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Die Mutter

Arezoo Nessari

Die Siegertexte aus den Workshops  mit dem Thema "UND PLÖTZLICH IST ALLES GANZ ANDERS" an der Stadtteilschule Mitte im Januar 2018.


Man sagt oft „Der Sinn des Lebens ist glücklich zu sein“, aber wissen wir eigentlich, was das bedeutet?

 

Hätte man mich, bevor mein Leben sich plötzlich veränderte, gefragt: „Was ist Glück?“ Ich hätte geantwortet: „Glück ist eine Mischung aus Reichtum und Erfolg“.

 

Doch wenn man mich jetzt fragen würde: „Was ist Glück?“ Ich würde sagen: „Glück ist, wenn man ein Dach über dem Kopf hat, Glück ist eine Familie zu haben, Glück ist von bestimmten Menschen im Leben geliebt zu werden, Glück ist Menschen in seinem Leben zu haben, die einen wertschätzen, Glück ist, dass man selbst aus den schlimmsten Situationen im Leben eine positive Erinnerung mitnimmt. Doch das Wichtigste, das einen glücklich macht, ist die Mutterliebe. Wer ohne Mutterliebe aufgewachsen ist, der kennt die süßen Seiten des Lebens nicht.

 

Wir werden von einer Frau auf die Welt gebracht. Diese Frau hat uns neun Monate lang in ihrem Bauch getragen. Trotz vieler Schmerzen hat sie uns von der ersten Sekunde geliebt. Die Mutter ist die einzige Person auf der Welt, die dich schon liebt, bevor sie dich in den Armen hält. Diese Frau ist für jeden von uns die Schönste auf Erden. Sie brachte uns das Reden bei. Sie war da, als wir unsere ersten Worte sagten, sie war da, als wir unsere ersten Schritte gingen, sie war da, als wir hinfielen und hat uns wieder hochgeholfen. Eine Mutter hat für jede Wunde eine Medizin. Sie brachte uns das Lieben bei. Sie war da, als jeder andere uns den Rücken kehrte, sie hat uns geliebt ohne eine Gegenleistung. Die Frau, die uns von Anfang an so vieles beigebracht hat, die alles dafür gegeben hat, dass es uns gut geht. Diese Frau, die uns zum Erfolg führte, verdient so viel Liebe, wie sonst niemand. Genau wegen dieser Frau stehen wir alle hier. Alles was wir erreicht haben, erreichten wir dank ihr.

 

Jeder nennt sie anders, die einen Mama und die anderen Mami. Sie hat alles dafür gegeben, um uns zu den Menschen zu machen, die wir heute sind. In der heutigen Generation kümmert sich keiner richtig um sie. Jeder redet über die große Liebe, über Freunde, die einen verlassen haben, aber keiner redet darüber, dass diese Frau, die uns zur Welt brachte die Stärkste ist und nur sie unsere Liebe verdient.

 

„Ich kann mich noch so gut erinnern, als wäre es gestern gewesen. Ich saß im Wohnzimmer mit Tränen in den Augen, die Haare durchwühlt, die Klamotten voller Essensreste. Ich war damals zehn Jahre alt, Mama. In der Schule hatte ich eine Vier geschrieben, und ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Klar, ich hätte es verheimlichen können, aber weil du mich so gut erzogen hast, Mama, wusste ich, dass man nicht lügen soll, denn eine Lüge wird immer ans Licht kommen. Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und bewegte mich langsam in Richtung Küche. Du trugst deine schönen langen schwarzen Haare offen und hast uns beiden Essen vorbereitet. Als du dich umdrehtest, sahst du die Tränen in meinen Augen. Du hast alles stehen und liegen lassen und bist zu mir gekommen. Du fragtest wieso deine schöne Tochter Tränen in den Augen hätte. Ich konnte nicht ruhig bleiben und fing an zu weinen. Du hast mich in die Arme genommen, Mama, und sagtest: ‚Meine schöne Tochter, in deinen süßen kleinen Augen sind kleine Fische. Wenn du weinst verlieren diese Fische das Wasser, in dem sie schwimmen und werden sterben. Willst du, dass die Fische sterben?’ Weil ich Angst hatte, dass die Fische sterben, habe ich nie wieder geweint, Mama. Ich erzählte dir von meiner Vier. Du warst weder sauer noch traurig, sondern glücklich. Ich habe es damals nicht verstanden, aber jetzt verstehe ich es, Mama.

