Fatlinda Tetaj
Meine Hände zitterten. Zu meiner Linken saß ein junges Mädchen. Schlank, blondes Haar, blaue Augen. Rechts von mir ein Junge. Groß, braunes Haar, ebenfalls blaue Augen. Sie unterhielten sich und beachteten mich dabei nicht. „Hast du den neuen Haarschnitt von Katy Perry gesehen? Katastrophal!“, äußerte sie.
„Ja, das habe ich. Und die Haarfarbe erst. Furchtbar.“, fügte er hinzu.
Sie beide nahmen sehr viel Platz ein. Ich hingegen machte mich klein. Alle strahlten das gewisse Etwas aus, welches man für diese Branche benötigt. Wie sie alle so selbstbewusst da saßen. Aufrecht und mit der Nase voraus. Ihr ganzes Auftreten zeugte von Arroganz. Nur ich … war nicht gut genug.
Das habe ich meinen Eltern auch gesagt. Ich richtete meinen Blick aufs Handy. Meine Mutter, die mich als Jona Aguilera eingespeichert hat, rief mich schon zum fünften Mal an. Aguilera, weil sie findet, ich sänge wie Christina Aguilera. Nur aussehen tue ich nicht so. Ich bin klein und habe krauses Haar. Meine Mutter hat kurze blondierte Haare und sie verlässt nicht das Haus, ehe sie roten Lippenstift aufgetragen hat. Ich ging nicht ran. Meine Unsicherheit ließ es nicht zu. Die Cola, die ich drei Stunden zuvor bestellt hatte, stand nach wie vor unangerührt auf dem Klapptisch. Es erklang eine Stimme: „Aufgrund eines Brandes kann unser Reiseziel Hollywood nicht erreicht werden. Wir müssen deshalb in Valentine landen. Bitte hinsetzen, die Tische zuklappen und anschnallen“. Valentine? Noch nie davon gehört, dachte ich mir. Nachdem ich es gegoogelt hatte, wusste ich, dass es eine kleine Stadt in Montana ist. Auf der einen Seite war ich erleichtert, weil ich sowieso an meinem Potential zweifelte. Auf der anderen angsterfüllt, weil ich nicht wusste wie es weiterging.
Dort angekommen gab es keinen Empfang, weshalb die zahlreichen Anrufe meiner Eltern mich nicht erreichten. Ich wollte den nächsten Flug nach Hollywoodnehmen, doch der war erst in zwei Wochen. Ich musste mir also eine Unterkunft für die nächsten zwei Wochen suchen. Einen Stadtplan konnte ich nicht besorgen, daher schlenderte ich durch die Straßen, in der Hoffnung eine Bleibe zu finden. Da hörte ich in der Ferne den Song „New Rules“ von Dua Lipa. Das ist mein absolutes Lieblingslied. Ich habe es auch schon mal gecovert.
