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Meine Geschichte

Leonie Kilimann


„Miss Charles? Hallo?“ Meine Therapeutin schnippt leicht vor meinem Gesicht, um mich aus meiner Tagträumerei zu holen, zurück in die hässliche Realität. „Nun erzählen Sie mal, inwiefern Sie Ihre Routinen verändert haben.“ Während ich ihr meine kaum bemerkbaren Fortschritte erzähle, vergeht die Zeit wie im Flug. Als ich auf die Uhr blicke ist es bereits 19:45 Uhr. Die Sitzung ist zu Ende. Ich verabschiede ich mich von Dr. Stephens und mache mich auf den Weg nach Hause.

 

Draußen spüre ich eine angenehme frische Brise auf meiner Haut. Es ist März und die Natur fängt an zu blühen. Der Sonnenuntergang ist wunderschön. Ein wohliges Gefühl breitet sich in mir aus. Wenn ich nicht solche Probleme hätte, würde ich diesen Augenblick genießen. Am Auto angekommen sehe ich einen kleinen Zettel auf meiner Windschutzscheibe. Na super, noch mehr Probleme. Jedoch anders als erwartet finde ich unter dem Scheibenwischer ein Motivationskärtchen. „Einmal mutig sein kann dein ganzes Leben verändern.“ Schön zu sehen, dass es doch noch Menschen gibt, die so viel Hoffnung in sich und das Leben setzen. In Gedanken versunken stecke ich das Kärtchen in mein Portemonnaie. Ich steige in mein Auto. Mein Handy vibriert und der Bildschirm zeigt mir das Bild von meinem Freund Michael. Es ist vor drei Jahren entstanden als wir auf den Bahamas waren. Er sitzt auf einem blumig verzierten Bambusstuhl, mit einem Cocktail in der Hand. Sein blondes lockiges Haar verdeckt die Sicht auf sein warmes Lächeln. Es ist seither mein Lieblingsbild von ihm und diesem Urlaub. Es war der letzte Urlaub bevor meine Depressionen anfingen. Ich vermisse diese Zeiten, wo alles schön und ich glücklich war. Ich gehe ans Telefon. „Hailey, wann kommst du nach Hause?“ Er hört sich bedrückt an. „Fahre jetzt los. Was ist so eilig?“ Ich bin verwundert. Er setzt mich nie unter Druck oder stresst mich. „Nichts, egal, komm einfach schnellstmöglich nach Hause.“ Michael legt auf. Ich weiß nicht was ich davon halten soll. So war er seit vier Jahren nicht zu mir. Was mag los sein? Was es auch ist, es scheint ihn sehr zu belasten. Ich fahre los. Während der Fahrt über den Highway schaue ich immer wieder in den Sonnenuntergang. Ich wünschte ich könnte ihn genießen, so wie es normale Menschen tun würden. Ich biege in meine Straße ein. Wir wohnen in einem geräumigen Apartment, im Zentrum von Kalifornien. Das Apartment wird von unseren Eltern bezahlt, die schon vor unserer Geburt befreundet waren. Michael und ich haben uns kennengelernt als wir 15 Jahre alt waren. Ich habe mich damals direkt in ihn verliebt. 

 

