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Der Zeitvertreib

Sofia Seddiq Zai

Die glücklichen Gewinner des Schreibwettbewerbs „Leben in der Quarantäne“. 

Jede*r Gewinner*in erhält einen Buchgutschein über 40 Euro.


12:08
Es glimmerte auf der digitalen Uhr, welche über ihrem Schreibtisch hing. Sie hatte die Uhr damals gekauft, weil sie keine Lust gehabt hatte bei einer gewöhnlichen Uhr die Uhrzeiger ablesen zu müssen. Mit der digitalen Uhr hatte sie sich insgesamt einige Sekunden gespart. Zumindest hatte sie das damals gedacht. Sie wünschte sich nun sie hätte es besser gewusst und sich damals für die gewöhnliche Uhr entschieden. Die Millisekunde mehr, die sie brauchte um die Uhr zu lesen, wäre ein Moment mehr den sie vergeuden konnte und sie so noch näher zum Ende dieses ganzen Wahnsinns bringen konnte. Natürlich gab es andere Möglichkeiten die Zeit totzuschlagen- in den letzten Wochen hatte sie mehr als nur einige dieser Möglichkeiten selbst ausprobiert- aber inzwischen war sie wirklich dankbar für jede Art von Zeitvertreib. Natürlich hätte sie ihre Zeit auch produktiv verbringen können, aber es ging einfach nicht. Sie war nie jemand gewesen dem es möglich war von zu Hause aus zu lernen, geschweige denn zu Arbeiten. Es lag nicht einmal daran, dass sie sich ablenkte, inzwischen wäre das Arbeiten oder das Lernen die Ablenkung gewesen, es lag viel mehr daran, dass sie sich einfach nicht konzentrieren konnte in ihren eigenen vier Wänden.

Ihre eigenen vier Wänden von den sie langsam, aber sicher keinen Zentimeter mehr sehen konnte, dennoch konnte sie nicht entkommen. Nein, nicht jetzt wo Corona auf dem Vormarsch war und die Menschen auf der ganzen Welt sich sozial distanzieren sollten. Sie hatte sich selbst niemals als besonders sozial eingeschätzt, wenn sie ehrlich war, hätte eine solche Quarantäne sich vor einigen Monaten noch angehört wie das Paradies auf Erden, doch es war schnell die Hölle auf Erden geworden. Sie vermisste ihre Freunde, sie vermisste die Uni, Himmel sie vermisste sogar den Bahnverkehr am Morgen! Natürlich, war es nicht so, dass sie komplett abgeschottet war. Sie konnte noch raus zum Spazieren und Einkaufen, aber jedes Mal wenn sie einen Schritt aus der Tür tat, würde ihr die Sonne ins Gesicht lachen und sie wurde begrüßt werden von einer Reihe von Menschen, die eigentlich zu Hause sein sollten. Das erinnerte sie nur daran, dass sie noch viel länger zu Hause gefangen sein würde, weil anscheinend kein anderer einen Fernsehen oder ein funktionierende Internetverbindung besaß außer ihr. Den Leuten schienen die Bilder von den Sägen und den verzweifelten Hilfskräften kalt zu lassen. Es machte sie nur wütend, deshalb vermied sie das Rausgehen. Nicht nur, dass sie es sowieso sein lassen sollte, sondern auch weil es sie nur noch mehr an ihre derzeitige Situation erinnerte. Ja, ihre derzeitige Situation- es fühlte sich nicht mehr an wie ihr Leben. Viel mehr erinnerte es sie an ein Sciencefiction Film, in welchem die Erde kurz vor der Apokalypse stand. Sie war keine richtige Person mehr, sondern nur eine Rolle im Film und dann nicht einmal eine wichtige Rolle. Sie konnte sich schon fast von außen sehen: Wie sie morgens aufstand- Moment das tat sie nicht mehr, die meiste Zeit des Tages verbrachte sie sowieso in ihrem Bett, ohne aufzustehen.

Jedenfalls war der Punkt, dass sie nicht mehr Herr über eigenes Leben war. Vielmehr ein objektiver Dritter der das ganze beobachtete. Es fühlte sich einfach surreal an. All das wäre gut und schön gewesen, wenn die Zeit schneller vergehen würde. Aber nicht nur das öffentliche Leben stand still, anscheinend hatte es auch die Zeit erwischt. Die Minuten wollten einfach nicht vergehen. Es fühlte sich inzwischen schon an wie Jahrzehnte seit sie das letzte mal ihr normales Leben genießen konnte und das wurde sich sobald wohl auch nicht ändern. Es war wie in der Schule damals, wenn man mal wieder in der langweiligen Mathestunde saß und die Zeiger der Uhr sich einfach nicht noch vorne bewegen wollten. Nur war es keine langweilige Mathestunde, sondern es war noch viel schlimmer, denn in der Schule wusste man das es nach neunzig Minuten vorbei war und man in Pause gehen konnte. Hier war einfach kein Ende in Sicht. Wer wusste schon, ob es noch Wochen und Monate so weitergehen würde? Nicht einmal Experten waren sich sicher. Das waren keine rosigen Aussichten. Sie wünschte sich, das alles wäre nur eine neunzigminütige Mathestunde, die sie aushalten musste. Das würde alles viel einfacher machen.

