zu wertvoll, als dass sie in einem Streit zerrissen werden sollten.“

 

„Aber es ist doch nur Papier!“ Sascha war erst fünf Jahre alt. Gut, da konnte man wenig intellektuelles Verständnis erwarten.

 

„Nein, es sind die Gedanken eines Menschen“, berichtigte Emily ihn. „Sie sind das, was ein Mensch hier lässt. Sie sind der Grund, warum wir heute so viel wissen, und der Grund, warum wir heute die Gedanken eines Menschen lesen und aus ihnen lernen können, auch wenn dieser Mensch vor Jahrhunderten gelebt hat. Bücher sind auch der Grund, warum wir nicht immer alles neu erfinden müssen.“

 

Ich bekam leuchtende Augen. Man konnte also Dinge hier lassen, wenn man selbst die Erde verlassen musste.

 

„Lies uns vor!“, bat ich, hängte mich um ihre Taille und hielt mich an ihr fest wie an einem Rettungsring. Doch letztendlich war sie genau das. Emily war etwas Rettendes für mich. Sie hielt mich am Leben, mit Essen, welches sie besorgte, mit Medikamenten, sollte ich krank werden, aber am allermeisten mit Worten.

 

Sie schenkte Hoffnung. In diesem ganzen Haufen aus grauem Stein, zerstörten Träumen, Schnee und in dieser massiven Staubschicht, die einfach überall war und überall hinkroch, war sie ein Licht.

 

Mich zog es ständig zu ihr und ich wollte nicht, dass ihr etwas passierte.

 

Emily setzte sich auf einen Stuhl, das Buch auf ihrem Schoß. Sie fing an, daraus vorzulesen und bald hatte selbst Sascha begriffen, dass Bücher eben nicht nur ein Haufen Papier und ein paar Tropfen schwarze Tinte waren.

 

Gegen Abend wurden wir Kinder in den Keller geschickt. Julias Zustand hatte sich verschlimmert, ihr Fieber war noch höher und sie schwankte zwischen heftigem Zittern und Ruhigliegen wie in Stein. Viktors Miene war finster. Immerhin machte er sich Sorgen um seine Tochter.

 

Sascha und ich waren zusammen mit Emily gekommen und Julia mit Viktor. Sie war wohl acht oder neun Jahre alt, damit war ich mit fast elf Jahren die Älteste. Unsere Gruppe hatte sich vor ungefähr einem Monat zusammengefunden. Es war nicht anders gegangen, Viktor war in Schwierigkeiten gewesen und wir eben auch. Am Anfang herrschte großes Misstrauen, Emily hatte sich schlichtweg geweigert, mit Viktor in einem Raum zu schlafen oder Sascha und mich mit ihm in einem Raum sein zu lassen, wenn sie nicht dabei war. Eigentlich hatte Emily in dieser Zeitspanne nur sehr wenig geschlafen, sie war immer auf der Hut gewesen und war nie unvorsichtig geworden. Ich hatte zu der Zeit gelernt, dass Männer gefährlich sein konnten, wenn man sie nicht kannte. Emily hatte mir den Grund dafür nur sehr schwammig erklärt und meinte, dass sie einem wehtun könnten. Ich war der Meinung, ich brauchte den genauen Grund nicht zu wissen, wie so vieles anderes nicht, ich musste nur wissen, dass sie gefährlich sein konnten. Solange das gegeben war, war doch alles gut.

 

Dadurch, dass ich die Älteste war, kümmerte ich mich um die Kleinen, wenn Emily oder Viktor grade nicht konnten. Sie mussten oft in der Nacht gehen. Normalerweise blieb immer einer hier.

 

Jedoch ab und zu kam es vor, dass beide gingen.

 

Die Gründe dafür waren mir nicht mal klar. Oftmals hatte ich einfach keine Ahnung, wo die beiden waren und wann sie wiederkommen würden. Doch mein Vertrauen in Emily war immer noch unerschüttert. Natürlich würde sie zurückkommen, jedes Mal.