Das Garagentor geht auf und ich parke mein Auto auf meinem vorgegeben Parkplatz, nehme meine Sachen und erinnere mich an das Motivationskärtchen. Ich öffne mein Portemonnaie und nehme die Karte heraus. „Einmal mutig sein kann dein ganzes Leben verändern.“ So ein Scheiß! Daran glauben doch eh’ nur dumme und naive Menschen. Ich lese es ungefähr fünf Mal bis ich es zerknülle und in die letzte Ecke meines Autos werfe. Das sollte ich vielleicht auch mal wieder aufräumen. Dr. Stephens würde sich über das Ereignis freuen. Auf dem Weg nach oben überlege ich, was mir Michael wohl Wichtiges zu sagen hat. Ich habe das erste Mal seit langem ein echtes Gefühl in mir und es fühlt sich unwohl an. Michael ist seit Jahren ein wichtiger Teil in meinem Leben. Ich will mir nur im schlimmsten Fall ein Leben ohne ihn vorstellen. Er war immer für mich da und ist der einzige Grund weswegen ich mich nicht schon längst von meinem Leben, meiner Last, befreit habe. Vor unserem Apartment angekommen suche ich meine Schlüssel in meiner zugemüllten Tasche. Ich bin seit meiner Depression ein unglaublich unordentlicher Mensch. Als ich meinen Schlüssel an das Schlüsselloch setze, geht die Tür auf. Michael steht mit Trauer in den Augen vor mir. Er zieht mich rein, nimmt mich in den Arm und fängt an zu schluchzen. „Michael, hey, sag mir was los ist.“ „Ich…“, er hält inne. „Ich weiß nicht was ich tun soll, meine Eltern haben sich getrennt“ Er sieht mich an. Seine blauen strahlenden Pupillen werden von einer roten Fläche umrahmt. Ich bin sprachlos. Michael hatte schon immer ein unglaublich gutes Verhältnis zu seinen Eltern. Diese Trennung wird ihn zerstören. „Tut mir leid“ mehr bringe ich nicht raus. 

 

„Ich muss wahrscheinlich zu meiner Mutter ziehen. Sie schafft es nicht alleine zu wohnen.“ Seine Mutter ist seit einem Autounfall von der Hüfte an gelähmt. Er hat drei Brüder, die alle weitaus älter sind als er. „Michael, du bist 26 Jahre alt. Ich weiß, du liebst deine Mutter über alles, aber deine Geschwister sind doch auch noch da. Du kannst nicht die nächsten 20 Jahre damit verbringen, dich um deine Mutter zu kümmern.“ „Hailey, sie hat so viel für mich getan. Ich kann sie jetzt nicht hängen lassen. Meine Brüder melden sich sowieso nur bei ihr, wenn sie Geld brauchen. Das ist ja das Schlimme.“ Er ist verzweifelt und wird lauter. „Das ist auch der Grund weshalb ich dir nie richtig von ihnen erzählt habe. Sie sind Arschlöcher, die meine Mutter furchtbar verletzt haben.“ Es stimmt. Er hat mir nie von seinen Brüdern erzählt und ich habe auch nie nachgefragt. Michael ist zu sensibel, als dass man immer wieder Salz in seine Wunden streuen dürfte. Ich setze mich im Schneidersitz auf das Sofa und nehme ein Kissen um meine Hände zu beschäftigen. Eine nervige Angewohnheit, wenn ich gestresst bin. „Okay, ich werde es wohl alleine schaffen hier zu wohnen. So lang wir uns wenigstens zwei oder drei Mal in der Woche sehen.“ Er schaut mich an und wandert zu mir rüber um sich neben mich zu setzen. Den Blick auf mein Kissen. „Das ist das nächste Problem. Sie will in der Nähe von unserer Familie wohnen, damit es für sie leichter ist die Trennung von meinem Vater zu verarbeiten.“ „Sie will nach Australien zurück?“ „Scheint wohl so.“ In mir regt sich Trauer, aber ich weiß, dass ich nicht weinen kann. Sowas funktioniert bei mir schon seit Jahren nicht mehr. Eine Zeit lang herrscht Stille zwischen uns. Ich finde keine Worte um zu beschreiben, wie es mir gerade geht. „Wieso haben sie sich getrennt?“ Ich spreche leise und ruhig, um seine Verzweiflung nicht noch mehr anzufachen. „Er hat eine andere gefunden. Eine die nicht im Rollstuhl sitzt.“ Wieder eine Pause. Er seufzt und ich spüre seine Wut. „War ja klar, sobald die Zeiten schwierig werden, sucht er sich was Einfacheres und Besseres.“ Ich schaue ihn an. Sein Blick findet meinen. „Ich liebe dich Michael.“ „Ich dich auch.“ Ich lege meinen Kopf auf seinen Schoß. Er nimmt eine Strähne aus meinem Gesicht und steckt sie hinter mein Ohr. Ich liebe ihn so sehr. Er ist seit zwei Jahren stets bei mir, trotz meiner Krankheit. Trotz allem was er aufgrund meiner Psyche durchmachen musste. Dafür bin ich ihm mehr als dankbar. Wie er schon gesagt hatte, gehen die meisten Menschen, wenn die Zeiten schwer werden. Doch er war immer bei mir. Ich will nicht, dass er geht. Ich will bei ihm bleiben, aber ich kann nicht mit nach Australien. Ich wollte an die UCLA seitdem ich auf dem College war. Meine Mutter ist damals schon auf die University of California gegangen und hat dort ihr Kunststudium absolviert. Seitdem hat sie bereits mehrere Kunstwerke verkauft, sie ist eine beliebte Künstlerin. Ich selber habe ihre Kreativität geerbt. Ich habe mit 15 Jahren meine erste eigene Kamera bekommen und schnell gemerkt wie sehr mir das Handeln rundum die Kreativität gefällt. Durch meine Arbeiten konnte ich mir ein Stipendium an der UCLA sichern. Wenn ich das jetzt abbreche, werde ich die einzig gute Chance in meinem Leben vergeben. Zudem würden meine Eltern noch enttäuschter von mir sein. Vor allem mein Vater. Er ist Architekt und ebenfalls sehr bekannt, wodurch er täglich mehrere Anfragen zum Entwurf von Gebäuden bekommt. Er hat seitdem ich zehn Jahre alt bin kaum Zeit für mich. Wenn er seine Zeit mit mir verbrachte, war er sehr streng mit mir. Eine richtige Bindung kann man das zwischen uns nicht nennen. Was meine Situation mit der Universität nur erschwert. Nach vielen weiteren Gedanken über mich und mein Leben schlief ich irgendwann ein.

