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Der Traum

Viktoria Krüger

Die glücklichen Gewinner des Schreibwettbewerbs „Leben in der Quarantäne“. 

Jede*r Gewinner*in erhält einen Buchgutschein über 40 Euro.


Ich renne los. Wohin? Das weiß ich auch nicht. Ich renne immer weiter, bis ich vor einem Abgrund stehe. Einem tiefen, schwarzen, bedrohlichen Abgrund. Bedrohlich? Was bedeutet dieses Wort überhaupt? Ist etwas bedrohlich, nur, weil wir nicht wissen, was sich dort befindet? Ich weiß es nicht. Genau genommen weiß ich gar nichts mehr. Wohin soll ich nun? Zurück zu dem Haus? Oder hinunter in den unbekannten Abgrund? Ich weiß es nicht, mein Kopf dröhnt. Alles dreht sich und ich spüre ein Stechen in der Brust. Die Entscheidung fällt mir nicht schwer. Ich entscheide mich wie immer genau gleich. Jedes verdammte Mal. Jedes Mal, wenn ich erneut an diese Stelle komme, wähle ich den Abgrund. Ich lehne mich vor, immer weiter. Ich sehe in den tiefen, schwarzen Höhlenschlund und spüre die Angst, die meinen Körper durchfährt. Angst, nichts als pure Angst. Mein Kopf dröhnt immer stärker. Tränen laufen mir über die Wangen. Heiße, nasse Tränen. Ich schließe kurz die Augen und öffne sie dann wieder. Gedanken wirren in meinem Kopf umher. Mit einem Mal höre ich einen ohrenbetäubenden Lärm und lasse plötzlich alles los, was mich noch hier hält. Ich beuge mich weiter nach vorne, ein letzter Atemzug. Ein Lächeln bildet sich auf meinen Lippen und ich lasse mich nach vorne in die Tiefe fallen. Ich spüre die Kälte, alles um mich herum färbt sich pechschwarz. Ein Gefühl der Freiheit überkommt mich.

Ich schrak auf und saß schweißgebadet und weinend in meinem Bett. Es fühlte sich so an, als wäre meine Kehle zugeschnürt. Ich konnte kaum atmen, versuchte zu schreien. Es ging nicht. Ich schlug gegen die Wand, aber niemand hörte mich. Ich war allein, vollkommen allein. Schmerzerfüllt schloß ich die Augen und versuchte, meine Atmung zu kontrollieren. Ich fing an mich zu beruhigen, meine Brust hob und senkte sich langsam. Dann öffnete ich die Augen und saß in meinem lichtdurchfluteten Zimmer. Alles war wieder normal, als wäre nie etwas vorgefallen. Mein Blick fiel auf die Uhr über dem Schrank. 08:29 Uhr. Seufzend drehte ich mich auf die Seite und starrte eine Zeit lang ins Leere. Dieser Traum. Er kam immer wieder und er endete immer genau gleich. Das machte mich wahnsinnig.

Ein schmaler Fußweg verläuft seitlich am Haus entlang an einer Hecke vorbei bis zum perfekt gepflegten Garten auf der Rückseite. Vor der Terrassentür steht ein Tisch mit sechs Stühlen. Ein Steinpfad führt zwischen üppig sprießenden Blumen und Ranken zu zwei Laubbäumen, die direkt vor dem Zaun stehen. Ich mache einen vorsichtigen Schritt nach links, bis ich gerade eben durch das Glas der Terrassentür sehen kann. Direkt hinter der Tür steht ein schwarz gekleideter, maskierter Mann, circa 1,80m groß. Erschrocken ducke ich mich weg. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich presse die Stirn gegen die Wand. Es riecht nach Staub, Hitze und meiner eigenen Angst. Alles ist gut, sage ich mir. Der Mann hat mit dem Rücken zu mir gestanden, er kann mich unmöglich gesehen haben. Ich beiße mir hart auf die Lippe. Ich kann jetzt nicht weg. Nicht, ohne zu sehen, was dort passiert. Ich nehme all meinen Mut zusammen und schaue nochmal durch die Glastür. Meine Augen brauchen einen Moment um zu erkennen, dass es sich bei diesem Raum um die Küche handelt. Sie ist moderner eingerichtet als meine eigene, aber sonst nicht unähnlich – quadratisch geschnitten und groß. Unwillkürlich nehme ich zwei auf dem Boden liegende, ältere Menschen wahr – beide tot und aufs Übelste zugerichtet. Aber der maskierte Mann… Er ist weg. Er steht nicht mehr mit dem Rücken zur Glastür. Stocksteif stehe ich da und traue mich kaum zu atmen. Was ist hier nur passiert? Plötzlich nehme ich ein Rascheln hinter mir wahr. Ich riskiere einen kurzen Blick nach hinten und da sehe ich ihn. Den Mann. Ohne weiter nachzudenken renne ich los. Und das wiederholte sich jede Nacht.