 

Sie hatte es immer getan, ich sah keinen Grund, warum sie es plötzlich nicht mehr tun sollte.

 

Ich hörte bloß Wortfetzen von oben, von denen ich dann auch nur die Hälfte verstand.

 

Es ging um Julia, zweifellos ging es um Julia, Viktor würde sich nie, niemals auf etwas anderes konzentrieren, wenn es um seine Tochter ging.

 

Ich konnte im Moment rein gar nichts tun. Sascha saß neben mir auf der Holzpalette, Julia lag hinter uns, nicht sprechend, sich nicht mehr bewegend, sie lag einfach nur da.

 

Ich wusste nicht ganz, wie ich damit umgehen sollte, ich hatte bis jetzt noch nie in so einer Situation gesteckt. Ich hörte Emilys Schritte auf der staubigen Steintreppe. Viktor schien oben noch etwas vor sich hin zu grummeln. Sie kniete sich vor die Palette.

 

„Ich werde wiederkommen, bevor die Sonne aufgeht“, sagte sie leise, wahrscheinlich nahm sie an, dass Julia schlief. Ich wusste nicht, ob sie das tat. Sie bewegte sich eben einfach nicht.

 

„Wann genau?“

 

„Selbst wenn ich dir jetzt eine Uhrzeit nennen würde, du hättest keine Uhr, um zu sehen, ob ich tatsächlich pünktlich komme.“

 

„Aber du bist doch Lehrerin, die kommen doch eh nie zu spät“, behauptete ich. Bis jetzt hatte ich noch nie einen Lehrer zu spät kommen sehen. Sie waren aus irgendwelchen unbegreiflichen Gründen immer pünktlich.

 

„Dann will ich meinen Kollegen mal keine Schande machen“, Emily lächelte mich an, dann strich sie Sascha noch einmal durch die blonden Haare.

 

„Ich gucke mal, ob ich was für euch beide finde…“

 

„Was brauchen wir denn eigentlich…?“, fragte Sascha.

 

Er war müde, das war ziemlich offensichtlich, aber ich bekam ihn nicht dazu zu schlafen.

 

Eigentlich wartete ich nur darauf, dass ihm die Augen zufielen und er nicht mehr antwortete.

 

„Medizin.“

 

„Wo bekommt ihr die her?“

 

„Aus dem Krankenhaus.“

 

„Ist das denn noch bewohnt?“, fragte ich verwundert.

 

„Ich weiß, dass ein paar Ärzte noch dort sind und die restlichen Dinge dort verwalten. Viktor hat mir erzählt, dass sie an einzelne Leute auch Medikamente rausgeben, solange sie gute Gründe dafür haben.“

 

Ich wollte gerade etwas sagen, doch Sascha unterbrach mich.

 

„Wenn Viktor das weiß… Warum geht er dann nicht selbst hin?“

 

Emily sah zu ihm, sie schwieg eine Weile. Ich wurde sofort misstrauisch. Viktor war größer und stärker als Emily, er war wie ein Prinz aus einem Märchen und die Prinzen sorgten doch für die Prinzessinnen und nicht anders herum.

 

„Ich nehme an, er will bei Julia bleiben“, antwortete Emily schließlich, lächelte sorglos und verwuschelte Sascha nun die Haare. „Das kann ihm keiner verdenken. Er ist schließlich ihr Vater.“

 

Doch mein angespanntes Misstrauen blieb. Ich wagte jedoch nicht, etwas zu erwidern. Ich nickte bloß. Emily strich nun auch mir über den Kopf.

 

„Mach dir keine Sorgen, Irina“, sagte sie leise. „Ich bin pünktlich zurück. Oh… Deine Haare sind ganz schön lang geworden.“

 

„Ich will, dass du sie schneidest“, verlangte ich plötzlich. Eigentlich hatte ich mir über meine Haare noch nie wirklich Gedanken gemacht. Aber sie hatte Recht, sie waren wirklich lang geworden.

