· 

Der letzte Gedanke

Dajan Oniscuk


„Karla, dein Kaffee ist fertig!"

 

„Stell ihn auf den Tisch, ich bin gleich da.“

 

Vor mehreren Milliarden Jahren, als das unbeschränkte Nichts im Universum herrschte, erschien plötzlich und unerwartet das Leben auf der Erde. Nach und nach verbreitete sich das Leben auf dem Planeten, und nach zeitraubender Evolution betrat am ersten Mal der menschliche Fuß den Erdboden. 

 

Im Laufe der Zeit fasste die Menschheit massenhaft Theorien und Märchen über den Sinn unseres Lebens.  In einer Zeit, wo die Buddhisten mit allen Mitteln versuchen, ihre unendliche Reinkarnation zu beenden und ins Nirwana zu gelangen, glauben die Christen an den allmächtigen Gott und verbringen das Leben mit Beten, um von Ihren Sünden erlöst zu werden und somit den Weg in eine bessere Welt gehen zu können. Die Hedonisten sehen den Sinn ihres Lebens im Wohlgefallen, und meine seit langem verstorbene Tante Linda gab ihr Leben für die Katzen aus. 

 

Unabhängig vom Alter, der Rasse und den Lebenserfahrungen fragt sich jeder Mensch auf der Erde nach dem Sinn unserer Existenz, jedoch noch keiner von den bis jetzt Lebenden hat es geschafft, diese Frage vollständig zu beantworten.

 

Ich war 17 Jahre alt, als zu mir die Erleuchtung kam: Wir leben nur, um zu überleben.

 

„Hast du deine Koffer schon fertiggepackt?“

 

Wir werden geboren, um zu sterben.

 

„Ja, fast.“

 

Ich wollte eigentlich nie überleben. Ich wollte nicht zur Schule, aber man braucht ein Stück Papier, auf dem steht, dass du schlau genug bist, um eine Arbeit zu bekommen. Ich wollte nicht zur Arbeit, aber man muss doch Geld verdienen, um seiner Lebensversorgung nachzukommen. Ich wollte auch keine Ehe schließen, aber man braucht doch jemanden, damit das Überleben nicht zu langweilig wird. 

 

„Übrigens, wie geht es deinem Enkelkind?“

 

„Tommi fühlt sich ganz gut.“

 

„Dein Leben ist das Wichtigste auf der Welt, das ist dein größtes Geschenk, mein Mädchen.“ –  das waren die letzten Worte meiner lieben Mutter. Sie genoss ihr Leben so, wie es war und akzeptierte alle Schwierigkeiten, die auf sie zukamen. „Sei stark, meine Liebe“, wiederholte meine Mutter immer wieder, „das Leben wird nie leicht.“ Sie starb gleich nachdem mein kleiner Bruder auf die Welt kam. Die Besten sterben immer früh. Warum? Keiner weiß es. Das Leben ist gemein, aber so sieht die Welt eines Menschen aus. Die Mütter gebären und sterben in Qualen, um ihren Kindern ein Leben in Qualen zu schenken. Wer nicht überlebt, ist schwach. Selbstmord bedeutet Schande für die Familie. Aber ist ein Selbstmörder tatsächlich so schwach wie alle denken?

 

„Und deine Tochter? Wie geht es Elisa? Fühlt sich Leon auch in Ordnung?“

 

„Der ganzen Familie ging es nie besser, danke.“

 

Ich hatte nie die Lust zu leben, aber das Sterben blieb für immer meine größte Angst. Ich habe es versucht. Mehrmals. Es kam aber jedes Mal etwas dazwischen. Ein Geräusch oder ein Gedanke, durchweg eine Kleinigkeit, die mein unnötiges Leben rettete.

 

Im Laufe des Lebens wurde mir immer klarer, dass Selbstmord doch nicht so leicht ist, wie die ganze Welt denkt. Um sich zu töten, muss man seinem eigenen Überlebensinstinkt widerstehen und seine menschlichen Reflexe überwinden, was das Schwierigste bei der ganzen Sache ist. Das Leben ist schwer. Das Sterben noch schwerer. 

 

Ich war nie stark. Ich war zu schwach, um zu leben, aber zu ängstlich, um zu sterben. 

 

„Willst du eine Abschschiedszigarette rauchen?“

 

„Gib her.“

 

So lebte ich mein ganzes Leben lang. Nach der Schule kam das Akademie, danach die Arbeit, Ehe, Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Beide voll nach ihrem Vater. Nicht verwunderlich, ich war nie eine richtige Mutter für sie…

 

„Bist du sicher, dass du die Therapie nicht anfangen willst?“

 

„Ja, völlig.“

 

Und nun sitze ich hier, in meiner alten Wohnung, mit der einzigen Freundin, die noch am Leben ist, im Schaukelstuhl hin und her schwingend und denke über mein eigenes Leben nach. Ein typisches Verhalten für eine 72jährige Oma, die bald sterben wird.

 

„Danke, Karla, dass du immer für mich da warst.“

 

„Kein Problem.“

 

Es sind schon drei Wochen vergangen, seitdem ich ganz überraschend meine Diagnose bekam. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Im Endstadium. Keine Chance, sie können das Ende nur durch eine Therapie erleichtern. 

 

„Sagst du mir etwas zum letzten Mal?“

 

„Sei mutig, es ist noch nicht zu spät.“

 

Vor mehreren Milliarden Jahren, als das unbeschränkte Nichts im Universum herrschte, erschien plötzlich und unerwartet das Leben auf der Erde. Nach und nach verbreitete sich das Leben auf dem Planeten, und nach zeitraubender Evolution betrat zum ersten Mal der menschliche Fuß den Erdboden. Im Laufe der Zeit fasste die Menschheit massenhafte Theorien und Märchen über den Sinn unseres Lebens, jedoch noch keiner hat es geschafft, die Frage vollständig zu beantworten. 

 

Ich war 72 Jahre alt und todkrank, als ich den Sinn des Lebens endlich verstand: 

 

Wir leben, um zu überleben, aber nur solange bis wir einen eigenen Sinn des Lebens finden. 

 

Wir werden geboren, um zu sterben, aber nur solange bis wir mit dem Überleben aufhören.     

 

Ich glaube nicht an einen Gott. Auch nicht an die Reinkarnation. Jeder Mensch ist eine Sammlung von unendlichen Zellen und Atomen, die eines Tages nicht mehr arbeitsfähig sein werden.  Das ist alles. Aber das Leben ist vielfältig, und nur wir können über den Verlauf unseres Lebens entscheiden. 

 

„Ich wünsche dir eine gute Reise, Karla.“

 

„Bleib wohl Berta, bleib wohl.“

 

Ich dachte nicht lange nach, bevor ich die Tickets bestellte. Eine Weltreise für eine 72jährige Oma mit Krebserkrankung, warum nicht? Ich wollte den Rest meines Lebens nicht langsam erlöschend im Krankenhaus verbringen und habe mir die Reise gebucht. Mein Leben war nicht besonders attraktiv, meinen Tod gestalte ich mir aber besonders.

 

Mein ganzes Leben lang hatte ich keinen Mut zu sterben, erst jetzt bekam ich den Mut zu leben.