 

Um 7.30 klingelt mein Wecker, den ich hysterisch ausschalte, weil er so laut ist. Es ist Samstag und ich habe gestern wohl vergessen, meinen Wecker auszuschalten. Mein Herz rast, zur Beruhigung suche ich nach Michaels warmen Körper, doch ich finde ihn nicht. Ich stehe auf und gehe in das Wohnzimmer. Zu meiner Überraschung sitzt Michael dort und telefoniert. Er steht auf, nimmt mich in den Arm und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Er flüstert mir ins Ohr, so leise, dass ich es kaum verstehe: „Maklerin.“ Ich forme angespannt mit meinem Mund ein „Wieso?“ ohne einen Ton rauszubekommen. Doch dann fällt es mir wieder ein: Michael und seine Mutter ziehen zurück nach Australien. Mir schießen die Tränen in die Augen. Michael bemerkt, wie schlecht es mir geht und legt einfach ohne zu Zögern auf und nimmt mich fester in den Arm. Ich bekomme einen Nervenzusammenbruch, der mir tief in die Knochen geht. Ich kann nicht ohne ihn, mein Gott wieso muss das Leben so ungerecht zu mir sein? Ich werde das Einzige in meinem Leben verlieren, das mir wirklich wichtig ist, das mich Jahre lang am Leben gehalten hat.

 