 

Noch ein paar Zentimeter mehr und sie würden mir über die Taille gehen.

 

„Aber warum? Das hat bestimmt lange gedauert, sie so lang zu bekommen.“

 

„Du hast auch kurze. Außerdem sieht das praktisch aus“, entschied ich.

 

„Wenn du das möchtest, schneide ich sie dir später. Schlaft gut. Und passt aufeinander auf.“

 

Damit ging sie zurück zur Treppe. Ich wollte nicht, dass sie ging. Aber ich konnte nichts dagegen tun, schon wieder. Ich konnte nur beobachten, wie sie uns verließ, die Treppe hochging und ihren Rucksack nahm. Die Haustür klickte einige Zeit später, als Emily sie schloss.

 

Ich sah mich um. Die Wände waren aus grobem Stein, genau wie die Treppe, es war staubig hier, aber direkt neben den provisorischen Betten war der Holzofen. Momentan knackte Holz drin, wenn sich die Flammen dieses holten und zerfraßen, uns damit aber ein bisschen Wärme gaben.

 

Ich wartete, bis Sascha eingeschlafen war. Dann stand ich auf, fing an, durch die Kellerräume zu sehen und sie zu untersuchen. Ich fand eine Werkstatt, sie war auch ziemlich eingestaubt. Als ich auf die grobe Werkbank an der Wand kletterte, auf der Metallspäne und einzelne Notizen lagen, und die Schränke öffnete, quollen mir Werkzeuge, Holz und Nägel entgegen. Ich fing an, in allen Dingen hier einen Sinn zu sehen und das Holz auszuräumen. Man konnte damit heizen. Man konnte damit heizen, anstatt Bücher zu nehmen. Das hielt wahrscheinlich auch länger warm. Nachdem ich den Inhalt des Schrankes auf der Werkbank ausgebreitet hatte, sah ich auf die Schraubenschlüssel, den Hammer und die Nägel hinunter, daneben lag nun ein Kreuzschraubenzieher. Er war leicht angerostet, aber die Spitze glänzte immer noch metallisch. Ich fühlte mich mir selbst fremd, als ich daran dachte, aber wenn es passieren sollte, dass einfach Leute hier hiereinkamen, unsere Sachen stahlen und uns womöglich auch noch wehtun wollten… Die Haut eines Menschen war dünn.

 

Die Haut am Hals eines Menschen war so torhaft dünn.

 

Die Dinge, die ich bereits gesehen hatte, waren ebenfalls blutig, die meisten hatten keinerlei Probleme damit, anderen wehzutun, um selbst zu überleben.

 

Warum sollte ich damit dann ein Problem haben? Ich sah plötzlich keinen Sinn mehr darin. Sie würden nicht zögern, mir etwas anzutun, Emily oder Sascha etwas anzutun. Wenn ich also zögerte, uns zu verteidigen, waren wir wohl geliefert. Sie zögerten nicht.

Ich wiederholte den Satz wieder und wieder in meinem Kopf, während ich von der Werkbank kletterte, dann sammelte ich das Holz zusammen, griff den Schraubenzieher und verzog mich wieder in den größten Kellerraum, in dem wir schliefen.

 

Ich war auch müde, also legte ich das Holz auf die Sammelstelle neben dem Ofen und legte mich auf mein Bett.

 

Den Schraubenzieher fest umklammert und halb unter dem dünnen Kissen versteckt, die verschlissene Decke über meinen kleinen Körper gelegt.

 

Ich wachte auf, als ich langsame Schritte auf der Treppe hörte. Als ich mich aufsetzte, sah ich Emily ins Gesicht, die dort auf der Treppe stand. Ich sprang hoch und lief zu ihr. „Alles okay?!“

 

Ihre Haare waren mit Dreck und Blut verklebt, auch ihre Kleidung war blutig. Ich fing an zu zittern, der pure Terror kroch in mir hoch, sofort ging ich vom Schlimmsten aus. Das durfte nicht sein, das konnte nicht passieren!