Ich hatte mich so lange nicht gerührt, dass Merlin, mein Kater, der die Nacht mit mir auf meinem Bett verbracht hatte, gähnte, seinen gefleckten Rücken durchbog und davonstolzierte. „Ja, geh nur“, rief ich ihm nach. Ich schälte mich aus meinem Bett und latschte barfuß durch den Flur. Mein Haus war sparsam möbliert und vor allem: sauber. Im Wohnzimmer standen nur zwei graue Sofas von Ikea, ein großer Fernseher und ein kleiner, weißer Tisch. Es gefiehl mir, dass ich überall quer durchlaufen konnte, ohne mir irgendwo den Zeh anzustoßen. Alle Wände waren noch in demselben Weiß, wie bei meinem Einzug. Ich wollte sie nie streichen, ich habe es lieber schlicht. Wie der Rest des Hauses war auch das relativ große Badezimmer ordentlich. Unbewusst rückte ich die Badematte gerade, bevor ich in die Dusche stieg.

Später, sauber und angezogen, kochte ich mir eine Kanne Kaffee. Abwesend lehnte ich an der Arbeitsplatte, während ich darauf wartete, dass der Kaffee durchlief. Die Küche war nicht sonderlich groß, aber sie hatte alles, was sie brauchte. Eine Hintertür führte in den Garten und in der Tür war eine Katzenklappe, welche ich selber eingebaut hatte. Merlin, welcher soeben aufgetaucht war, duckte sich einmal und sprang hindurch. „Schönen Tag dir noch“, murmelte ich und setzte mich mit meinem Laptop und einem Becher Kaffee an den kleinen Tisch im Wohnzimmer. Ich schlug die Beine übereinander und checkte meine Mails. Kaum hatte ich die erste Nachricht geöffnet, klingelte mein Telefon. „Kat hier“, meldete ich mich, während ich las. „Ich bins!“ Es war Anna. „Was gibt‘s, wieso rufst du an?“, fragte ich etwas verwundert. „Ich wollte mich mal erkunden, wie es dir so geht und was du so treibst. Wir haben uns ja echt ewig nicht mehr gesehen!“, stellte sie fest. „Ach du, mir geht‘s ganz gut. Ja, was will man machen. Diese Coronakrise ist wirklich schlimm. Aber sonst nichts Besonderes los hier, ich schreibe immer noch an meinem Buch. Und bei dir? Wie geht es dir?“ „Gut, danke. Läuft den Umständen entsprechend ganz gut. Nervt halt nur, dass wir nicht rausgehen dürfen. Ich fühle mich so eingeschränkt dabei, weißt du. Aber wie läuft es mit deinem Buch? Bist du schon weitergekommen? Du bist nämlich wirklich mit Abstand der kreativste Mensch, den ich kenne!“, erkundigte Anna sich. „Ja, ziemlich weit sogar. Läuft momentan ganz gut, habe ja jetzt genug Zeit zum Schreiben“, log ich. Ich war absolut nicht weitergekommen, seit einer Woche hatte ich die totale Schreibblockade. Wir redeten noch eine ganze Weile über die verschiedensten Dinge. „Du, Kat, geht es dir wirklich gut? Ich weiß ja, dass du momentan deinen Psychotherapeuten nicht sehen kannst und da mache ich mir einfach Sorgen um deinen Zustand, weißt du…“, gestand sie. „Ja Anna, es geht mir gut. Ich bin eine erwachsene, 27-jährige Frau. Mach dir keine Sorgen. Ich muss jetzt auch langsam aufhören, ich habe noch einiges zu tun. Du weißt schon, das Buch und so. Danke für deinen Anruf. Wir hören uns.“ Und damit beendete ich das Gespräch.

