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Ein faires Baseballspiel

Thu Thao Nguyen


Es ist ein schöner Frühlingstag und mein Vater und ich spielen Baseball im Garten, wobei es sich auf Fangen und Zurückwerfen beschränkt.

 

Wir reden über Skandale von Sportlern und über alles Mögliche. Aber vor allem über Sport. Wir waren das beste Vater-Tochter Gespann, welches man wirklich nur selten zu sehen bekommt.

 

Meine Mutter hingegen macht sich nützlich in unserem Vorgarten und ist gerade dabei, die Kletterwand für die Rosen aufzubauen, die sich im Sommer hochranken sollen.

 

Meine Schwester sieht man häufig im Wohnzimmer mit ihrem Handy in der Hand, die lachend über den Boden rollt oder voller Aufregung ihre neue Netflix-Serie guckt.

 

Mein Vater erzählt mir zum etlichsten Mal, wie toll seine Baseball–AG in seiner Schulzeit war. Mein Vater war ein geborener Profi, doch unglücklicherweise hat er eine schwere Schulterverletzung bekommen, die ihn letztendlich dazu gebracht hat, mit dem Spielen aufzuhören. Da ihm Baseball aber so am Herzen liegt und Spaß macht, spiele ich des Öfteren Baseball mit ihm.

 

Bei meinem nächsten Wurf, war höchste Konzentration gefragt. Ich stelle mir vor, in einem riesigen Stadion zu stehen, umgeben von tausenden Fans, die mich voller Freude bejubeln.

 

Ich stehe in meiner Wurfposition, mein rechter Arm nach hinten gestreckt und genau richtig angewinkelt. Ich spüre die Kraft regelrecht durch meine Adern fließen und bin bereit zu werfen.

 

So geschieht es auch, doch im selben Moment, muss meine Schwester unbedingt drauflos kreischen und ich verfehle mein Ziel um zwei Metern und werfe direkt in den Busch. „Sorry Dad!“ rufe ich ihm zu und grinse mit einem breiten Lächeln.

 

„An deiner Wurftechnik müssten wir noch einmal arbeiten!“ ruft er zurück und sucht im Busch nach dem Ball.

 

Währenddessen gucke ich ins Wohnzimmerfenster und sehe meine Schwester aufgeregt hüpfen. Höchstwahrscheinlich ist sie an der Stelle angekommen, bei der sich die Protagonisten aus der Serie küssen, mein Vater sucht derweil immer noch nach dem Ball.

 

Ganz plötzlich fröstelt es mir, ein eiskalter Schauder läuft mir über den Rücken und hinter mir, nähern sich leise aber schwere Schritte im Takt. Ich bin wie erstarrt. Das Blut in mir gefriert, die Schritte kommen immer näher und mir stockt der Atem. Plötzlich spüre ich eine schwere und eine nahezu brennend heiße Hand auf meiner linken Schulter. Mein ganzer Körper zuckt, mein Kopf ist schwer wie Beton. Ich kann keine Luft mehr holen, als würde ich unter Wasser ertrinken. Eine bekannte Stimme dringt tief in mein Ohr und drillt mir in den Kopf. Die Stimme ruft immer wieder schallend „Eleen, Eleen!“, es dröhnt mir wie ein Pfeil durch den Kopf. Ich bekomme keine Luft mehr und plötzlich bin ich nicht mehr unter Wasser. Ich hole tief Luft, reiße meine Augen auf und realisiere, dass dies alles nur ein Traum ist.

 

Noch ganz benebelt bemerke ich, dass ich auf einem Bett liege, aber es ist nicht mein Zimmer. Nein, der Raum ist groß und hell, riecht nach Desinfektionsmittel und verursacht bei mir ein komisches Gefühl. „Eleen! Mein Kind, geht es dir gut? Weißt du wer ich bin? Wie viele Finger zeige ich?“ Ich schaue meine Mutter an und grinse leicht. Es war auf keinen Fall die passende Situation zum Lachen, dennoch spüre ich große Erleichterung, dass es nicht schlimmer gekommen ist und nur bei einem wieviele-Finger-zeige-ich-Ding geblieben ist. „Wo sind wir Mama?“ „In der Notaufnahme, ich wurde auf der Arbeit informiert, dass du umgekippt bist und eilte sofort zum Krankenhaus.“ Jetzt erinnere ich mich wieder. Auf dem Weg zur Kantine, wurde mir schwarz vor Augen und ich kippte auf der Treppe um. An das, was danach passiert ist, kann ich mich nicht mehr erinnern.