 

„Ja, alles in Ordnung. Das ist nicht mein Blut“, antwortete sie nur leise und ich hatte das Bedürfnis, erleichtert auf den Boden zu sinken und zu weinen.

 

Es dauerte ein bisschen, bis ich merkte, was ihre Aussage bedeutete. Wenn es nicht ihr Blut war, von wem war es dann?

 

Ich fragte nicht. Ich fragte einfach nicht, Emily sah vollkommen fertig aus. Sie war bleich wie eine Wand, ihre Mimik war nicht richtig zu deuten und wenn man ihr in die Augen sah, konnte man etwas erkennen, was in mir eine merkwürdige Mischung aus Mitgefühl und Angst auslöste.

 

Je länger ich Emily ansah, ihr Gesicht, ihre Kleidung und diesen Blick in ihren Augen, desto klarer wurde mir, was sie getan haben musste.

 

Ich spürte, wie sich mir der Magen umdrehte, doch ich blieb stehen, wo ich war.

 

„Hast du die Medikamente?“ Es war Viktors Stimme, die das fragte.

 

Emilys blaue Augen zuckten von meinem Gesicht hoch. Ihre Mimik änderte sich, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, ihre Stirn legte sich in Falten und sie schien kurz davor, die Zähne zu zeigen wie ein Hund, der bedroht wird.

 

„Du dreckiges Miststück!“ fauchte sie.

 

„Emily!“ Ich zog an ihrer Jacke. „Das sagt man nicht!“ Doch sie ließ sich nicht beruhigen.

 

„DU hast mir gesagt, sie würden freundlich sein!“

 

„Waren sie das nicht?“

 

„Nein, waren die nicht!“ Emily warf ihm eine Packung mit Medizin vor die Füße. „Hier!“

 

„Wenigstens dazu warst du fähig.“ Viktor hob der Päckchen auf.

 

„WIE BITTE?!“

Ich versuchte, Emily irgendwie zu beruhigen, ich zog an ihrer blutigen Jacke, kletterte halb an ihr hoch, doch sie tobte weiter und weiter. Sascha wachte auf, sein Blick verwirrt und sogar Julia bewegte sich etwas.

 

„Glaub ja nicht, ich hätte das für dich getan!“

 

Ich wusste, was sie meinte. Sie war nicht hinausgegangen und hatte wahrscheinlich jemanden umgebracht um Viktor zu helfen. Sie hatte das getan, weil sie Julia unmöglich mit Schüttelfrost und 40°C Fieber dort liegen sehen konnte.

 

Aber jetzt machte es auch Sinn, warum Viktor nicht selbst gegangen war.

 

„Emily, bitte…,“ wimmerte ich und klammerte mich an sie.

 

Ich fühlte mich hilflos und unfähig, irgendwas zu tun. Doch Emily beruhigte sich langsam. Ihre Wut verflog. Sie sah zu Sascha und dann zu mir, legte ihre Arme um mich und strich mir durch die Haare.

 

„Wollen wir sie schneiden?“, fragte sie, ihre Stimme brach weg. Sie klang, als wenn sie kurz vorm Weinen wäre. Ich sah meine Pflicht darin, das zu verhindern.

 

„Ja, bitte…“

 

Keiner verließ den Keller, trotz der dicken Luft zwischen den beiden Erwachsenen. Oben war es mittlerweile einfach zu kalt als dass sich irgendwer freiwillig dorthin begeben würde. Julia bekam ihre Medikamente und etwas zu essen. Auch Sascha und ich bekamen etwas, ich war froh, dass Emily uns etwas gab. Allerdings hatte sie die Tatsache, dass Viktor auch noch da war, getrost ignoriert und ihm nichts mitgebracht, so dass er jetzt alleine nach oben laufen musste, um sich etwas zu holen.