Zehn Minuten später saß ich auf dem Sofa im Wohnzimmer und versuchte mich weiter an meinem Buch. Bei dieser einen Stelle kam ich einfach nicht weiter. Ich hatte keine Ideen, mein Kopf war einfach leer. Abwesend schaute ich aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne und es war keine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Die Bäume fingen langsam an zu blühen und die Vögel zwitscherten fröhlich umher. Normalerweise wäre ich bei so einem schönen Wetter rausgegangen um zu spazieren oder ich hätte mir ein ruhiges Plätzchen gesucht und etwas gelesen, aber bei der momentanen Situation riskierte ich lieber nichts und blieb einfach daheim. Es reicht schon, wenn wenigstens Merlin seinen Spaß draußen hatte. Da ich seit fünf Minuten nur aus dem Fenster guckte und nichts zustande brachte, beschloss ich, es nochmal bei meiner Mutter zu versuchen. Seit knapp einer Woche versuchte ich, sie oder meinen Vater zu erreichen, aber es ging nie jemand ran. Ich hatte die beiden jetzt schon fast einen Monat lang nicht gesehen. Und ich konnte auch nicht zu ihnen fahren. Sie waren 56 und 59 Jahre alt und somit gefährdeter als ich, ich wollte kein Risiko eingehen. Es klingelte etwa acht Mal, dann ging die Mailbox ran. Ich runzelte die Stirn. Es war ungewöhnlich für meine Mutter, nicht an ihr Telefon zu gehen oder wenigstens später zurück zu rufen. Ich probierte es nochmal. Acht Mal klingelte es und wieder die Mailbox. Ich beschloss, die Nummer meines Vaters zu wählen. Zu meiner Überraschung landete ich direkt auf der Mailbox. Es war schon komisch, wo sollten die beiden momentan stecken, wenn nicht Zuhause? Und wenn sie doch Zuhause sein müssten, wieso ging dann niemand ans Telefon?

Ich bin völlig außer Atem, aber ich renne trotzdem weiter. Immer weiter und weiter, ohne mich umzudrehen. Ich weiß nicht wohin, einfach geradeaus. Immer weiter. Ich versuche zu schreien, aber mein Mund ist trocken, meine Kehle zu. Ich bekomme keinen einzigen Laut raus. Das darf nicht passiert sein, das darf einfach nicht wahr sein. Es ist meine Schuld, alles meine Schuld. Ich hätte da sein müssen, ich hätte es verhindern können. Ich hätte nachdenken müssen. Ich wusste doch, dass etwas nicht stimmt! Wieso habe ich nichts gemacht? Bleib ruhig, sage ich mir immer und immer wieder. Aber es geht nicht, ich kann nicht ruhig bleiben. Nicht jetzt, nicht hier. Ich muss weiter, ich muss hier weg. Noch etwa 200 Meter, dann bin ich bei dem Abgrund. Ich laufe immer weiter. Kurz vor dem Abgrund bleibe ich stehen. Ich drehe mich nicht um. Ich kann nicht klar denken, mein Kopf tut weh. Das Stechen, ich spüre es in der Brust. Es hört nicht auf. Ich überlege nicht weiter, sondern springe. Springe hinunter in den Abgrund. Ein weiteres Mal.

Erschrocken setzte ich mich auf. Ich saß immer noch auf dem Sofa, es ist alles wie vorher. Atmen, sagte ich mir. Atmen. Ich fing an, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen und mich zu beruhigen. Ich saß sehr lange so da, bis ich bemerkte, dass Merlin mich beobachtete. Er miaute beharrlich und strich mir um die Beine, als ich aufstand und in die Küche ging. Schweigend fütterte ich den Kater. Eine Weile lehnte ich an der Arbeitsplatte und sah ihm beim Fressen zu, ohne ihn wirklich zu sehen. Ich wusste, dass ich mir nicht so viele Gedanken über diese Träume machen sollte. Es waren schließlich nur Träume, was sollte schon groß dabei sein? Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal sah ich, wer diese Menschen auf dem Boden waren. Diese toten Menschen. Es waren meine Eltern. Und der Gedanke, dass ich sie seit einer Woche nicht mehr gesehen habe und jetzt sowas träumte, schnürte mir die Kehle zu. Albträume war ich ja gewohnt. Aber das konnte doch alles kein Zufall sein? Ich versuchte noch einmal, sie anzurufen. Mailbox, etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Ich versuchte mir einzureden, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte. Das alles ließ sich bestimmt ganz einfach erklären. Ich dachte eine Weile nach und beschloss im Endeffekt, mich mit etwas anderem zu beschäftigen. Mit etwas, was mir immer geholfen hat. Ich schnappte mir meine Gitarre aus dem Schlafzimmer, setzte mich ins Wohnzimmer und begann zu spielen. Wenn ich Musik machte, verging die Zeit immer wie im Fluge. Und so auch dieses Mal. Ich unterbrach das Spielen nur einmal, und zwar um etwas zu essen. Sonst spielte ich durchgehend bis es Abend wurde. Ich legte die Gitarre beiseite und schaltete den Fernseher ein. Merlin kam gerade durch die Katzenklappe hinein und fraß das Übriggebliebene aus seinem Napf. „Das reicht aber für heute“, rief ich ihm vom Sofa aus zu. Er blickte auf und begab sich geradewegs neben mich auf das Sofa. „Was passiert nur mit der Welt?“, murmelte ich in mich hinein. Merlin fing an zu schnurren, sobald ich mit meiner Hand durch sein Fell fuhr. „Wenigstens bekommst du von dem Ganzen hier nicht wirklich etwas mit, hmm“, flüsterte ich ihm zu. Stunden auf dem Sofa vergingen und ich schlief ein. Am nächsten Morgen wachte ich etwa gegen 9:30 auf. Es schien wie ein ganz gewöhnlicher Morgen, es war ruhig. Es war zu ruhig. Irgendwas war anders. Ich träumte heute Nacht nichts. Die heutige Nacht handelte nicht von einem maskierten Mörder, toten Menschen oder einem Abgrund. Heute Nacht war eine ruhige Nacht.

