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Draußen und Drinnen

Liv Andersson

Schreibworkshop im Brakula - Herbstferien 2017


Vor unserem Fenster dämmert es langsam. So langsam, dass ich oft stundenlang davor sitze und beobachte, wie sich die Sonne über dem trüben Wasser zögernd zurückzieht, so als wüsste sie nicht recht wohin. Mit ihr die Menschen. Der Abend entledigt sich ihrer, sammelt sie und kehrt sie auf wie ein Straßenfeger den Dreck. Erst dann bricht die Nacht hervor mit ihrer Schwärze und treibt das Licht in die Fenster unseres Wohnblockes.

 

Jetzt. Er steht auf. Ich weiß es. Er stülpt sich einen Pullover über den Kopf, drückt gemächlich seine Zigarette aus, geht die wenigen Schritte durch den Flur. Eins, zwei, drei, vier…Es klopft. Eins, zwei…Es hämmert. Es schlägt. Eins, zwei, drei, vier…Ich öffne.

 

„Kommst du?“ Nicken.

 

Er wartet im Türrahmen. Manchmal kommt es mir so vor, als sei er fast doppelt so groß wie ich. Wie groß er wirklich ist, weiß ich nicht, aber ich muss den Kopf in den Nacken legen, um sein Gesicht zu sehen. Seine Augenlider hängen schwer, vielleicht, weil er traurig, oder müde, oder beides ist. Meine Blicke verfehlen ihn, zielen vorbei. Wir setzten uns.

 

Am Tisch klirren Suppenlöffel. Er brummelt, als ich den Fleck aufwische, den ich eben auf dem Tisch hinterlassen habe. Dann schweigen wir und essen, dafür sei ein Tisch schließlich da, sagt er manchmal, zum Essen. Heute sagt er gar nichts, löffelt nur und schweigt und trinkt. Ich glaube, in seinen Gesichtsfalten hat sich Staub gesammelt, Staub von meiner Fensterbank, oder den vereinzelten Bildern auf dem Regal. Woher sonst das Graue? Vielleicht auch von den Fassaden unserer Umgebung, von dem Rauch der Fabriken, der färbt womöglich auf Gemüter ab.

 

„Was?“

 

„Nichts.“

 

Hin und wieder wird das Schweigen von einem „pfft“ unterbrochen. Er öffnet eine Bierflasche, leert sie, öffnet die nächste. Die Deckel bleiben auf dem Boden liegen. Gestern habe ich sie gezählt, es waren 12. 12 Stunden noch bis zum Weckerklingeln. Wir stapeln die Teller und lassen sie in der Spüle stehen.

 

„Gute Nacht.“

 

„Hmm“

 

„Wie bitte?“

 

„Gute Nacht.“

 

Meine Nächte sind nicht gut.

 

Als ich aufwache, flutet grelles Licht mein Zimmer. Auf dem Parkplatz neben dem Hafenbecken verfängt es sich in Benzinpfützen, verweilt kurz und kehrt wieder zurück durch die Fensterscheiben. Er ist weg. Als Erinnerung steht noch der Tabakgeruch in der Küche, so wie Gedankenfetzen, die durch Wohnungsluft ziehen. Ich lasse die Haustür ins Schloss fallen. Im Treppenhaus riecht es neutral, nach niemandem und nichts mehr. Auf dem Weg nach unten grüßt mich Frau Bernhardt. Sie wohnt unter uns, hat einen Hund und immer zugezogene Gardinen. Oft fragt sie nach ihm, wie es meinem Vater gehe, was er gerade mache. Ihm gehe es gut, antworte ich dann. Oder bestens. Oder fabelhaft. Bei Anderen habe ich es auch schon gehört. Es ist das Sicherste, so zu antworten.

Frau Bernhardt zahlt mir Geld dafür, dass ich mit ihrem Hund Ben gehe, selbst geht sie nie mit ihm. Vor ihrer Haustür bleibt sie stehen.