 

In der Zeit, in der er weg war, sah ich zu Emily. Sascha kroch zu uns, die Decke immer noch um seine Schultern gewickelt. „Was ist passiert?“, fragte er.

 

„Ah… Da waren ein paar Leute, die nicht einverstanden damit waren, dass ich auf ihrem Grundstück war. Sie haben mich beim Klauen erwischt.“ Emily klang nicht begeistert. „Am Ende blieb mir keine… keine Wahl, versteht ihr?“

 

„Du hast dich nur gewehrt“, sagte ich.

 

Emily strich durch meine Haare. „Wie kurz möchtest du sie?“

 

„So wie du.“

 

„Gut.“

 

Emily machte mir einen lockeren Zopf, nahm die Schere, die neben ihr lag und schnitt meine braunen Haare über dem Haargummi ab.

 

„Und ab.“ Sie lächelte und zeigte mir die Haare.

 

„Danke…“ Ich fand den Gedanken, kurze Haare zu haben, schön.

 

Emily schnitt mir noch etwas länger an den Haaren herum, am Ende seufzte sie.

 

„Ich fürchte, sie sind schief…“ Sie klang schuldbewusst. Aber ich machte mir nichts daraus. Es musste ihr wirklich nicht leidtun.

„Schon gut, es sind ja auch nur Haare. Danke, dass du sie geschnitten hast.“

 

„Kein Problem, ich helfe dir gerne.“

 

Der Tag verlief relativ ruhig. Viktor und Emily ignorierten sich weitestgehend. Beide schliefen viel. Während Emily am Schafen war, saßen Sascha und ich neben ihr, ein bisschen wie Schäferhunde.

 

Ich wollte, dass sie ruhig schlief. Sie hatte genug durchgemacht für heute. Und von Viktor kam kein Funken Mitgefühl oder Verständnis.

 

Gegen Abend klopfte es oben an der Tür, Rufe schollen hier herunter. Viktor grummelte, stand auf und ging zur Tür. Es war schon dunkel draußen.

 

Ich vermutete Händler. Sie kamen manchmal, um Medizin und Essen gegen Zigaretten oder anderes zu tauschen und waren ziemlich nützlich.

 

Von oben wurden die Rufe lauter. Ich wurde misstrauisch. Sie schrien sonst nicht so laut. Ich rüttelte an Emilys Schulter.

 

„Emily! Emily! Hey, wach auf… Irgendwas stimmt hier nicht…!“

 

Emily schlug die Augen auf, sah etwas verwirrt und verwundert zu mir hoch. Von oben erschollen die ersten Kampfgeräusche. Dumpfe Schläge von Körper auf Holz, Rufe und Geschrei.

 

„Emily! Wir werden überfallen!“, warnte ich. Ich sprang auf und griff mir meine Sachen. Emily sprang auch auf ihre Beine, zerrte Sascha mit hoch. Sie sah zu Julia.

 

Doch ich wusste, was in Emilys Kopf vorging. Zwei Kinder mit durchzukriegen, war schwer genug. Ein fremdes, noch dazu ein krankes Kind mitzunehmen, war wie sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben.

 

„Wir gehen“, sagte Emily. „Wir nehmen die Hintertür. Beeilt euch!“

 

Ich sah etwas länger auf Julia.

 

„Okay“, bestätigte ich. Ich sah, wie leid es Emily tat, aber sie war immer noch sauer auf Viktor. Wahrscheinlich war das auch der Hauptgrund, warum sie ihm jetzt nicht half.

 

Ich griff Saschas Hand und zog ihn mit. „Kommt. Kommt!“

 

Wir rauschten die Treppe nach oben, Emily griff sich ihren Rucksack, welcher noch im Flur gestanden hatte. Viktor rangelte noch vor der Haustür mit den vier anderen Männern herum. Emily zog uns einfach mit. Sie achtete nicht auf ihn. Eigentlich achtete sie auf keinen.

