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Wer bin ich eigentlich?

Hallim Tebtoub


Das Beste an der Schule war für mich immer der Schulweg. Ich rede auf dem Weg meistens mit den Kühen, nicht etwa, weil ich verrückt bin, nein, ich denke einfach, dass sie mich besser verstehen als die meisten Menschen, nämlich gar nicht. Wenigstens tun sie nicht so, als würden sie dir zuhören, so wie die meisten anderen das so machen. Sie denken eigentlich nur an sich selbst, so wie eigentlich alle anderen auch. Warum kann ich nicht einfach zeigen, wer ich wirklich bin. Auf dem Weg gehen mir tausende von solchen Fragen durch den Kopf. Dann wünsche ich mir oft, dass ich auch ein Tier wäre. Vielleicht möchte ich aber auch einfach, dass niemand sieht, dass ich in Wirklichkeit andauernd Selbstgespräche führe. Das ist aber auch irgendwie das Problem, ich weiß nicht wirklich was ich will oder wer ich bin. Ich weiß nur, dass ich mich ständig für jemanden ausgeben muss, der ich nicht sein will, einfach nur um akzeptiert zu werden. Ich glaube das macht jeder so, nur möchte es keiner zugeben. Naja, was soll’s, ich bin erst fünfzehn und mitten in der Pubertät. Die Lehrer sagen ja, dass das die Phase ist, wo man sich selber finden muss. Ich glaube nicht wirklich, dass, wenn ich mich gefunden habe, mich irgendwo der Gesellschafft zuordnen kann. In meinem jetzigen Umfeld fühle ich mich wie ein Puzzleteil, welches in ein ganz anderes Puzzle gehört. Auf dem Schulweg kann ich diese imaginäre Jacke ablegen. Diese Jacke passt mir nämlich gar nicht und macht mich zu etwas, was ich gar nicht sein will. Ansonsten ist mein Schulweg eigentlich ziemlich langweilig – ich wohne in einem Dorf in der Nähe von Hamburg, auf dem Weg gibt es eigentlich nur Felder zu sehen. Wenn man sich entscheidet, hier zu bleiben, entscheidet man sich gleichzeitig dazu, Bauer zu werden. Eigentlich ist das ja ganz cool, weil jeder einen kennt und es sich alles wie in einer großen Familie anfühlt. Umso blöder ist es nur leider für jemanden, der in dieses Bild nicht reinpasst. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier ein Puzzle entsteht, ist gleich Null. Das heißt, man muss die Teile so zurechtschneiden, dass es doch noch irgendwie zusammenpasst. 

 

Ich betrete gleich das Schulgelände, ich hasse diesen Moment, wenn ich wieder diese hässliche Jacke anziehen muss. Wenn ich zur Klasse gehe, versuch ich immer auf den Boden zu gucken, mir sagt eh keiner Hallo. Der Boden ist grau und aus PVC, man erkennt noch leicht, wo die Platten ineinander übergehen. Ich habe früher immer versucht, auf so wenig Platten wie möglich zur Klasse zu gelangen. Mein Rekord waren sechs Platten. Irgendwann habe ich dann damit aufgehört, weil sich die anderen darüber totgelacht haben, dass ich wie ein Känguru durch den Flur gehopst bin, um so wenig Platten wie möglich zu berühren. Es ist Montag, das heißt, die ersten beiden Stunden Mathe. Wenn der Lehrer die Tür aufschließt, versuche ich immer als letzter reinzugehen, einfach, weil dann die meisten schon sitzen, so kann ich mir keinen Platz aussuchen, und die Person neben mir ist nicht ganz so entsetzt darüber, dass ich mich neben sie setze. Der größte Fehler ist, sich neben ein Mädchen oder in die letzte Reihe zu setzen. Wenn ich mich neben ein Mädchen setze, lästert sie die ganze Zeit mit ihrer Freundin über mich, aber so, dass ich es hören kann, damit ich mich schlecht fühle. Wenn ich mich in die letzte Reihe setze, muss ich damit rechnen, ständig mit Papierkügelchen beworfen zu werden oder dass meine Notizen verunstaltet werden. Während des Mathe-Unterrichts versuche ich mich möglichst nicht zu melden, ich möchte mich nicht noch mehr von den anderen abheben oder als Streber abgestempelt werden. Außerdem ist mir mal aufgefallen, dass sich unser Mathelehrer eh nicht notiert, wer sich wie oft meldet und wir eh die Note bekommen, die wir in der Arbeit geschrieben haben. Manchmal schaffe ich es dann aber doch nicht, mich zurückzuhalten, weil der Unterricht sonst einfach nicht vorangehen würde. Die Pausen sind für mich eigentlich immer am schlimmsten. Die Zeit vergeht gar nicht, weil man nichts zu tun hat. Meistens setze ich mich dann einfach auf die Bank vor dem Lehrerzimmer und male irgendwas auf meinem Collegeblock, damit es so aussieht, als hätte ich was zu tun. Wenn ich mich in den Pausen allein auf dem Schulhof bewege, kann ich relativ sicher damit rechnen, dass ich diesen nicht mehr rechtzeitig und vor allem nicht in demselben Zustand, wie ich ihn betreten habe, verlassen kann. Danach kommen Deutsch und Englisch, das sind eigentlich die Fächer, in denen man sich beteiligen sollte. Nur blöd, wenn dich nicht mal die Lehrer verstehen oder es wenigstens versuchen. Ich denke mal, dass die Lehrer an dieser Schule sich nicht noch unbeliebter machen wollen, denn Fakt ist, dass ich mich in diesen Fächern eigentlich permanent versuche zu melden, die Lehrer mich aber einfach ignorieren. 