 

„Wieso bist du nicht in der Schule, Hannah?“

 

„Ich war schon dort.“

 

Neulich hat sie angefangen, sich auch für mich zu interessieren. Zum Glück begnügt sich mit der Antwort, öffnet die Tür einen Spalt breit und verschwindet. Ben und ich spazieren über den Parkplatz, über das Kopfsteinpflaster. Sein Fell ist braun-weiß und gleicht an einigen Stellen eher einem Knäuel, als Haaren. Wir überqueren die Straße, dann die Wiese, die matt zwischen den Schnellstraßen und Lagerhallen liegt. Dahinter trudeln vereinzelt Passanten auf dem Bürgersteig. In einem heruntergekommenen Kiosk  stehen Zigaretten und Kaugummis und Kaugummizigaretten. Gegenüber singt ein Mann. Komisch. Ich habe ihn noch nie gesehen, dabei gehe ich doch jeden Tag die gleiche Runde.

 

Kleingeld tropft in seinen Hut, den er vom Kopf genommen und aufgestellt hat, falls er überhaupt einmal auf seinem Kopf gewesen ist. Es fängt an zu regnen. Schon ist seine Erscheinung dabei, sich wieder ins Unterbewusstsein zu verkriechen, dann … Stopp. War das ein Blinzeln? Ein Augenzwinkern?

 

Ja, er zwinkert mir zu. Ben bellt.

 

Ich lasse ein 5 Cent Stück aus meiner Faust gleiten, es landet zwischen den anderen Geldstücken im Hut. 10, 20, 50 Cent…

 

„Tut mir leid, ich hatte nicht mehr.“

 

„Schon gut.“

 

„Normalerweise bekomme ich Geld dafür, dass ich mit Ben gehe, aber heute hatte Frau Bernhardt nichts, sie gibt es mir morgen. Manchmal ist sie ein bisschen chaotisch, aber eigentlich nett. Sie grüßt mich oft im Treppenhaus.“

 

„Aha.“ Er lacht.

 

Röte steigt mir ins Gesicht. Ich beschließe, wieder zu schweigen.

 

Zu Hause duscht er. Wasserdampf dringt wie Nebelschwaden durch den Spalt unter der Badezimmertür und hinterlässt eine Feuchte, die über Nacht bleibt. Vorsichtig klettere ich die Leiter zu meinem Bett herauf. Stufe für Stufe, mit kleinen Pausen dazwischen. Es ist ein Doppelbett. Wir haben es von den ehemaligen Besitzern der Wohnung übernommen, damals schliefen hier wohl zwei Leute. Jetzt steht der Platz unten leer. Wer will schon am Boden schlafen? Eigentlich, findet er, sollte ich gar nicht mehr wach sein, ich erkenne es and dem Klicken des Schlüssels im Türschloss, das schon vor knapp einer Stunde erklang.

 

Unter seinen nackten Füßen knarren die Dielen. Er nimmt das Handtuch, das über der Stuhllehne im Wohnzimmer hängt. Es ist das fünfte Mal, dass er es benutzt. Er schließt sich in der Küche ein. Er raucht. Dann ist es ruhig. Fast ganz ruhig.

 

Nur unter uns raschelt es wieder. Frau Bernhardt ist es. Ich kann sie hören, wach und im Schlaf. Er sagt, das kommt, weil das Haus alt ist, früher brauchte man wohl keine Abdichtungen. Frau Bernhardt spricht im Schlaf. Manchmal von ihrem Sohn, den sie einmal hatte. Dann flucht sie und schreit, denn Sie haben ihn mitgenommen, hat sie mir erzählt. Ich kann es mir vorstellen, sie kann doch noch nicht einmal auf ihren Hund aufpassen.

 

Am nächsten Tag steht Jan an derselben Stelle. Ich weiß jetzt, dass er Jan heißt, es steht auf dem Pappschild neben seinem Hut. „Ich heiße Jan und sammele Geld für mein Album.“ , steht da. Als ob es jemanden interessiert, wie er heißt. Jemanden außer mich. Diesmal bin ich die, die zwinkert. Im Treppenhaus hat mir Frau Bernhardt 2 Euro in die Hand gedrückt, zwei Ein Euro Stücke. Eins für heute, eins für gestern. Das von gestern lasse ich im Hut.