 

Ich sah die Angst in ihrem Gesicht, ihre weit aufgerissenen, blauen Augen und diesen Ausdruck, welcher mir einen Schauder über den Rücken jagte.

 

Die Männer wurden unweigerlich auf uns aufmerksam, als wir den Flur entlang flohen, zur Hintertür hinaus und in den feinen Puderschnee, der durch die Nachtluft wirbelte. Sofort war mir kalt, die Spuren, die wir hinterließen, waren schon bald wieder zugeschneit. Wir liefen und liefen, aus dem Garten hinaus und über die graue, verschneite Straße. Es war eiskalt, die Luft fühlte sich an, als würde sie durch mein Gesicht und jedes Stückchen Haut schneiden, was nicht bedeckt war und bald half nicht mal mehr Kleidung, um mich gegen diese eisige Kälte zu schützen.

 

Die Rufe folgten uns, Emily griff meine Hand und wurde schneller. „Komm schon!“

 

„Ich kann nicht mehr!“, maulte Sascha und auch ich war am Keuchen. „Ist mir egal, weiter!“, fauchte sie.

 

Sie wollte uns wirklich retten, Emily wollte uns nicht zurücklassen. Sie wollte nicht, ich sah es in ihren Augen. Also strengte ich mich an, zwang meine mittlerweile müden Beine weiter und weiter. Ich wusste ganz genau, dass keiner von uns einen Plan hatte, keiner von uns wusste, wo wir eigentlich hinrennen sollten. Nach einer Weile begann Sascha hemmungslos zu heulen. „Ich kann nicht mehr! Ich will nach Hause!“

 

Emily sah sich in Panik um. „Da, das sieht leer aus.“ Ich zeigte auf ein Gebäude. Es war genauso grau aus wie alle anderen, mit Schnee bedeckt und an der Fassade leicht kaputt.

 

Emily nickte. „Dann los.“

 

Das Haus wurde unsere neue Zuflucht. Zumindest temporär.

 

Wir begannen, genau das zu tun, was wir in dem vorherigen Haus auch getan hatten. Wir räumten uns einen Raum frei und legten dort alles Weiche aus, was wir finden konnten, suchten das Haus nach nützlichen Sachen durch und sahen nach alternativen Fluchtwegen.

 

Mir kam es vor, als hätte ich das mittlerweile schon mehrere tausend Mal gemacht.

 

„Emily? Was machen wir jetzt?“, fragte ich sie.

 

„Du gehst in den Keller und suchst nach Lebensmitteln. Sascha und ich kümmern uns hier drum.“ Sie lächelte mich an, obwohl sie ziemlich fertig aussah. Sie und Sascha versuchten gerade, Feuer zu machen. Es war kalt und wir würden erfrieren, wenn wir das nicht machten. Und dieses Haus hatte anscheinend keinen Ofen.

 

Ich nickte und folgte ihren Anweisungen.

 

Der Keller sah erstmal genauso aus wie alle anderen Keller, grau und dunkel. Alles war grau. Ich freute mich auf den Frühling, wenn endlich die Sonne wieder durch die Fenster schien und die Bäume wieder Blätter bekamen.

 

Ich träumte so ein wenig vor mich hin, bis ich einen ohrenbetäubenden Knall hörte. Die Wände zitterten, die Fenster brachen und Staub rieselte von der Decke. Ich war wie zu Eis erstarrt. Hatten sie eine Bombe hier in der Nähe fallen gelassen?