 

Naja, wenigstens habe ich montags keinen Religionsunterricht, das ist nämlich mit Abstand das Schlimmste. Ich bin der einzige Muslim an der ganzen Schule und eigentlich auch im ganzen Dorf. Ich weiß echt nicht, warum sich meine Eltern dazu entschieden, in dieses Loch zu ziehen. Na, jedenfalls haben Schulen ja eigentlich die Aufgabe, allgemeinbildende Religionslehre durchzunehmen, aber hier wird einfach ausschließlich über Jesus und so einen Kram gesprochen. Wir kriegen sogar Hausaufgaben in der Bibel auf – aber weil mir mein Vater  dafür den Kopf abschlagen würde, habe ich mal beschlossen, diese einfach absichtlich irgendwo liegen zu lassen. Meine Religionslehrerin hat das natürlich irgendwie durchschaut, sie nimmt mich deshalb immer absichtlich dran, um mich vor den anderen bloßzustellen, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht habe. Und wegen solchen Fächern muss ich dann darum bangen, dass ich nicht versetzt werde. Warum muss eigentlich genau mir dieses Schicksal widerfahren? Oh, Mann, da kommen sie wieder, die tausend Fragen, auf die mir niemand eine Antwort geben kann. Mental bin ich schon wieder auf meinem Schulweg, dabei ist der Unterricht erst in einer halben Stunde vorbei. Mein Sitznachbar ist gerade dabei, seine Initialen in den Tisch zu ritzen und einer in der letzten Reihe muss eingeschlafen sein, das kann ich bis hier hören. Die Deutschlehrerin tippt gerade irgendwas auf ihrem Handy, das heißt, wir scheinen uns gerade in einer Stilarbeitsphase zu befinden. Ich habe gar nicht mitbekommen, was eigentlich die Aufgabe war, ist ja auch egal, sie wird sich die Ergebnisse eh nicht angucken. In solchen Situationen guck ich immer auf die Uhr und zähle die Sekunden, nur noch zehn Minuten! Mann, das geht heute irgendwie schneller als sonst. Geschafft, die Schulglocke läutet, ich frage mich jedes Mal ob das eigentlich an jeder Schule die gleiche Tonreihenfolge ist, aber ich glaube schon, denn wer denkt sich schon für jede Schule eine eigene Schulglockenmelodie aus. Außer die Bayern, die wollen sich ja immer irgendwie aus der Menge herausstechen was das Thema Schule betrifft. 