 

Du warst glücklich, weil ich ehrlich zu dir war, Mama. Dies führte dazu, dass Ehrlichkeit eine große Rolle bei uns spielte.

 

Ich wurde älter, größer und reifer und bei dir sah man langsam die ersten weißen Strähnen und die ersten Falten. Du standest jeden Morgen vor dem Spiegel und hast dich selbst betrachtet. Du wusstest, dass deine Haare Tag für Tag ein bisschen weißer wurden. Aber Mama, soll ich ehrlich sein? Für mich warst du von Anfang an die schönste Frau. Mama, weißt du noch, als ich dich zum ersten Mal fragte, wer und wo mein Vater sei?

 

Ich habe zum ersten Mal den Schmerz in deinen Augen gesehen. Zum ersten Mal habe ich gesehen, dass mein Vorbild auch zerbrechlich sein kann. Weil ich gemerkt habe, wie verletzt du warst, habe ich das Thema gewechselt. Mama, weißt du noch als ich das erste Mal Liebeskummer hatte? Du nahmst mich in die Arme und sagtest, dass niemand auf dieser Welt meine Tränen verdient. Und erinnertest mich wieder daran, dass, wenn ich jetzt weiter weinen würde, die Fische in meinen Augen langsam sterben wurden.

Seitdem du mich verlassen hast, ist meine Welt grau. Ich wusste nicht, wie ich damit klarkommen soll. Mein Vorbild war plötzlich nicht mehr da.“

 

Und plötzlich war alles anders.

 

Alles fing an jenem Tag an, an dem meine Mutter früh am Morgen zur Blutabnahme zum Hausarzt ging. Ich war noch im Tiefschlaf. Bevor meine Mutter wieder nach Hause kam, war das Frühstück vorbereitet. Wir saßen gemeinsam am Esstisch, doch heute war es anders. Meine Mutter saß heute zum ersten Mal im Leben ruhig und aß ihr Essen. Sie hat nicht geredet. Kein einziges Wort hat sie gesagt. Sie saß an ihrem Platz und aß. Um die Stimmung aufzulockern fragte ich sie, wie es ihr gehe, wie sie geschlafen habe und was der Arzt gesagt hatte. Als ich mit dem Thema Arzt anfing, merkte ich wie sie plötzlich nervös wurde. Sie sagte, der Arzt habe nicht nur eine Blutabnahme gemacht, sondern auch andere Untersuchungen. „Ich bin mir nicht sicher, weshalb er das getan hat.“ „Aber, Mama, wieso bist du so ruhig?“ fragte ich sie. Sie sagte, sie habe nur ein komisches Gefühl, aber ansonsten sei nichts. Ich merkte an ihrem Verhalten, dass sie mir etwas verheimlichte. denn meine Mutter ist eine Person, die immer fröhlich ist, egal wie schlecht es ihr geht.

 

Mehr sprachen wir nicht darüber. Aber ich merkte, etwas bedrückte meine Mutter, traute mich aber nicht nachzufragen. Die Tage vergingen wie im Flug. Meine Mutter ging immer früh am Morgen aus dem Haus und kam abends wieder. Ich fragte sie oft, wo sie gewesen sei und sie antwortete jedes Mal dasselbe. An einem Montagnachmittag kam sie früher als gewöhnlich nach Hause. Sie sah traurig aus. Sie ging direkt ins Badezimmer und kam erst nach gefühlten Stunden wieder heraus. Solange habe ich vor der Tür gewartet. Als sie endlich herauskam, sah ich ihre roten Augen. Ich fragte sie was los sei und wieso sie geweint habe.