Also folgte ich der Stimme -eine Frau mit ihrer Gitarre an einem Straßenmarkt. Ich blieb ein paar Meter vor ihr stehen und hörte ihr zu. Das Kleingeld, das von dem Kauf meines Getränkes heute Morgen übrig geblieben ist, legte ich in den Becher vor ihr. Als sie den Blick von ihrer Gitarre abwandte, sah sie mich verwundert an. Nicht grundlos, denn ich sehe anders als die Einwohner hier aus und schleppe einen Koffer mit mir herum. Jetzt sah ich sie auch aus der Nähe. Sie hat langes oranges Haar, grüne Augen und Sommersprossen. „Was machst du hier in Valentine? Das ist kein übliches Reiseziel.“, sagte sie. „Mein geplantes Reiseziel konnte nicht erreicht werden“, antwortete ich in der Hoffnung, dass sie nicht nach dem Reiseziel fragte.“Wo wolltest du denn hin?“. Zögernd antwortete ich: „Hollywood“. Ich habe damit gerechnet, dass sie den Kopf schüttelt und sich denkt, warum gerade ich nach Hollywood möchte. Immerhin sehe ich nicht aus wie ein Hollywoodstar. Doch sie erwiderte in einem erfreuten Ton: „Du hast bestimmt Talent“. Ich schüttelte den Kopf. Einerseits, weil ich nicht das Selbstbewusstsein dazu hatte, mich als talentiert zu bezeichnen. Andererseits, weil ich erschöpft war und endlich eine Unterkunft brauchte. Meine Erschöpfung und Orientierungslosigkeit sah sie mir wohl an und fragte daraufhin: „Weißt du schon, wo du heute übernachtest?“. „Wenn ich bloß wüsste wo ich mich gerade befinde“, antwortete ich mit einem Hauch Hoffnung aber zugleich auch Verzweiflung. „Ich habe eine kleine Wohnung hier in der Nähe. Wenn du willst, kannst du heute bei mir unterkommen, bis du etwas gefunden hast“, bot sie mir an. Sie machte einen vertrauenswürdigen Eindruck, weshalb ich das Angebot annahm. Sie streckte die Hand aus: „Sofia, mein Name“. Während wir uns die Hände schüttelten, entgegnete ich: „Jona, freut mich“. Ich folgte ihr zu einer kleinen gemütlichen Wohnung mit vielen eingerahmten Zitaten an den Wänden. Auf einem stand „Believe in yourself“, welches mich zum Nachdenken brachte.
Sie bot mir etwas zu Essen an. Einen Taco und Wasser mit Limettenscheiben. „Wie lange machst du schon Straßenmusik?“, fragte ich neugierig. „Seit zehn Jahren. Angefangen habe ich mit ein paar Freunden zusammen. Wir hatten etwas improvisiert und es hat sich eine Menschenmenge um uns gebildet. Es hat ihnen gefallen. Seitdem gehe ich regelmäßig auf die Straßen und mache Musik. Nicht primär wegen des Geldes, sondern weil ich Spaß daran habe.
Hauptberuflich arbeite ich als Kellnerin in einem Restaurant“. Man sah ihr die Leidenschaft für Musik an, als sie davon sprach.
Ich versuchte meine Eltern zu erreichen, hatte aber keinen Empfang. „Wie alt bist du eigentlich? Du siehst jung aus.“, fuhr sie fort. „Ich bin achtzehn“. „Also hast du wahrscheinlich versucht, deine Eltern anzurufen oder?“. „Ja, ich habe jedoch kein Netz“. Sie bot mir an, meine Eltern mit ihrem Telefon zu kontaktieren. Meine Mutter ging sofort ran: „Wo bist du? Warum antwortest du nicht auf meine Nachrichten?“. „Ich bin in Valentine“, fuhr ich fort. „Wo ist Valentine und warum bist du nicht in Hollywood?“, entfuhr es ihr in einem lauten Ton. „Das Flugzeug konnte das Reiseziel aufgrund eines Brandes nicht erreichen und musste deshalb hier landen“. „Warum hast du denn nicht den nächsten Flieger nach Hollywood genommen?“. Sie wurde noch lauter. „Der nächste Flug ist erst in zwei Wochen“. „Dann nutze die Zeit und bereite dich auf deinen Auftritt vor!“. Sie legte auf. Sofia muss wohl alles mitgehört haben, so erstaunt wie sie guckte. „Deine Mutter zeigt aber kein Verständnis.“, sagte sie empathisch. „Nein, meine Eltern denken nur an den Ruhm, den ich durch das Singen erreichen kann“. „Du singst? Du wolltest also noch Hollywood fürs Singen?