 

Ich bin jetzt wieder auf dem Feldweg, die Sonne scheint, ich habe meine hässliche Jacke wieder abgelegt, der Tag war eigentlich gar nicht so schlimm, also verglichen mit den anderen. Ich lass mir eigentlich immer relativ viel Zeit für den Rückweg, manchmal brauche ich eine Stunde obwohl man das Stück eigentlich in zwanzig Minuten schaffen müsste. Ich bin übrigens auch nicht gerade der Sportlichste, wahrscheinlich bin ich der einzige Junge auf dieser Welt, dessen Lieblingsfach nicht Sport ist. Ich habe mal in so einem Selbstmotivationsbuch, was mir meine Mutter geschenkt hat, gelesen, dass jeder in irgendwas begabt ist und darin voll aufgeht, man müsse diese Begabung nur finden. Ich würde meine eigentlich Begabung echt gerne herausfinden, weil ich mich zuhause immer nur langweile und niemand was mit mir unternehmen möchte. Bloß weiß ich nicht wo und wie ich anfangen soll zu suchen. Müssen sich eigentlich immer irgendwelche Menschen in unserer Gesellschafft für etwas ausgeben, was sie nicht sind damit dieses Gesellschaftspuzzle zusammenpasst? Gibt es einen Ort, an dem man sein kann, wer man wirklich ist. Wenn ich ihn kennen würde, würde ich alles dafür tun, so schnell wie möglich auszuwandern. Wenn ich Philosophie hätte, könnte ich meinen Lehrer alle diese Fragen stellen und er würde sie mir beantworten, wir würden bestimmt prima miteinander auskommen. Blöd nur, dass bei uns Religion bis zur elften Klasse vorgeschrieben ist. Das heißt, ich muss mich noch zwei ganze Jahre gedulden. Warum muss eigentlich mir dieses ganze Schicksal wiederfahren? Wer hat sich diesen Kram mit der Gesellschafft eigentlich ausgedacht. Während ich mir selbst gerade all diese Fragen stelle, ist mir gar nicht aufgefallen, dass der Bauer die Kühe trotz des guten Wetters diesen Nachmittag gar nicht rausgelassen hat. Auf den Wetterbericht konnte man sich auch schonmal besser verlassen. 

 

Naja, was soll’s, dieser Tag passt eh nicht in die Reihe. Heute habe ich genau siebenundvierzig Minuten gebraucht, ich weiß das so genau, weil ich eigentlich ständig auf meine Armbanduhr gucke. Ich mach das, weil ich der einzige Schüler bin, der noch kein Smartphone hat. Vielleicht ist das ja auch der Grund dafür, dass die Schüler mich ausgrenzen, auch wenn dieser Grund verdammt banal wäre. Ich konnte meine Eltern bis jetzt einfach nicht davon überzeugen, mir eins zu kaufen. Ich habe aber auch nicht wirklich einen Grund gefunden, warum ich eins brauche. Vielleicht ist das ja auch besser so. Cybermobbing soll ja noch viel schlimmer sein. In Englisch haben wir mal ein Buch über ein Mädchen gelesen, welchem dieses Schicksal wiederfahren ist. Auch wenn das Buch eigentlich ziemlich emotional geschrieben war, haben die Schüler das irgendwie nicht wirklich als Anlass gesehen, mich in irgendeiner Hinsicht besser zu behandeln. 

 

Ich schließe gerade die Tür auf, es würde nichts bringen zu klingen, weil meine Eltern montags immer bis vier Uhr arbeiten. Ein Blick in den bereitgestellten Kochtopf lässt meine bisherige gute Laune dann irgendwie doch kippen. Nudeln, meine Mutter hatte anscheinend nach jetzt vier Montagen in Folge nicht die Zeit dazu, sich was Besseres auszudenken. Ich versuche dann immer irgendwas Exotisches mit den Nuddeln zu essen, einfach damit es dann doch irgendwo interessant bleibt. Hast du schon mal Nudeln mit Nutella probiert? Schmeckt eigentlich gar nicht so schlecht. Auch beim Essen lass ich mir eigentlich immer Zeit. Auf mich wartet eh nur mein in die Jahre gekommener Computer, auf dem es nur noch möglich ist, ein langweiliges, sich ständig wiederholendes Spiel zu spielen. 