Sie lag auf ihrem Bett, welches bei weitem nicht mehr so bequem anfühlte wie noch vor ein paar Wochen – sie wussten es waren Wochen, aber es fühlte sich an wie Jahre zuvor- und überlegte sich, was sie tun konnte, damit die Zeit vergehen würde. Ihre Lernunterlagen lagen schon wieder vergessen auf dem Schreibtisch, ein weiterer Versuch zu lernen kläglich gescheitert. Sie könnte kochen, aber das wollte sie nicht, denn es gab nur ein Gericht das sie derzeit wirklich essen wollte und weil die Menschheit, so verrückt wie sie war, die Regale der Supermärkte leer geräumt hatte von jeder Art von Nudeln, war Spaghetti mit Tomatensauce nun ein weit entfernter Traum für sie. Dabei hatte sie immer angenommen, dass es ein Naturgesetz gab, welches besagte, dass die Spaghetti in den Supermärkten den Studierenden gehörten. Aber anscheinend galten solche Naturgesetze in Krisenzeiten nicht mehr. Sie würde also keine Spaghetti bekommen und deshalb wollte sie nicht kochen. Sie wurde wohl wieder von draußen bestellen. Jemand musste ja irgendwie die Restaurants unterstützen. Jedenfalls sagte sie sich das selbst.

Wenn sie ehrlich war wusste sie nicht wieso sie nicht einfach für sich selbst kochte. Hatte sie nicht immer von all den Dingen geschwärmt, wie Kochen, die sie tun würde wenn sie einmal die Zeit hatte? Jetzt hatte sie die Zeit und tat nichts davon. Es war wirklich lächerlich. Vielleicht lag es daran, dass alles dicht gemacht hatte? Die Angst und Sorge? Oder vielleicht hatte Corona es irgendwie geschafft die ganze Lebensenergie aus ihr raus zu saugen. Sie hatte wenig Kraft für irgendwas und deshalb verbrachte sie den Tag im Bett. Nur verging die Zeit dort nicht. Es war ein ewiger Teufelskreis. Vorbei waren die Tage in denen ihr Bett ihre große Liebe war. Sie hatte bereits Pläne sich ein neues zu holen, wenn sobald all das vorbei war. Sie schaffte es zwar noch mit Freunden und Familie zu telefonieren, doch es war nicht dasselbe. Auch schienen sie beschäftigt mit lernen, was sie nur noch mehr an das erinnerte was sie tun sollte, aber einfach nicht konnte, sodass sie es wiederum vermied mit ihren Freunden zu sprechen. So verging die Zeit noch langsamer und sie fing an Menschen zu vermissen. Sie wusste zumindest, dass sie nach alldem menschliche Interaktion nie wieder für selbstverständlich erachten würde. Zumindest war es noch nicht so schlimm, dass sie einer der Idioten draußen war und sich nicht sozial distanzierte, und schon der Gedanke machte sie wieder wütend… Das schlimmste jedoch war, dass nach all den kalten Wintermonaten ohne auch nur einen Hauch von Sonnenstrahlen sehen zu können, die Sonne einfach nicht mehr weggehen wollte. Sie strahlte so breit wie nie als würde sie die Menschheit verspotten wollen. Es wurde sie nicht einmal überraschen, wenn dem so war. Sie war sich sicher, dass die ständige Sonne ein Grund dafür war, dass die Leute nicht zu Hause blieben. Es schien sie nicht zu stören, dass sie ihre Mitmenschen so in Gefahr brachten. Nicht das man etwas anderes erwarten konnte, wenn sie ganz ehrlich war. Menschen waren schon immer egoistisch und-!

Okay, Pause. Einmal tiefdurchatmen. Sie seufzte. Sich über all das zu beschweren würde die Zeit, auch nicht schneller vorbei gehen lassen, das war ihr bewusst. Jetzt war es Zeit, dass die gesamte Menschheit zusammen kam und Menschen sich gegenseitig halfen, nicht dafür dass sie sich über andere Menschen aufregte. Wenn zum Helfen gehörte, dass sie einfach mal für einige Wochen zu Hause blieb, dann war das doch wirklich das Mindeste was sie tun konnte. Im Vergleich zu den Jobs der Ärzte, Kassierer und so vielen anderen war ihre Aufgabe doch ein Kinderspiel. Diese Menschen waren offensichtlich nicht dumm, sondern trugen ihren Beitrag zu einer funktionierenden Gesellschaft. Es war doch noch nicht alle verloren um die Menschheit. All das war doch nur halb so schlimm. Im Vergleich zu den Diensten die Menschen früher für ihr Land verrichten musste, war das ein Zuckerschlecken, Sie konnte etwas Zeit zu Hause verbringen. Das war nicht das Ende der Welt. Bald wurde sie wieder ihr normales Leben genießen können.

Wieder blickte sie hoch zur Digitaluhr über ihrem Schreibtisch und wie um sie zu verspotten glimmerte die Anzeige- 12:08
Sie vergrub ihr Gesicht in ihrem Kissen und fluchte. Das war doch alles ein schlechter Film.

 

– Sofia Seddiq Zai, 21 Jahre.