Tage vergehen und ich konnte mich bisher kaum von dem Fakt, dass Michael wegzieht erholen. Mittlerweile haben er und seine Mutter eine neue Unterkunft in Australien gefunden. Er will in zwei Tagen dort hinfliegen, um alles für ihre Ankunft vorzubereiten. Ich komme gerade aus der Universität und will mich auf den Weg nach Hause machen um die letzten Tage mit Michael zu nutzen, als mir mein Vater entgegenkommt. „Dad? Was machst du hier?“ Ich stelle mich ihm verwundert in den Weg. „Ich wollte dich spontan abholen und mal wieder ein wenig Zeit mit dir verbringen, wir haben uns seit zwei Wochen nicht gesehen. Wollen wir etwas essen gehen?“ Ich zögere, doch antworte verwirrt „Ja, ok. Was wollen wir essen?“ Um ehrlich zu sein weiß ich nicht einmal was mein Vater gerne isst. Wir haben uns sehr auseinandergelebt. Ich zücke mein Handy um Michael eine Nachricht zu schreiben. „Planänderung, mein Vater ist bei mir und wir gehen essen. Sorry, aber du weißt ja wie unser Verhältnis sonst ist.“ Mein Vater lächelt. „Wie wäre es mit Sushi? Das hast du doch früher immer geliebt.“ Es wundert mich, dass er sich daran erinnert. „Warum nicht.“ Ich hab schon seit längerer Zeit kein Sushi mehr gegessen. Ich esse tagtäglich nur Spaghetti, weil ich für andere Dinge zu motivationslos bin. Wofür sollte ich mir auch ein leckeres Menü kochen? Wird doch eh nur gegessen und das war es dann. „Super. Mein Auto steht auf dem Parkplatz.“ Mit einem unangenehmen Schweigen gehen wir zum Auto. Ich setze mich auf den Beifahrersitz und lehne mich nach hinten. „Wie war die Uni?“, er hört sich tatsächlich interessiert an. „Wie immer.“ Ich blicke aus dem Fenster und sehe wie meine ehemalige beste Freundin zu ihrem Auto geht. Nachdem ich damals angefangen hatte mich zurückzuziehen, hat auch sie den Kontakt zu mir gemieden. Ich kam irgendwann nicht mehr mit ihr klar. Es ging alles immer nur um sie. Als ich schon im Abgrund stand, hat sie nur interessiert, wie sie sich dabei fühlt. „Das heißt was genau?“ Mein Vater reißt mich aus meinen Gedanken, und ich bin froh darüber. „Es war spannend, wie immer.“ Ich antworte neutral. Mein Vater weiß nichts von meinen Depressionen, weshalb ich versuche genug, aber nicht zu viele Emotionen ins Gespräch einzubringen. Ich möchte auch nicht, dass er irgendetwas davon erfährt. Es würde mich dafür wahrscheinlich nur verurteilen und kein Verständnis aufbringen, dass ist das Letzte, was ich möchte. Er ist sowieso kein verständnisvoller Mensch. Auch auf emotionaler Ebene ist er total stumpf. Ich weiß kaum etwas aus seiner Vergangenheit, außer dass seine Mutter, als er 17 Jahre alt war, ebenfalls Depressionen hatte und deshalb ziemlich viel Alkohol konsumiert hat. Letztlich fiel sie nachts eine steile Treppe hinunter. Sie ist wohl mit ihrem Kopf gegen eine Wand geknallt und starb noch am Unfallort. Mein Vater hatte sie am nächsten Morgen tot gefunden. Seitdem hat er alle Gefühle aus seinem Leben verbannt. Bis er meine Mutter kennenlernte. Trotzdem war er zu mir immer kühl, was ich ihm jedoch kaum verübeln kann.

 

Wir sind am Sushi Restaurant angelangt und steigen aus dem Auto. Ich sehe ein verliebtes Pärchen, das händchenhaltend durch die Tür geht. Ich muss sofort wieder an Michael denken. Was ist, wenn seine Eltern mit meinen über die Trennung gesprochen haben? Vielleicht hat mein Vater mich deshalb abgeholt. Einfach um mir in der absehbar schweren Zeit zu helfen? 

 

Wir setzen uns an einen Zweiertisch. In Windeseile kommt eine Dame mit leichtem Akzent und zwei Speisekarten auf uns zu. „Dankeschön.“ Mein Vater ist freundlich. „Gerne, was wollen sie trinken?“ Sie holt einen Block mit Stift aus ihrer Schürzentasche heraus. „Zwei Wasser bitte.“ Er lächelt der Dame zu, während sie sich unsere Bestellung notiert und anschießend in der Küche verschwindet. „Wie geht es dir sonst so?“ Er schaut mir auffordernd ins Gesicht. Ich fühle mich unwohl. „Ganz gut. Und dir?“ Ich schaue verlegen runter, auf meine Hände, die nervös an der Tischdecke zippen. Ich weiß wirklich nicht, ob er mit dem Smalltalk eine andere Absicht verfolgt, als es scheint. „Mir geht’s bestens. Ich habe nehme mittlerweile weniger Aufträge an, bis ich zum Sommer vorübergehend keine mehr annehme.“ Er stockt und lächelt mir breit zu. Dann fährt er fort. „Ich habe die letzten Jahre viel zu viel Zeit damit verschwendet zu arbeiten. Habe meine Familie und Freunde von mir gestoßen, nur um meiner Arbeit nachgehen zu können.“ Ich weiß nicht was für eine Reaktion er von mir erwartet, doch ich werfe ihm nur fragende Blicke zu. „Weißt du, mir ist mit der Zeit klar geworden, was wirklich wichtig im Leben ist, und das ist sicher nicht Ruhm und Reichtum. Also war ich einfach mal mutig und habe ein wenig aussortiert. Genug Geld haben wir, deshalb muss ich mir darüber keine Sorgen machen. Und komplett werde ich meine Arbeit auch nicht aufgeben, ab und zu möchte ich schon noch an Projekten arbeiten. Es gehört ja schließlich zu meinen Hobbies.“ Er strahlt förmlich. „Das freut mich Dad.“ 