 

In der Woche ist eigentlich sonst nicht wirklich etwas Interessantes passiert. Jeder Tag war irgendwie wie der andere. Bis auf Donnerstag. Der Tag ging eigentlich gar nicht so schlecht los, das fing schon wieder mit dem guten Wetter an, ich hatte in der ersten vier Stunden Geografie und Kunst, Fächer in denen ich mich eigentlich vollends zurückziehen kann. Das Beste ist eigentlich, dass wir in den Fächern mit den Parallelklassen gemischt sind, weil man auch stattdessen Musik und Geschichte hätte wählen können. Die Schüler aus den anderen Klassen können mich zwar auch nicht leiden, aber wenigstens zeigen sie das einem nicht auf eine so direkte Art und Weise, sie ignorieren mich einfach. Das ist eigentlich auch das, was ich mir von meinen Klassenkameraden wünschen würde. Aber irgendwie ist es bei mir immer so, dass kein Tag komplett ohne Probleme vonstatten geht, der Tag war bis jetzt einfach zu gut verlaufen, das erweckt schon ein leichtes Misstrauen in mir. In Deutsch ist dann was passiert, was alles aus dem Ruder hat laufen lassen. Ich wusste, dass wir die Klausur wiederbekommen würden. Mittlerweile kann ich meine Gefühle eigentlich unter Kontrolle halten, wenn ich schlechte Noten bekomme. Dafür wiederfährt mir das in den sprachlichen Fächern einfach zu oft. Ich habe einfach keine Begabung in Deutsch, vielleicht liegt es daran, dass mein Vater nicht aus Deutschland kommt, und die Sprache dementsprechend nicht wirklich beherrscht. Naja wenn ich Glück habe wird’s eine Vier. Der Lehrer hat die Tür aufgeschlossen und ich stell mich schon wieder ganz hinten an, damit ich als letzter die Klasse betreten kann. Ach so ein Mist, es ist nur noch ein Platz neben dem Mädchen frei, welches eigentlich am beliebtesten ist, mich aber dennoch mit Abstand am meisten verabscheut. Alles lieber als das. Das soll dann wohl das Ereignis sein, welches diesen Tag dann doch noch ruiniert. 

 

Während ich mich setze höre ich schon, wie sie gerade mit ihrer Freundin darüber lästert wie eklig ich bin. Unsere Lehrerin fängt jetzt damit an uns zu sagen, wie enttäuscht sie allgemein von der Arbeit war und dass wir uns wirklich besser vorbereiten sollten. Weil das eigentlich so ziemlich jeder andere Lehrer auch so macht, hören sich das die meisten eh nicht mehr an, es wird eh niemand etwas an seiner Arbeitsweise verändern. Naja dann hat sie den Notendurchschnitt an die Tafel geschrieben, sie hat auch aufgeschrieben von welcher Note es wie viele gab. Ich hasse das, weil dann irgendwie immer die große Fragerei losgeht, wer was hat, wenn die Schüler ihre Arbeiten zurückbekommen haben. Es gibt eine Sechs sonst eigentlich hauptsächlich Vieren und Dreien. Ich fühl mich gerade eigentlich relativ zuversichtlich, weil ich die Arbeit jetzt eigentlich auch nicht als so schwer empfunden habe. Die Lehrerin fängt jetzt an, die einzelnen Klausuren verdeckt auf unsere Tische zu legen. Ich guck mir meine Note immer so schnell und unauffällig wie möglich anzugucken, damit ich sie anschließend ganz tief in meine Schultasche stecken kann. Sich die genaue Bepunktung anzuschauen ist Zeitverschwendung, eine Reklamation würde eh nichts bewirken, weil die Lehrer bei uns eigentlich grundsätzlich keine Fehler eingestehen, erst recht nicht bei mir. 

 

Sechs, hä? Jetzt guck ich mir doch nochmal die Benotung an, also eigentlich müsste ich doch eine Vier haben. Sie hat mir ernsthaft zwei ganze Noten wegen meiner vielleicht nicht unbedingt schönsten Schrift abgezogen. Was dann folgte, hat diesen Tag zu meinem bisher schlimmsten gemacht, der mir jemals wiederfahren ist. Die Lehrerin hat mich von ihrem Pult aus gefragt welche Note ich nochmal geschrieben habe, sie hätte vergessen diese zu notieren. Das schlimmste ist nur, dass sie mich das so laut gefragt hat, dass jetzt alle Schüler ihre Blicke auf mich gerichtet haben. Was soll ich jetzt machen? Ich habe den einzigen Ausweg gewählt und mich dazu entschieden aufzustehen, um der Lehrerin das unter vier Augen zu sagen. Meine Sitznachbarin hat mir in der letzten Sekunde ein Bein gestellt, mir die Arbeit aus der Hand gerissen und durch die Klasse gebrüllt, dass ich eine Sechs habe. Alle fangen jetzt an zu lachen, ich sehe sogar wie die Lehrerin versucht ihr Schmunzeln zu verbergen. Das hat sie mit Absicht gemacht, anders kann ich es mir nicht erklären. Ich habe meiner Sitznachbarin wieder die Arbeit aus der Hand gerissen und zerreiße sie gerade in tausend Stücke. Die Lehrerin fand das irgendwie nicht so lustig, sie meinte, dass der Unterricht für heute beendet wäre und hat mich dazu aufgefordert zu ihr zu kommen. Ich bin doch sonst nicht so einer, was hat mich bloß dazu gebracht? Das war so etwas von unüberlegt. Jede Entschuldigung kommt anscheinend zu spät. Ich habe alles versucht, aber meine Lehrerin besteht darauf ein Elterngespräch zu führen. Endet meine schulische Laufbahn hier? Habe ich jetzt alles vermasselt? Wie soll ich das meinen Eltern erklären, wie soll’s überhaupt weitergehen? Warum habe ich vergessen, heute meine hässliche Jacke anzuziehen? War ich heute der, der ich wirklich bin? 