 

„Vielleicht muss es nicht gleich ein Album sein.“

 

„Hmm?“

 

„Ich meine 1 Euro für ein Album reicht nicht, aber vielleicht für etwas Anderes, einen Stift, oder eine Briefmarke, oder…Ich stocke. „Wieso singst du eigentlich?“

 

Er legt seine Gitarre zur Seite, in den schwarzen Koffer, der ein Stück hinter ihm liegt. Beim Hinunterschauen fallen seine Haare ins Gesicht. Er hat sie lange nicht mehr geschnitten, glaube ich. Aber Haare sind unwichtig beim Singen.

 

„Was heißt hier wieso? Weil ich es eben tue, weil es das ist, was ich kann. Weil ich nicht anders kann.“

 

„Das heißt du singst nicht, weil du es willst?“

 

„Doch, auch. Aber eben nicht nur.“

 

Er steht jetzt schon eine Weile so da, ohne die Gitarre. Seine Schuhe sind schwarz und riesig groß, die Art wie sie sonst Wanderer tragen. Nur, dass die Schnürsenkel offen sind. Seine Figur wiederum wirkt dagegen klein und mickrig. Wahrscheinlich ist er nur ein paar Zentimeter größer als ich.

 

„Und du, wieso bleibst du hier stehen?“

 

„Ich weiß nicht. Sonst tut es doch keiner, oder?“

 

Er nickt leicht. Dann schweigen wir. Meine Worte bleiben in der Luft hängen. Was macht man mit losen Worten? Ein paar Münzen scheppern in meiner Jackentasche. Ich schaue herüber zum Kiosk, da gibt es auch Zeitschriften, nicht nur Kaugummi. Die günstigste kostet so viel, wie viereinhalb Tage mit Ben wert sind.

 

„Warte kurz. Ich möchte gerne Etwas kaufen, nichts Nützliches, aber Etwas.“

 

Ich komme mit einer Wohnzeitschrift zurück. Selbst der Titel klingt so, als komme sie von weit her. Immer haben sie englische Titel. Dann setzen wir uns auf unsere Jacken, an den Rand des Bürgersteiges. Er fängt an zu blättern. Weiße Wände, saubere Tapeten, noch mehr weiße Wände, Menschen mit ebenso weißen Zähnen, wenn sie lächeln.

 

„Wohnst du irgendwo?“

 

Er zeigt auf ein allein stehendes Gebäude auf der anderen Straßenseite. „Im Erdgeschoss.“

 

Das vergitterte Fenster ist fast so groß, wie die Tür. Wahrscheinlich hört er jeden Abend die Schritte der Passanten als Echo im Kopf.

 

Jan darf nicht länger als eine halbe Stunde am selben Ort spielen. Er wurde einmal verscheucht, sagt er.

 

„Du kannst sie behalten.“ Ich zeige auf die Zeitschrift.

 

Er stopft sie in die Außentasche seines Gitarrenkoffers. In viereinhalb Tagen kaufe ich mir eine Neue. Aber das macht nichts, Hunde sind verlässlicher, als Musik. Er schließt den Reisverschluss.

 

Bei uns im Wohnzimmer gibt es eine Schublade, die immer abgeschlossen ist. Nur nachts schließt er sie manchmal auf, es klingt anders als das Abschließen der Haustür. Weniger durchgängig, lückenhafter. So als würde er ein paar Versuche starten und nach mehrfachem Stochern im Schlüsselloch noch einmal ansetzen. So als wären seine Hände, die sonst Alles und Jeden problemlos umfassen, auf einmal zu schwach, um  mit dieser kleinen Aufgabe betraut zu werden. Er steht im Wohnzimmer. Als er sich zu mir umdreht, sind seine Pupillen auf einmal groß und weit wie schwarze Löcher. Mit meiner Oma habe ich sie früher einmal im Planetarium gesehen. Seine Hände sind noch halb in der Schublade vergraben. Er setzt zum Sprechen an, seine Stimme klingt sanfter, als hätte sie jemand zusammen mit der Wäsche in den Weichspüler gelegt. „Geh wieder schlafen.“  Kein Befehl, kein Maßregeln, vielleicht so etwas wie Fürsorge, Schutz. Auf der Türschwelle drehe ich mich wieder um. Weil ich nicht anders kann. Der Satz schwirrt mir im Kopf herum, immer wieder. Weil ich nicht anders kann, weil ich nicht anders- Die Nacht ist still heute.

