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Der Junge, der die Angst besiegte

Nele Joachimsthaler


Mit klopfendem Herzen quetschte ich mich in den überfüllten Bus. Aus meinen Kopfhörern drang laut Nirvana in meine Ohren, aber ich merkte trotzdem deutlich, wie meine Atmung schneller wurde. Diesen Effekt hatten viele Menschen – leider vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln – auf mich. Obwohl ich schon einige Minuten an der Haltestelle gewartet hatte, atmete ich nun so schwer, als wäre ich gerannt.

 

Ok, beruhig dich, versuchte ich mir selbst einzureden.

 

Atme einfach ganz normal und entspannt.

 

Doch je flacher ich mich zwang zu atmen, desto stärker musste ich hinterher nach Luft schnappen.

 

Ist auch egal, du siehst die ganzen Leute hier eh nie wieder.

 

Aber natürlich brachte das auch nichts. Soziale Phobie ist nun mal soziale Phobie. Da konnte ich mir so viel gut zureden wie ich wollte. Ändern würde das nichts.

 

Eine etwas korpulente Frau mit drei kleinen Kindern und vielen Einkaufstüten stieg dazu, wodurch ich dazu gezwungen wurde, mich noch weiter zwischen die Menschen hinter mir zu drücken. Mit schweißnassen Händen klammerte ich mich an einen der Haltegriffe über mir, als der Bus haarscharf um eine Kurve fuhr. Bei dem Versuch, mein Gleichgewicht zu halten, trat ich einen Schritt zur Seite und bekam prompt eine voll beladene Tasche in die Seite. Während die dreifache Mutter sich wortreich bei mir entschuldigte, bekam ich nur ein Nicken und ein schwaches Lächeln zustande, um ihr zu signalisieren, dass bei mir alles okay war.

 

Die restlichen zehn Minuten Busfahrt vergingen zum Glück ohne weitere Zwischenfälle. Nur die Luft schien mit jeder Minute dicker zu werden und mir wurde immer wärmer, bis es fast unerträglich war. Schon eine Station vor meinem Ziel bereitete ich mich mental darauf vor, dass ich gleich irgendwie an den roten Haltewunschknopf drankommen und mich dann zwischen all den Leuten zur Tür vorschieben müsste. Sollte ich etwas sagen und sie bitten, mir Platz zu machen oder mich einfach durchdrängeln? Mit solchen Sorgen beschäftigt, bemerkte ich erst in letzter Minute, dass wir schon beinahe da waren. Panisch versuchte ich noch rechtzeitig den Knopf zu drücken und hatte das Gefühl, alle könnten mein Herz lautstark gegen meine Brust hämmern hören.

 

„Entschuldigung?“, fragte ich mit leiser Stimme. „Ich muss hier raus.“

 

Ich war mir nicht sicher, ob der Junge mit den verstrubbelten schwarzen Haaren und Lederjacke vor mir mich überhaupt verstanden hatte, aber er drehte sich um und seine leuchtend grünen Augen bohrten sich in meine. Auf einmal war all meine Panik wie weggeblasen. Diese Augen wirkten hypnotisierend und am liebsten hätte ich mich nie wieder von ihnen gelöst. So einfach hatte noch nie etwas die Angst vertrieben. Nicht einmal meine geliebte Musik. Er schien zum Glück begriffen zu haben, dass ich raus wollte. Mit schiefem Grinsen öffnete er die Tür und machte Platz für mich zum Aussteigen. Total erstaunt und etwas überfordert lächelte ich ihm dankbar zu, riss mich von seinem stechenden Blick los und sah dann zu, dass ich raus kam. Sobald ich auf dem Bürgersteig stand, atmete ich tief durch. Was für eine seltsame Begegnung. Dann schlug ich meinen Weg Richtung Schule ein.

 

Die nächsten Tage erwischte ich mich immer wieder dabei, wie ich nach dem mysteriösen Jungen Ausschau hielt. Es kam so weit, dass mein Blick automatisch durch die Menschenmassen schweifte, auf der Suche nach den in mein Gedächtnis eingebrannten Zügen, und ich bei jedem grünen Augenpaar aufzuckte. Fast schon zwanghaft verließ ich die Wohnung morgens immer früher, in der Hoffnung ihn irgendwie zu finden. Aber er war wie vom Erdboden verschluckt. Und überhaupt, was hatte ich denn eigentlich vor, wenn ich ihn fand? Ihn ansprechen? Wohl kaum. Und selbst wenn ich dazu wie durch ein Wunder den Mut aufbringen könnte, was würde ich dann sagen?

 

Hey, ich hab dich vor ner Woche mal im Bus gesehen und seitdem nach dir gesucht. Deine Augen haben voll die krasse Wirkung, sie lassen mich all meine Angst vergessen. Deswegen dachte ich du könntest vielleicht … Was? Meine soziale Phobie heilen? Als ob. Der dachte doch, ich hab einen an der Klatsche.