 

Plötzlich brach meine Mutter vor mir zusammen. Ich war unter Schock; es war das erste Mal, dass ich meine Mutter in einer solchen Lage sah. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich rannte zum Telefon, doch mir fiel keine Telefonnummer ein. Nicht einmal die 110. Ich war in Panik. Ich rannte wieder zu meiner Mutter, und fragte sie was ich tun solle. Es war das erste Mal, dass ich meine Mutter so etwas fragte. Sie sagte, „Hilf mir beim Aufstehen, aber ruf niemanden an.“ Ich half ihr auf die Beine und brachte sie in ihr Zimmer. Als sie endlich auf dem Bett lag versuchte ich sie zu beruhigen. Ich gab ihr ein Glas Wasser. Ich deckte sie zu. Sie schlief wie ein kleines unschuldiges Baby. Ich schlich mich leise aus ihrem Zimmer.

 

Während sie schlief versuchte ich mich abzulenken. Ich begann zu kochen. Noch bevor meine Mutter wach wurde war ich mit dem Essen fertig und deckte den Tisch für uns beide. Meine Mutter kam ins Esszimmer. Sie setzte sich an ihren Platz und begann wortlos zu essen. Ich beobachtete sie und mir fiel auf, dass sie dunkle Augenringe hatte. Ihre Haare sahen sehr dünn aus. Nach dem Essen ging meine Mutter wortlos wieder in ihr Schlafzimmer. Ich räumte den Tisch auf und folgte ihr. Sie saß auf der Bettkante. Ich nahm eine Decke und setzte mich neben sie. Wir schauten gemeinsam aus dem Fenster. Ich blickte zu ihr und sah, dass sie weinte. Ich fragte sie, was los sei. Sie sah mich an und gab mir einen Brief. Ich war verwundert und nahm den Brief. In diesem Moment wusste ich nicht, dass sich alles in meinem Leben plötzlich ändern wurde. Ich faltete den Brief auseinander. Es war der Arztbericht. Ich begann zu lesen. Nachdem ich ihn einige Male durchgelesen hatte, konnte ich nicht glauben, was ich dort gelesen hatte. Ich blickte kurz zu meiner Mutter, die mich mit Tränen in den Augen versuchte anzulächeln. Aber es war ein gezwungenes Lächeln. Ich las den Brief nochmals. Meine Hände begannen zu zittern. Der Brief fiel mir aus den Händen. Ich drehte mich zu meiner Mutter. Meine wunderschöne Mutter! Jetzt wurde mir klar, wieso sie so schwach wurde, wieso sie keine Kraft mehr hatte und wieso sie die letzten Wochen immer zum Arzt musste. Ich nahm meine geliebte Mutter in die Arme und fing an zu weinen. „Mama, sind sich die Ärzte wirklich sicher, dass das stimmt?“ Sie nickte. „Wie lange weißt du das schon?“ Sie blickte nach unten und sagte leise: „Seit fast einem Monat“. Ich konnte es nicht fassen. Sie wusste es schon von Anfang an, aber hatte mir nichts gesagt. „Die Ärzte können es trotzdem behandeln, oder Mama?“ Ich ahnte ihre Antwort. Dennoch fragte ich sie. Ich hoffte die Wirklichkeit war anders. Aber sie schüttelte ihren Kopf. In dem Moment brach meine Welt zusammen.

 

„Wie lange? Wie lange hast du noch Zeit?“ fragte ich sie. Es fiel mir schwer, sie dies zu fragen. Sie sah mich an und sagte: „Leider musst du dieses Jahr deinen Geburtstag alleine feiern.“

 

Von diesem Zeitpunkt an wollte ich meine Mutter nur noch glücklich machen.

 

Das Leben hat immer einen Wendepunkt. Unsere Mütter tragen uns durch das Leben bis zu dem Moment, an dem sich alles wendet. Dann müssen wir unsere Mütter durch das Leben tragen.

 

Der Verlust eines Menschen, den man über alles liebt, wird jeder kennen oder noch kennenlernen. Man wünscht sich die Zeit zurück, und wünscht sich den Menschen wieder zu sehen, mit ihm zu sprechen, zu lachen oder die Zeit miteinander zu verbringen. „Heute reden wir noch, morgen wünschen wir uns noch einmal mit ihm reden zu können.“ Man sollte die Zeit, die man hat, mit den Menschen verbringen, die man über alles liebt und man sollte die Zeit genießen. Denn wir wissen nicht, wann der Zeitpunkt kommen wird, an dem alles ein Ende hat und alles anfängt sich zu verändern.