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Armer Hund und die Geschichte von Neutronen

Alicia M. Voigt

Die glücklichen Gewinner des Schreibwettbewerbs „Leben in der Quarantäne“. 

Jede*r Gewinner*in erhält einen Buchgutschein über 40 Euro.


Ich habe Isolation gegooglet.

 

Wikipedia sagt: Isolation bezieht sich in der Biologie auf die sogenannte reproduktive Isolation, dies ist die Unterbrechung des Genflusses zwischen Populationen derselben Art. Diese können anschließend mit Mitgliedern anderer Populationen keine fruchtbaren Nachkommen mehr zeugen, wie es die biologische Definition einer Art verlangt. Sie ist damit ein wesentlicher Vorgang bei der Bildung neuer Arten.

 

Ok.

 

Der Duden sagt: Absonderung, Getrennthaltung als Beispiel: die Isolation von Typhuskranken.

 

Ja. Wir haben alle Typhus.

 

Ich klappe den Laptop zu und schiebe ihn über den schweren, dunklen Bauerntisch. Ich wäre jetzt gerne Bauer. Dann könnte ich raus. Dann wär ich in der Pampa, statt in Berlin. Eigentlich wär ich nicht gerne Bauer, ich würde pleite gehen. Das wär scheiße...

 

Ein wesentlicher Vorgang bei der Bildung neuer Arten, hallt und schallt und echot, fast kreischt es in meinem Kopf.

 

Ob wir eine neue Art werden?

 

Natürlich nicht, weil wir nicht mehr fähig sind uns mit der eigenen Population zu paaren, sondern weil wir alle so alleine sind, so einsam. Wir verrotten – und passend zu Ostern (besser spät als nie) – genießen wir alle eine Wiederauferstehung.

 

Haben wir zuvor alle am Kreuz gehangen? Sicher, und die meisten haben es nicht gemerkt.

 

Mein Blick kriecht an dem Fenstersims, der bunt gemusterten Vase mit den buntgemusterten Blumen empor, wandert hinaus in diese Welt; zwischen mir und ihr sauberes Glas. (Das ich endlich mal geputzt habe)

 

Obwohl ich die Sonne nicht sehen kann ist sie deutlich zu spüren in dem Gold, das sich über den Park und die Nachbarhäuser legt; es umschlingt die Welt, verschlingt sie…alles wird verschlungen, gerade.

 

Um mich herum schweben scheinbar unbewegte Staubpartikel umher, an der Wand – gebrochenes Licht, durch die filigrane Glasfigur, die vor dem Fenster hängt – tanzen neckend feine Sprenkel.

 

Mit einem Schaben kratzt der Stuhl über den Boden, als ich aufstehe und in mein Schlafzimmer gehe.

 

Aus dem Schrank ziehe ich einen violetten Pullover und eine kurze Hose; von dem schmuckvollen Keramikteller auf dem Nachttisch, nehme ich die Ringe und schiebe sie mir vorsichtig über die Finger. Noch Schuhe und Beutel, dann schließe ich die Tür hinter mir.

 

Darum bemüht die Augen nicht nieder zu schlagen, zerdrücke ich Kies und lausche, wie die Steinchen mir weichen. Vor, hinter mir und auf der anderen Starßenseite sind Menschen, manche von ihnen tragen einen Mundschutz. Es macht mir Angst. Ich würde gerne lachen. Die Luft ist warm, in der Sonne ist mir heiß. Es riecht nach Benzin und Hundehaufen, irgendwie modrig und zeitgleich trocken. Einfach komisch, alles total irre. Verkorkst und Abstrus.

 

Verstaubter Gummibär.

 

Bäume, die aus Bäumen wachsen.

 

Metall. Von Steinen verschlungen.

 

Ein Brunnen ohne Wasser.

 

Ein Vogel ohne Leben in den Augen.

 

Er fliegt in der Stadt, weil er woanders nicht kann.

 

Er kommt nicht weg.

 

Er lebt nicht in Quarantäne.

 

Er hängt am Kreuz.

 

wird niemals mit langen

 

braunen Haaren

 

aus einer Grotte schreiten.

 

In Sandalen.

 

Wieder hebe ich den Kopf. Meine Hände sind feucht, mein Schritt unruhig.

 

Ich schwinge wie eine zerüttete Ladung von Pol zu Pol.

 

Mal Proton, mal Elektron – niemals Neutron.

 

Verwirrt darüber, ob ich lachen soll, weil alles zusammenbricht und wir machtlos sind. Endlich! Ein Neuanfang. Die Welt hats uns mal so richtig gegeben, wir sind zurück zu unserern Wurzeln – wir sind die Wurzeln selbst und sind alle auf dem selben Wissensstand: Wir sind bloß Menschen. Wir sind schwach. Stark aber schwächer als die Welt. Obwohl wir ständig beweisen wollen, dass wir es nicht sind.

 

Oder ob ich weinen soll, weil ich doch eigentlich mehr will. Ich will doch meine Träume leben, ich will doch was sinnhaftes haben, in mir, irgendwas von Essenz, irgendwas das beeinflusst und bleibt, selbst wenn alles andere nicht mehr ist. Ich will doch bedeuten. Irgendwas bedeuten!

 

Ja.

 

Das ist so mein Gefühlszustand.

 

Im Grunde liege ich falsch. Ich kann nicht von Elektron zu Proton werden oder von Proton zu Elektron. Ich bin bescheuert und ein verdammtes Neutron und eigentlich – ganz eigentlich nur ein Mensch und eventuell, ganz eventuell ist das auch ganz schön, selbst wenn ich nicht bedeute, ich bin – das ist doch schon mal was.

 

Ich schieße einen Stein vor mir her. Er prallt gegen den Hund, der vor mir herläuft. Ich zucke zusammen und blicke mich verstohlen um. Hoffentlich hat das der Besitzer nicht gemerkt.

 

Ach man. Der arme Hund und sein Bein. Ich würde ihn gerne drücken. Wie lang hab ich schon niemanden so richtig in den Arm genommen?

 

Ständig frage ich mich, ob ich einsam bin…dann denke ich, natürlich bin ich einsam, wir sind alle einsam und die, die es nicht sind, nennen es bloß anders.

 

Missen. Sehnsucht. Isoliert. Solo. Abgeschieden oder – meinetwegen – depressiv.

 

Und wir haben alle Angst. Vielleicht sind manche panisch und andere bloß unruhig, aber sie ist da, in uns allen. Und – natürlich – ist es auch cool. Irgendwie so ‘ne Netflix-Apokalypse-Weltuntergang-Trump-wurde-gewählt-Stimmung.

 

[Stille]

 

Eben Covid-19. Scheiße.