 

Danach hörte ich auf. Meine Stimmung war im Keller und ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Ich fühlte mich wie ein Luftballon, aus dem alle Luft entwichen war. Dass schließlich selbst meine Mutter bemerkte, wie schlecht es mir ging, ließ mich endlich aus den trüben, sich endlos im Kreis drehenden Gedanken aufschrecken.

 

„Benny, ist alles okay bei dir? Letzte Woche noch warst du noch wie unter Strom, morgens immer früh aus dem Haus, aber jetzt wirkst du so leblos und abwesend. Ist irgendwas passiert?“, fragte sie mich beim Abendessen.

 

„Ne, alles gut. Ich hab im Moment bloß ziemlich viel Stress in der Schule“, versuchte ich mich rauszureden.

 

„Du weißt, du kannst immer zu mir kommen, wenn etwas ist. Ich mach mir nur Sorgen um dich.“

 

Natürlich wusste ich das, aber mit solchen banalen Problemen wollte ich sie nun wirklich nicht belästigen.

 

Alles wurde wieder durcheinander gebracht, als ich den Jungen am Mittwochmorgen plötzlich wieder sah. Total unerwartet stand er an einer Haltestelle und stieg in meinen Bus.

 

Von der Fahrt bekam ich nicht mehr viel mit, da ich zu sehr damit beschäftigt war, ihn möglichst unauffällig zu beobachten und mir unrealistische Begegnungen auszudenken. Deswegen verpasste ich auch meine Haltestelle. Na toll, jetzt kam ich auch noch zu spät zur Schule. Als der Bus das nächste Mal hielt, stieg ich aus und wollte zu Fuß wieder zurückgehen. Da sah ich aus den Augenwinkeln, dass auch er ausgestiegen war. Neugierig blickte ich ihm hinterher. Wo er wohl hin wollte? Hier in der Nähe gab es keine andere Schule außer meiner, aber ich hatte ihn dort noch nie gesehen. Außerdem ging er dafür in die falsche Richtung. Später in der Schule schaffte ich es kaum, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, sondern grübelte über den seltsamen Jungen nach und was er wohl gerade machte.

 

Nach diesem Tag wurde es mit meinen paranoiden Gedanken besonders schlimm. Ständig fühlte ich mich beobachtet und überall glaubte ich diese intensiv grünen Augen und scharf geschnittenen Gesichtszüge zu sehen. Doch sobald ich näher hin sah, waren es doch nur normale Passanten. Ich musste dringend etwas unternehmen, bevor ich endgültig verrückt wurde, aber was?

 

Fast zwei Wochen, nachdem ich ihn gesehen hatte, tauchte er ebenso unverhofft wie letztes Mal wieder auf. Es war genau das Gleiche. Er wartete an der gleichen Bushaltestelle, stieg dazu und auch wieder eine Station nach meiner aus. Ich war diesmal mit Absicht weiter gefahren. So eine Chance konnte ich mir doch nicht entgehen lassen. Ich war fest entschlossen, das Mysterium um ihn aufzuklären, um dann wieder friedlich meines Weges gehen zu können. Dass dies nicht ganz so laufen würde wie geplant, war mir da noch nicht klar.

 

Ohne recht nachzudenken, was ich eigentlich tat, begann ich ihm zu folgen. Einige Minuten schlich ich ihm durch einsame Straßen und Gässchen hinterher, während wir uns immer weiter dem heruntergekommenen Stadtrand näherten. Endlich schien er sein Ziel erreicht zu haben. Ich duckte mich hinter eine Mauer, da er sich suchend umschaute, bevor er die verlassene Lagerhalle, vor der er stand, durch eine schwere verrostete Eisentür betrat. Mit einem lauten Krachen fiel sie hinter ihm zu.

 

Dies ließ mich aus meiner Trance erwachen. Was tat ich hier eigentlich? Wie konnte ein Junge, den ich gar nicht kannte, mich so sehr faszinieren, dass er ständig in meinen Gedanken war und ich ihn jetzt auch noch verfolgte? Außerdem, fiel mir siedend heiß ein, schwänzte ich gerade zum ersten Mal die Schule. Aber wenn ich jetzt zurückgehen würde, wäre das alles hier umsonst gewesen.

 

Also stahl ich mich näher an das Gebäude heran und schaute mich nach einem Weg hinein um, ohne durch das laute Öffnen der Tür auf mich aufmerksam zu machen. Schließlich entdeckte ich zumindest ein zerbrochenes Fenster, durch das ich vorsichtig hinein lugte. In dem Halbdunkel, das drinnen herrschte, war es nicht leicht, etwas zu erkennen. Nachdem meine Augen sich an das schummrige Licht gewöhnt hatten, konnte ich mehrere Silhouetten ausmachen, die angeregt miteinander zu sprechen schienen. Jetzt konnte ich sogar einige Wortfetzen verstehen.