“, fragte sie voller Begeisterung. „Gewollt habe ich es nicht… Viel mehr meine Eltern. Ich veröffentliche gecoverte Lieder auf Youtube. Dabei zeige ich mich jedoch nicht. Eine Musikagentur aus Hollywood ist auf mich aufmerksam geworden und hat mich eingeladen, mein Können unter Beweis zu stellen. Ich wollte die Reise jedoch nicht angehen, weil ich an meinem Potential zweifle und auch nicht das Zeug zum Star habe. Ich habe die Reise trotzdem auf mich genommen, weil meine Eltern unbedingt darauf bestanden“. „Sing mir doch einfach mal etwas vor. Kannst du den Text?“. Und sie fing an „New Rules“ zu spielen. Ich zögerte. Sie fing an zu singen und forderte mich auf mitzumachen. Schließlich traute ich mich, ein paar Töne von mir zu geben, bis ich dann auch alleine sang. „Jona, du hast Talent!“, rief sie begeistert. „Wie kannst du nur sagen, dass du kein Potential hättest?“. „Du hättest die ganzen Personen im Flugzeug sehen sollen. Gutaussehend und selbstbewusst“. „Jona, Selbstbewusstsein ist nur von deiner Mentalität abhängig und die Ausstrahlung macht es aus“. Diese Aussage von Sofia ging mir die ganze Nacht durch den Kopf. „Vielleicht hat sie ja Recht und ich habe wirklich das Potential“.
Sofia war nicht Zuhause, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Ich sah mich in ihrer Wohnung um. Sie hat viele Bücher in einem Holzregal stehen. Ich blätterte in einigen, da war sie auch schon wieder da. Sie hatte fürs Frühstück eingekauft. Ihr Vorschlag war es, danach gemeinsam raus zu gehen, um die Stadt zu erkunden.
Sie nahm wieder ihre Gitarre mit. Die Sonne schien und sie führte mich zum Straßenmarkt, an dem ich sie am Tag zuvor angetroffen hatte. Dieses Mal war dort viel mehr los: Viele Menschen, die einkauften, exotische Früchte auf dem Markt und Kinder, die mit einem zusammengeflickten Ball spielten. Sofia und ich mittendrin. Sie holte ihre Gitarre raus und ich dachte mir, wie mutig es von ihr sein muss, hier zu singen. Schon als sie die ersten Melodien spielte, war die Aufmerksamkeit vieler Personen auf uns gerichtet. Ich wartete darauf, dass sie anfing zu singen, genauso wie die Passanten auch.
„Na los. Sing!“, forderte Sofia mich auf. Ich schaute sie hilfesuchend an: „Ich kann das nicht!“.
„Doch du kannst das, genauso wie gestern auch!“. Ich schloss meine Augen und begann zu singen. Schnell hörte ich die Passanten applaudieren und öffnete die Augen. Ich fühlte mich sicherer. Es kamen immer mehr Menschen dazu.
„Siehst du…Du kannst es. Du musst nur an dich glauben.“, sagte sie zu mir, als wir Zuhause ankamen.„Du musst aus deiner Komfortzone raus und sie somit erweitern!“. „Du hast recht. Und das habe ich heute getan!“.
Am nächsten Tag sagte sie entschlossen: „Ich nehme dich heute zur Arbeit mit, wenn du Lust hast!“. „Liebend gerne!“. Mit ihrem kleinen roten Auto fuhren wir dort hin. Es lief „Impossible“ von James Arthur. Ebenfalls ein Lied, welches ich gecovert hatte. Ein schönes Restaurant. Von außen unspektakulär, doch innen imponierend. Ich setzte mich an einen Tisch. Da kamen mir zwei Männer entgegen. „Hey, ich bin John“. „Ich heiße David. Wir sind die Freunde von Sofia “. „Ah, sie hat mir von euch erzählt. Die Anfänge eurer Straßenmusik“. „Richtig! Sofia hat uns davon berichtet, dass du eine tolle Sängerin bist. Also wäre es uns eine große Freude, wenn du heute hier auftreten würdest“. „Ich? Heute? Hier?“. „Ganz genau. Wir würden dich mit Instrumenten begleiten“. Ich zögerte. Dann dachte ich an Sofias Worte und an den Erfolg meines letzten Auftrittes. „Ich bin dabei!“. Ich begann leise zu singen, wurde aber immer lauter als ich sah, dass es den Leuten gefiel.