 

Ich brauchte einige Sekunden, bis ich wieder hören konnte. Von oben ertönte Geschrei, Wimmern und Weinen. Sofort hastete ich nach oben, die Treppe hinauf. Die Wände des Raumes, in dem wir bleiben wollten, waren schwarz. Emily und Sascha lagen allerdings nicht in dem Raum, sondern einen weiter, die Rucksäcke neben sich. Die Decken waren allerdings nicht mehr zu retten. Der Raum brannte nicht. Es war einfach nur alles verkohlt. Durch die Tür waren die Flammen auf die beiden übergesprungen. Allerdings waren beide lebendig.

 

Ich rauschte zu ihnen, große Verbrennungen hatten sich auf Emilys Rücken und Armen ausgebreitet, ihre Haare sahen mehr schwarz aus als hellbraun. Sascha war nicht ganz so schlimm getroffen worden, soweit wie ich es erkennen konnte.

 

Ich ertrank immer noch in Verwirrung. Eine Bombe hätte das ganze Haus weggerissen und ich wäre nicht unverletzt geblieben.

 

Meine Panik stieg weiter an, mein Herz raste, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich fing mich nach einer Weile, jedoch das Leid der beiden mit anzusehen, war unerträglich.

 

„Emily! Was soll ich machen?!“ Ich kniete neben sie, hilflos und verwirrt.

 

Doch ich bekam keine Antwort. Emilys Stimme verstummte. Ich begann ebenfalls zu weinen, genau wie Sascha, doch war mein Schmerz ein anderer. Aber das gleichmäßige Heben und Senken ihrer Brust gab mir neue Hoffnung. Ich griff sie und zog sie von Sascha runter.

 

„Ich hole Schnee! Warte eine Sekunde!“

 

Schnee war kalt, richtig? Schnee war wie kaltes Wasser, also musste er helfen.

 

Meine Finger froren halb ab, jedes Mal, wenn ich nach unten rannte und eine neue Ladung Schnee holte, um sie auf Emilys Rücken zu legen und auf Saschas Hände, Unterarme und Brust. Ich hatte sonst keine Ahnung, was ich tun sollte.

 

So lief ich raus und wieder rein, die Treppe hoch und runter, wieder und wieder und wieder, bis ich einfach nicht mehr konnte und neben Sascha und Emily auf den Boden sank.

 

Sascha hatte aufgehört zu weinen. Er lag einfach nur da in seinem Elend und bewegte sich nicht. Ich fühlte mich schrecklich. Meine Sorge um die beiden brachte mich fast um.

 

Schlaf fand ich diese Nacht keinen mehr. Nicht eine Sekunde wagte ich es die Augen zu- zumachen. Den Schraubenzieher hielt ich fest in meiner Hand, schreckliche Vorstellungen tanzten in meinem Kopf herum.

 

Es war auch noch eiskalt und ich hatte keine Ahnung, ob ich den Morgen überhaupt erleben würde. Was ich dann allerdings doch tat. Auch die beiden anderen hatten es geschafft. Emily war wieder wach, Sascha schlief noch.

 

Emily sah zu mir hoch, stillschweigend, sie sah mich einfach nur an und sagte eine Weile lang nichts. Dann, endlich machte sie den Mund auf. Ich war erleichtert, ihre Stimme zu hören.

 

„Ich habe Verbände im Rucksack. Ich möchte, dass du sie Sascha anlegst und ihn mitnimmst.“

 

„Wohin?“

 

„Ein Dorf weiter. Dort ist weit mehr zu holen als hier. Geht dort hin, sucht euch ein Haus und seid auf der Hut.“

 

„Was ist mit dir?“

 

„Ich werde hierbleiben und… später nachkommen.“

 

Meine Stirn zog Falten. Was dachte sie eigentlich, wie alt ich war, dass ich jetzt nicht erkennen würde, dass sie mich anlog? Ich war keine fünf mehr. Sascha hätte ihr das vielleicht abgekauft.

 

„Lügnerin! Lügnerin!“

 

„Irina, bitte!“

 

„Ich lass dich hier doch nicht alleine!“, fauchte ich.