 

Er ist wieder aus dem Haus gegangen. Vielleicht heute Nacht noch. Vielleicht ist er auch noch einmal wiedergekommen zwischendurch und hat die Ruhe gebrochen mit seinem Gehen und Treten und Poltern. Das Telefon liegt auf der Gabel. Es klingelt nicht. Früher hat er angerufen, wenn er länger als einen Tag weg war. Die Melodie des Telefons klingt erst tief und tragend, dann tastet sie sich vor in die Höhen, wird schrill, drängend. Heute höre ich gar nichts. Ich kann nicht entscheiden, ob ich abnehmen möchte. Er lässt mich nicht entscheiden, er geht einfach. Ein Übelkeitsgefühl drängt sich mir auf, nimmt in sekundenschnelle meinen Körper ein, bis nur ein Wort bleibt. Hass. Er brodelt im Bauch, schießt durch die Kehle, überschwemmt mich. Hass. Statt zu schreien stürme ich schweren Fußes in die Küche. Die Regale beben, in Schränken scheppert es. Der Fußboden unter mir scheint nachzugeben. Gleich bricht er ein, denke ich. Ich greife mir die zwei verklebten Teller in der Spüle von vorgestern, oder vorvorgestern, oder vorvorvor…Mir doch egal, von wann die versifften Teller sind. Sie stürzen aus dem Fenster, zersplittern auf den Steinen, köpfen das Kopfsteinpflaster. Scheiße, Frau Bernhardt. Was und wie viel sie hört, weiß ich nicht, aber ich weiß auch, dass man Splitter nicht hören muss, so offensichtlich liegen sie da.

 

Kurze Zeit später stehe ich mit Handfeger und Schaufel unten. Erbärmlich sehen die Scherben aus, am liebsten würde ich gleich noch einmal darauf treten. Frau Bernhardt hindert mich daran. Sie steht direkt hinter mir, eine ganze Weile, obwohl ihre Haustür in Reichweite ist. „Wie geht es euch?“

 

„Wie immer.“ Kurze Atempause. Ihre Hände baumeln hilflos an den Seiten. Ich glaube sie weiß nicht, wohin damit.

 

“Was, ähm,  was ist mit den Tellern passiert?“

 

„Wenn sie dürfen, dann darf ich auch.“, ich sage es leise, ein bisschen zu mir selbst, ein bisschen zu ihr, ein bisschen zu den Geschirrleichen auf dem Boden.

 

Wir sitzen unter der Brücke, Jan und ich. Es ist der vierte Tag, an dem zu Hause niemand da ist. Von weitem hört man Autorauschen und Wasserplätschern. Ein Hafenarbeiter fischt wahrscheinlich wieder eine der Plastiktüten aus dem Wasser. Es nützt nichts, es ist doch nur eine. Gleich morgen wird wieder die nächste angespült. Man müsste den ganzen Strom aufhalten.

 

„Wenn ich Gott wäre, würde ich die Fluten versiegen lassen.“

 

„Wir sind aber nicht Gott.“ Er denkt kurz nach.

 

„Vielleicht sind es die Schreiber von den Wohnzeitschriften.“

 

Es dämmert, die wenigen Lichter verschwimmen vor meinen Augen. Frau Bernhardt darf jetzt schreien und weinen, wann sie möchte. Keiner hört es. Heute hat sie angerufen, bei ihnen. Sie weiß, wie das funktioniert. Ich habe sie sprechen gehört, es sei dringend hat sie gesagt. Sie sind das Jugendamt. Über Nacht kommt jemand von dort und holt mich. Ich weiß es. Ich sehe sie vor mir, mit ihren schwarzen Jacken. Sie kommen zu uns nach Hause. Der Parkplatz ist sauber, da liegen keine Scherben mehr. Dann suchen sie weiter. Sie nähern sich uns. Ich kann ihre Schritte hören. Eins, zwei drei…Sie finden mich. Eins, zwei, drei, vier… Sie kehren den Dreck von den Straßen.