Den Vormittag verbrachte ich mit Routineaufgaben. Ich räumte das Haus ein wenig auf (auch wenn es kaum etwas zum Aufräumen gab), kochte etwas zu Essen und versuchte es nochmal bei meinen Eltern. Nichts, nur die Mailbox. Wieder. Ich fasste einen Entschluss. Ich würde zu den beiden fahren, noch heute. Ich hielt das nicht mehr aus, so unwissend zu sein. Es gab keinen Grund für sie, so lange nicht erreichbar zu sein und ich machte mir langsam wirklich Sorgen. Die Menschen sollen zwar zuhause bleiben und nur für wirklich Wichtiges, zum Beispiel um Lebensmittel zu besorgen, das Haus verlassen, für mich war das hier jetzt aber wichtig. Es war 14 Uhr und ich hörte in die Nachrichten rein. Nicht wirklich etwas Neues. Die Zahl der Neuinfektionen hat sich nicht gesenkt, teilweise war sie sogar gestiegen. Ich füllte noch schnell Merlins Napf auf, schnappte mir eine Schutzmaske, welche ich direkt aufsetzte, und die Autoschlüssel und verließ das Haus. Ich stieg ins Auto und fuhr los. Meine Hände fühlten sich taub an auf dem Lenkrad. Der Himmel war voller grauer Wolken, es könnte jeden Moment anfangen zu regnen. Vor mir lagen noch etwa Zehn Minuten Fahrzeit. Ich entspannee meine Muskeln und schaltete das Radio ein.

Ich fuhr geradewegs auf die Einfahrt meiner Eltern zu. Mittlerweile war der Himmel wieder etwas aufgeklart, wirklich hell war es trotzdem noch nicht. Ich parkte direkt vor der Haustür und stieg aus dem Wagen. Der Rasen war ordentlich gemäht, aber ansonsten war die Anlage phantasielos. Zwei Fahrräder lehnten an der Wand, daneben stand ein verrosteter Grill, der aussah, als wäre er länger nicht benutzt worden. Wurde er auch nicht. Es gab große Fenster, die nach hinten hinausgingen und eine Hintertür, von der aus drei Stufen auf eine Terrasse führten. Ich ging zur Haustür, meine Maske natürlich immer noch aufgesetzt, und klingelte. Ich wartete, klingelte nochmal, wartete und wartete, aber nichts passierte. Keine Reaktion. Es wirkte so, als sei keiner zu Hause. Aber wo sollten sie denn schon sein? Vor allem jetzt. Ich klingelte noch einmal und als keine Reaktion kam, beschloss ich, an die Hintertür zu gehen. Das habe ich immer gemacht, als ich noch klein war. Meine Eltern hatten mich so schneller bemerkt. Ich ging den Kiesweg entlang, bis ich in den Garten kam. Ich stellte mich vor die Terrassentür und wollte gerade klopfen, als ich schlagartig erstarrte. Meine Eltern… Sie waren tot. Sie lagen dort, vor mir auf dem Boden. Tot.

Wenn das schlimmstmögliche Ereignis endlich eintritt, überkommt einen eine Art eiskalte Ruhe. Alles wird gefährlich still. Ich hielt die Luft an. Ich konnte nicht mehr atmen. Mein Kopf… er fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Ich wollte gerade die Tür aufschieben, als ich ein Rascheln hinter mir wahrnahm. Ich drehte mich um. Der maskierte Mann. Er befand sich gute 50m weiter weg und kam geradewegs auf mich zu. Ich fing an zu laufen. Der Traum. Der Traum ist zur Wirklichkeit geworden. Ich habe es vorhergesehen. Aber Moment, das bedeutet auch… Der Abgrund.

– Viktoria