 

Ich bin wieder auf dem Rückweg, das ist der Grund warum mir gerade wieder tausende von Fragen durch den Kopf gehen. Die Kühe haben versucht, sich so weit wie möglich von mir zu entfernen, wahrscheinlich, weil ich gerade wie ein Idiot rumschreie und das Bedürfnis dazu habe, alles, was mir im Weg steht, zu verunstalten. Ich glaube, ich lass mir heute zwei Stunden Zeit. Warum beende ich das nicht eigentlich, ich meine wenn man ein Puzzleteil hat, was nicht ins Puzzle passt dann kann man ja auch nichts damit anfangen. Ehrlich gesagt möchte ich auch gar nicht wissen, wie es jetzt weitergeht. Ich sollte vielleicht erstmal schauen, wie meine Eltern auf diese Nachricht reagieren. Dann kann ich mich immer noch dazu entscheiden, die ganze Fragerei zu beenden. 

 

Meine Eltern waren jetzt nicht so erfreut, aber irgendwo haben sie dann wahrscheinlich doch nicht so reagiert, wie die meisten es getan hätten, oder ich es erwartet hätte. Ich habe ihnen direkt gesagt, dass meine Lehrerin ein Gespräch mit ihnen führen will, ich habe ihre Reaktion aber gar nicht abgewartet und ihnen keine Zeit gelassen, sich dazu zu äußern. Ich habe erklärt, wie es dazu gekommen ist und warum ich denke, dass ich nicht in dieses Puzzle passe und was mir noch alles für Fragen durch den Kopf gehen und wie unfair ich das hier alles finde. Das war das erste Mal, dass ich mich dazu überwunden habe, ihnen alle meine Probleme zu berichten. 

 

Sie sind die ganze Zeit über erstaunlich ruhig geblieben und haben eigentlich nicht widersprochen. Sie waren bloß entsetzt darüber, dass ich mich nicht schon früher an sie gewendet habe. Mein Vater meinte dann am Ende meines Monologs, dass das doch ganz einfach sei. Wenn ich nicht in dieses Puzzle passe, soll ich so lange suchen, bis ich es gefunden habe. Ich werde die Schule wechseln, gleich nächste Woche und das Elterngespräch wird auch nicht stattfinden.  Ist das ein Neuanfang? 

 

Ich habe meine alte hässliche Jacke, die eigentlich gar nicht zu mir passt, in die Altkleidersammlung geworfen. Ich hoffe mal, dass ich sie auf der neuen Schule nicht brauchen werde. Heute ist mein erster Schultag. Ich werde eine Schule im Zentrum von Hamburg besuchen, der Schulweg dauert zwar fast zwei Stunden, ist dafür aber bestimmt um einiges spannender. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in dieses Bild passe ist jedenfalls schon mal um einiges größer. Mein neuer Klassenlehrer ist gleichzeitig auch mein Philosophielehrer und auf mich macht er schon mal einen sehr sympathischen ersten Eindruck. Die Schüler scheinen mich auch nicht als sonderbar zu empfinden. Obwohl ich mich als Erster hingesetzt habe, haben sich nach einer kurzen Zeit freiwillig zwei neben mich gesetzt. Ich glaube, ich kann endlich sein wer ich bin und wer ich sein will. Ich glaube sogar, dass ich vielleicht mein Puzzle endlich gefunden habe.