 

„Die Verbände reichen nicht für uns beide, weißt du, was ich meine?“

 

Ich schwieg eine Weile. Der Gedanke daran, Emily zu verlieren, machte mir Angst und er machte mich traurig.

 

„Wir haben Schnee…“

 

„Das ändert nichts an der Infektionsgefahr.“

 

„Was ist überhaupt passiert…?“, versuchte ich etwas abzulenken.

 

„Wir haben wohl eine offene Gasleitung erwischt… Das ist meiner Unvorsichtigkeit zuzuschreiben, weder Sascha noch du tragt die Schuld dafür.“

 

Emilys Augen waren glasig, ihr Gesicht noch gezeichnet von den Schmerzen, die sie hatte.

 

Doch ich war weder bereit, Emily hier zurückzulassen, noch war ich bereit, Sascha hierzulassen. Jedoch ahnte ich, dass mein Wunschtraum nicht funktionieren würde. Die Infektionsgefahr, von der Emily sprach, war ein großes Risiko.

 

Nun saß ich da also.

 

In der eisigen Kälte, an der Wand lehnend, Emily ansehend und verzweifelt rätselnd, ob es nicht doch eine andere Lösung gab.

 

Aber wir alle drei würden zu langsam sein. Wir würden es nicht schaffen. Ich konnte nicht zwei Verletzte versorgen und nicht alleine Essen beschaffen und Wache halten, konnte nicht alleine alles in Schuss halten. Schlichtweg unmöglich.

 

Also hatte ich nun das Vergnügen, mich zwischen Emily und Sascha zu entscheiden.

 

Sascha war ein Kind, so wie ich, wir hatten noch alles vor uns. Aber was sollte ich ohne Emily machen? Ich konnte sie nicht verlieren, ich durfte nicht. Ich wollte nicht, dass sie hierblieb.

 

Sascha hier sterben zu lassen, wäre unmoralisch, Emily zu retten, wäre egoistisch und falsch.

 

Und doch. Moral war doch nur das, was man selber als Moral annahm.

 

Selbst Gesetze waren nur festgelegt, weil jemand glaubte, sie wären moralisch. Mittlerweile herrschten hier doch ganz andere Gesetze, die vielleicht sogar auch moralisch waren.

 

Ich begann, Moral und Egoismus zu verdrehen – doch letztendlich baute ich nur auf meinen eigenen Willen, was alle anderen Gesetzgeber auch getan hatten.

 

Ich griff nach Emilys Rucksack und zog die Verbände heraus. In ihren Augen sah man, dass das, was sie gesagt hatte, nicht ihrer Meinung entsprach. Vielleicht der Meinung, die sie in einer friedlichen Situation vertreten hätte, möglicherweise vor ihrer Klasse in einer Schule, wo keine Bomben fielen und niemand gezwungen war, solche Entscheidungen zu treffen.

 

Aber nicht ihre menschlich natürliche Meinung.

 

Ihre Augen flehten mich förmlich an, meinem Egoismus nachzugeben und sie zu retten.

 

Ich konnte ihr das nicht verdenken.

 

Ich würde genau dasselbe tun. Wie jeder andere Mensch auch. Es war menschlich. Also konnte es ja nicht falsch sein, richtig. Und mein Egoismus war ebenfalls menschlich. Ich brauchte sie, Sascha würde mir wenig bringen. Seelisch und in den Umständen, in denen wir grade zu leben hatten, war Emily mir eine größere Hilfe.

 

Ich erwischte mich dabei, dass es mir nicht mal richtig leid tat um den kleinen Fünfjährigen neben mir, der grade schlief und in seinem Schlaf zitterte. Zwar wusste ich, dass mich jeder verurteilen würde.

 

Allerdings war keiner von denen, die mich verurteilen würden, dabei gewesen und keiner hatte in meinen Schuhen gehen müssen.

„Knie dich hin und mach die Arme hoch, Emily… Ich mach dir das eben…“