 

Noch am selben Tag bin ich aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ich sei wegen Stress und Erschöpfung einfach zusammengebrochen, hieß es, ansonsten gebe es keine Auffälligkeiten.

 

Ich wurde für fünf Tage von der Schule befreit und mein Bett sollte für die nächsten Tage mein neuer bester Freund sein.

 

Wir betreten die halb leere Wohnung, meine Schwester wohnt nicht mehr bei uns. Sie ist in eine andere Stadt gezogen, sie hat sich gewünscht, dass wir zu ihr ziehen. Mein Vater ist erst vor kurzem bei einem Autounfall gestorben. Ein anderer Fahrer ist auf ihn zugerast und die beiden Autos prallten voneinander ab. Das Auto meines Vaters hat sich mehrmals überschlagen bevor es auf der Seite gelandet ist. Meine Mutter und ich haben am Todestag bitterlich geweint, die schönen Tage gibt es nicht mehr.

 

Den Grund für den Raser habe ich auch nie erfahren. Ich weiß nur, dass mein Vater auf der anderen Seite auf uns wartet und wir ihn hier, in dieser Welt nie mehr sehen werden. Ich bin mehr beschäftigt damit gewesen, um meinen Vater zu trauern, als mir zu überlegen wie es dazu gekommen ist.

 

Ich verziehe mich in mein Zimmer. Der dunkle Raum, der mir so bekannt ist und der so viele Emotionen enthält, wurde rasch zu einem trostlosen, dunklen und mit negativ geladenen Emotionen gefüllten Verlies. Alles kommt mir so surreal vor.

 

Das Einzige was ich jetzt noch besitze, ist die Leere, die sich immer weiter verbreitet und die nicht mehr aufhört. Sie frisst mich auf und ich ersticke daran, an der Leere. Die Leere soll leer sein, doch warum ist die Leere trotzdem so gefüllt mit Leere? Es ist ein unendliches Spiel von hin und her. Man sagt, wenn dir das Leben Zitronen schenkt, mache Limonade draus. Aber ich bin der festen Meinung, dass ich mein Limonadenrezept für immer verloren habe.

 

Plötzlich vibriert mein Handy, es ist eine Nachricht von Thomas. Ich kenne Thomas schon seit ich geboren bin, er arbeitet bei der örtlichen Polizei und ist zudem ein sehr guter Freund meines Vaters.

 

Er hatte vom Tod meines Vaters als Erster erfahren, als ihm auf dem Revier die Nachricht übermittelt wurde. Er hatte uns angerufen und uns mitgeteilt, dass mein Vater gestorben ist. Ich wusste damals genau, dass dieser Mann auf der anderen Seite der Leitung es auch nicht leicht gehabt hat und versucht hat sein bitterliches Weinen zu unterdrücken.

 

‚Hallo Eleen, wie geht es dir? Ich habe gehört, dass du umgekippt bist. Ich weiß, es ist eine schwere Zeit für dich, aber passe bitte auf dich auf. Dein Vater würde es auch wollen.’ steht in der Nachricht.

 

„Dein Vater würde es auch wollen…“ wiederhole ich immer wieder.

 

Ich seufze tief, wie, warum und weshalb es ist es so gekommen wie es jetzt ist?

 

Je länger ich nachdenke, desto mehr Fragen tauchen auf und zerbrechen meinen Kopf in tausend Puzzelteile. Ja, ich akzeptiere den Tod meines Vaters vollkommen; nun muss ich den Mörder meines Vaters zur Rede stellen. Es ist sein Fehler, dass ein geliebter Mensch nun nicht mehr auf dieser Welt ist.

 

Er muss dafür büßen. Aber wie soll ich das anstellen?

 

Da fällt mir ein, dass die Polizei den Raser bereits auf dem Revier befragt hat. Soweit ich von Thomas gelernt habe, sichern sie die Daten auf dem Rechner. Das ist es! Ich brauche nur die Adresse und dann kann der Raser was erleben!

 

Ich schnappte mir meine Tasche und rief: „Mama ich gehe kurz raus, Luft schnappen!“ Noch bevor meine Mutter irgendetwas dazu sagen kann, bin ich bereits verschwunden.