Nach einem kräftigen Applaus verließ ich erfreut die Bühne. „Das war hervorragend!“, äußerte David. „Hast du schon mal etwas Eigenes gemacht?“, entgegnete John. „Nein, ich habe nur andere Lieder gecovert“. „Du musst unbedingt einen eigenen Song rausbringen. Wir könnten alle gemeinsam daran arbeiten“. „Meint ihr wirklich?“. „Ja, absolut!“.
Auftritt, für Auftritt wurde ich immer selbstsicherer und verstärkt merkte ich, dass es stimmte was Sofia sagte >>Ausstrahlung ist alles<<.
Bei den Proben versuchte ich meinen eigenen Stil zu finden, indem wir einfach improvisierten. Die Eindrücke, die ich in dieser Zeit machte, wollte ich in meiner Musik zum Ausdruck bringen. Unter Anderem die inspirierenden Personen, die ich begegnete. Ganz vorne stand Sofia, die mich mit einer weiteren Äußerung ins Staunen versetzte. „Du bist so weise!“.Sie erwiderte mit einem Schmunzeln: „Ich heiße ja auch Sofia, das bedeutet so viel wie „die Weise.“, was mein Staunen verstärkte.
Wie im Flug waren die zwei Wochen vergangen und der nächste Flieger nach Hollywood war da. Meine Mutter rief Sofia an, um mit mir telefonieren zu können. „Jona, ich hoffe du hast intensiv für deinen Auftritt geprobt. Das ist eine einmalige Chance. Ich wollte dich nur noch einmal erinnern, dass heute dein Flug nach Hollywood ist“. „Nein!“, widersprach ich. „Ich fliege nicht nach Hollywood!“. „Wie meinst du das, du fliegst nicht nach Hollywood?“. „Ich habe hier tolle Freunde kennengelernt, mit denen ich meinen eigenen Song aufnehme!“. „Jona, das wird doch niemals funktionieren und in Hollywood kannst du größer rauskommen“. „Doch, es wird funktionieren, das weiß ich!“.
So hob also der Flieger nach Hollywood ohne mich ab. Wir machten uns sofort an die Arbeit. Wobei es mir nicht so vorkam, als wäre es Arbeit gewesen, weil ich Spaß daran hatte. Ich erzählte ihnen von meiner Entscheidung. „Das ist sehr stark von dir“, sagte John. „Du wirst es nicht bereuen!“, fügte David hinzu. „Ich bin stolz auf dich, Jona! Du hast dich weiterentwickelt und Stärke bewiesen. Es erfordert Mut, auch mal auf sein Bauchgefühl zu hören“. „Ich denke es ist auch der Ort, der dazu beigetragen hat.“, ergänzte ich. „Ganz genau, du bist auch in Valentine. Das bedeutet stark sein. Du bist also in der Stadt der Stärke!“, merkte David an.
„Stärke“. So ergab sich der Titel meines Liedes. Schließlich stellten wir den Song zu Ende. Wir nahmen ein Musikvideo dazu auf und luden es auf Youtube hoch. Dieses Mal war ich darin zu sehen. Sehr schnell verbreitete sich das Video und die Resonanz war noch besser als erwartet.
Sofia hatte die Idee, dass ich mit meinem eigenen Song im Restaurant auftrete. Ich stimmte sofort zu. Das Restaurant war rappelvoll. Ich! Auf einer Bühne! Mit meinem eigenen Song! Wir spielten ihn und hatten Spaß. Ein kräftiger Applaus ertönte und es gab eine Standing Ovation. Stolz und selbstbewusst verließ ich die Bühne.