 

„…folgt ist?“

 

„Ja… draußen.“

 

„… geh… bring rein…“

 

Dann sah ich, wie eine der Gestalten sich in Richtung Tür bewegte. Oh nein, was wenn er mich doch bemerkt hatte? Das war mit Abstand eine der blödesten Ideen, die ich je hatte. Das gab bestimmt Ärger.

 

Ängstlich kauerte ich mich hinter einem alten Wagen zusammen und versuchte durch die verstaubten Scheiben etwas zusehen. Das mir mittlerweile allzu vertraut vorkommende Gesicht blinzelte kurz drauf aus der Tür und blickte sich ein paarmal um. Dann blieb sein Blick genau bei mir kleben.

 

„Ich kann dich sehen, weißt du“ rief er in meine Richtung.

 

„Deine Aura kannst du vor mir nicht verstecken!“

 

Was sollte das denn heißen? Anscheinend war ich nicht der einzige hier, der etwas verrückt war.

 

„Komm schon. Wir wollen dir nur helfen“ versuchte er es erneut.

 

Naja, verstecken konnte ich mich jetzt eh nicht mehr, da konnte ich auch mitspielen und versuchen etwas herausfinden.

 

Von plötzlicher Entschlossenheit und Mut gepackt trat ich hinter dem Auto hervor und näherte mich ihm langsam. Was, wenn das alles eine Falle war? Seit wann traute ich mich so etwas überhaupt? Um mir noch mehr Gedanken zu machen war jedoch keine Zeit, da er mich plötzlich am Handgelenk packte und hinter sich ins kühle Dunkel zog. Drinnen wurden wir bereits erwartet. Bei den Gestalten, die ich durchs Fenster beobachtet hatte, handelte es sich um einen feingekleideten älteren Herren, einer Frau, an deren Arm sich ein kleines Mädchen klammerte, vermutlich ihre Tochter und zwei junge Männer etwa Mitte zwanzig. Mit bedeutungsschwangerem Blick trat der Herr vor. Mit rauer Stimme begann er zu sprechen.

 

„Hallo Ben, endlich bist du gekommen.“

 

Woher zum Teufel kannte der meinen Namen? Und was sollte ich bitte hier?

 

Die Verwirrung musste mir in Gesicht geschrieben sein, da er zu einer Erklärung ansetzte, ehe er von dem vor Aufregung zu platzen scheinenden Mädchen unterbrochen wurde.

 

„Du kannst dich unsichtbar machen, hat Arian gesagt“ quietschte sie laut.

 

Was? Waren die hier alle komplett durchgedreht? Vielleich sollte ich lieber verschwinden.

 

Aber meine Neugier siegte wieder einmal und ich blieb.

 

„Naja, damit hat sie nicht ganz unrecht“ hörte ich den Jungen hinter mir lachen.

 

„Jetzt lasst mich dem armen Jungen doch mal alles erklären. Ihr verwirrt ihn nur noch mehr“ warf der Alte ein. Aber das wurde bei seinen Erzählungen nur schlimmer und schlimmer.

 

Die ganze Truppe hier, ich eingeschlossen, hatte angeblich besondere Fähigkeiten. Um nicht von wütenden und verängstigten Menschen gejagt zu werden, lebten sie versteckt in der Gesellschaft. Bei dem grünäugigen Jungen handelte es sich tatsächlich um den erwähnten Arian, der die Auren und Gefühle von Menschen sehen und sogar leicht beeinflussen konnte. Das war mir wohl bei der Busfahrt passiert, als sich unsere Augen trafen und ich auf einmal keine Angst mehr spürte. Mit seiner Hilfe spürten sie Kinder und Jugendliche wie mich auf und beobachteten sie eine Weile, um herauszufinden, ob sie wirklich besonders waren. Trotz der Erklärung blieb ich ziemlich skeptisch. Wer würde so einer Geschichte schon Glauben schenken?

 

„Und was genau ist jetzt meine Fähigkeit?“, fragte ich schließlich. „Wenn ich mich unsichtbar machen könnte, hätte ich das doch gemerkt.“

 

„So einfach ist das nicht. Du kannst dich nur so unauffällig machen, dass du von so gut wie keinem mehr bemerkt wirst“, wurde mir erklärt.

 

„Außer von mir natürlich“, warf Arian mit einem Grinsen ein. „Vor mir kannst du dich nicht verstecken.

 

Nach einiger Überredungskraft und Demonstrationen ihrer Kräfte hatten sie mich mehr oder weniger überzeugt. Dass ich für eine nicht absehbare Zeit von der Schule befreit und in einem zentralen Trainingslager unterrichtet werden sollte, um zu lernen, meine Kräfte zu kontrollieren, überraschte mich dann auch nicht mehr. Meine Mutter würden sie irgendwie davon überzeugen, ich würde auf ein Internat gehen und könnte sie nur in den Ferien besuchen.

 

Etwas vermissen würde ich sie schon, aber über eine Sache war ich mir im Klaren, besser als mein jetziges von Ängsten und psychischen Problemen geplagtes Leben würde es allemal.