 

Auf dem Polizeirevier angekommen sehe ich Thomas auch schon. „Eleen, was machst du denn hier?“, „Ach, mir ging es nicht so gut, aber zuhause war es mir zu langweilig. Außerdem bräuchte ich ein wenig Rat…“ murmelte ich. Thomas verstand und führte mich in sein Büro und stellt mir eine Tasse heißen Kakao auf den Tisch. Dieser Geschmack erinnerte mich zu sehr an die alten Zeiten, mir lief eine Träne runter. Wortlos überreicht mir Thomas ein Taschentuch. Er fängt an, über das Wetter zu reden, um mich abzulenken, dabei verliere ich nur immer mehr Tränen. Er fängt dann an über die Erlebnisse, die er mit meinen Vater erlebt hat zu erzählen. Es beruhigt sowohl mich, als auch meine Seele.

 

„Thomas, komm mal kurz her, wir brauchen deine Hilfe!“, unterbrach uns ein anderer Polizist. „Entschuldige mich kurz“, sagt er mit einer sanften Stimme und verschwindet hinter der schweren Tür. Das ist meine Chance! Ich stehe auf und lehne mich schnell zum Computer hin. Passwort. „Verdammt“, sage ich und schlage mit geballter Faust auf den Tisch.

 

Da erinnere ich mich daran, wie ich mit fünf Jahren mein Bein aufgeschürft habe und er mir sein Passwort verraten hat, um mich zu beruhigen. Es ist das lustigste, aber auch absurdeste Passwort, das ich je zu Ohren bekommen habe, früher zumindest. Ich gebe das Passwort ein und es erscheint eine riesige Sammlung von Daten. Es vergehen nur einige Sekunden bis ich die Adresse habe. Canastonweg 5. Ich höre Schritte und schnell logge mich aus dem Computer, um ja keinen Verdacht zu erregen.

 

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ sagt Thomas, der durch die Tür kommt. „Schon gut, ich glaube ich gehe jetzt auch nach Hause. Danke für heute.“ und lächle leicht. Ich verabschiede mich von ihm und begebe mich nun zum Verursacher des Geschehens.

 

Im Bus schwirren mir tausend Gedanken durch den Kopf; sie stören mich nur. Ich hole meine Kopfhörer raus und sehe zum Fenster, an dem der Regen abperlt. An der Haltestelle angekommen schüttet es, doch mir ist das ziemlich gleichgültig und ich gehe die Straße runter.

 

Canastonweg 5. Da bin ich, vor dem Haus des Mörders meines Vaters. Vor dem Haus des Mannes, der mir den geliebten Vater genommen hat. Ich zittere, aber nicht weil es so kalt war. Ehrlich gesagt, wusste ich selber nicht so recht was ich sagen soll, wenn dieser abscheuliche Mann vor mir steht. Ich starre die Klingel für eine gefühlte Ewigkeit an und beschließe dann den Knopf zu betätigen. Doch bevor ich das tun kann, kommt ein Mann heraus und ich verstecke mich schnell hinter einem Baum.

 

Er ist dünn. Seine gräulichen Haare erwecken den Anschein als wäre er schon eine Ewigkeit nicht mehr beim Friseur gewesen und seine Kleidung lässt auch sehr zu wünschen übrig. Er ist gerade dabei den Müll wegzubringen, während eine kleine Kreatur in der Eingangstür auf ihn wartet. „Geh doch rein Kylee, du wirst noch krank!“ sagt der Mann. „Dann mach doch schneller Papa!“ sagt sie. Die Tochter des Mannes sieht ihm überhaupt nicht ähnlich, sie ist das komplette Gegenteil von ihm. Sie hat schön glänzendes braunes Haar mit blonden Strähnen, ein regelrecht traumhaftes Prinzessinnenkleid und das Gesicht einer Puppe. Sie erinnerte mich an mich selber in meiner Kindheit.

 

Bloß war ich vom Aussehen her das komplette Gegenteil, ich habe kurze Hosen getragen, die einer Shorts ähneln, ein Baseball-Trikot sowie eine Baseballmütze, die mein Vater mir zu meinem achten Geburtstag geschenkt hat. Nein, wir ähnelten uns darin, dass wir unserem geliebten Vater auf Schritt und Tritt gefolgt sind und immer auf ihn acht gegeben haben.

 

Diese unangenehmen Gefühle, die zuvor mein Herz zerbrachen, verschwinden im Nu und ich spüre Erleichterung. Belügen muss ich mich nicht mehr, es war ein Unfall; seinen Tod muss ich nun akzeptieren. “Das hätte er auch gewollt“, denke ich und starre in den Himmel. Ich senke mich zu Boden, krame in meiner Tasche und hole einen Baseball hervor, den ich fest in der Hand halte. Ich schließe für einen kurzen Moment meine Augen und verliere eine letzte Träne.

 

„Nun heißt es Abschied zu nehmen.“

 

Ich stehe auf, lege den Baseball vor die Haustür und gehe fort.