 

Nein, eigentlich ist es mir egal. Er hat sich nie für irgendetwas gefreut, was in meinem Leben geschehen ist. Er nimmt meine Hand. „Hailey, die Sache mit Michael tut mir leid.“ Nun ist die Katze doch aus dem Sack. Ich wusste dass hinter diesem Treffen mehr steckt. „Weißt du es von Morris?“ Er schaut verlegen. „Nein ich weiß es von Michael. Sein Vater ist ein Arschloch geworden. Komisch wie sehr sich Menschen verändern können.“ Na, das muss er gerade sagen. Er hatte ja auch keine Zeit zu sehen, in was er sich verwandelt. „Was hat er dir noch erzählt?“ Ich könnte wetten, er hat ihm auch von meiner psychischen Situation erzählt. Eigentlich wissen nur meine Mutter und Michael etwas darüber. Ich wollte nie große Aufmerksamkeit dafür bekommen, deswegen sollten sie das immer für sich behalten. „Das mit deinen Depressionen.“ Mein Vater wird auf einmal nervös. Ich werde wütend und verwundert zugleich. Egal wie schlecht es mir geht, ich verstehe nicht wieso Michael ihm ausgerechnet das erzählen musste. „Okay.“ Ich wende mich vom Gespräch ab, da die Kellnerin kommt. „Wissen Sie schon, was Sie essen möchten?“ „Einmal das Sushi mit Lachs, Wasabi und Soja.“ Sie notiert sich meine Bestellung und schaut zu meinem Vater. „Und bei Ihnen?“ „Ich nehme das Gleiche.“ Sie nickt und zieht sich wieder zurück in die Küche. „Hailey, bitte. Ich weiß. Ich habe damals viele Fehler gemacht. Es war nie meine Absicht dich so abzuweisen. Aber dass du mir das verschweigst, hätte ich nie gedacht.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. „Bitte?“ Ich atme tief durch. „Dad, du warst nie richtig anwesend. Ich hatte nicht einmal die Chance es dir zu erzählen. Ich hatte Angst vor noch mehr Abweisung. Es hat dich sowieso nie interessiert, was ich getan habe, abgesehen von meinen schulischen Leistungen.“ Ich spüre wie ich ihn mitten ins Herz getroffen habe. Er weiß, welchen Mist er gebaut hat. Ich will mich entschuldigen, doch er unterbricht mich. „Du hast recht. Ich kann die Zeit leider nicht zurückdrehen, auch wenn ich es gerne würde. Ich war noch so jung als du zur Welt kamst und konnte mich mit einem eigenen Kind nie richtig identifizieren.“ Ich habe das Bedürfnis ihm zu verzeihen. Einmal im Leben will ich meinen Gefühlen einfach positiv gegenüberstehen. „Ist okay. Ich verzeihe dir. Aber nur, wenn du es diesmal wirklich besser machst.“ Ich möchte einfach nicht nachtragend sein. Ich kann wohl am besten verstehen, wie es ist mit Schmerz umzugehen. Wenn das seine Art dafür ist, verzeihe ich ihm das. Wieso sollte ich ihm die verlorenen Jahre nachtragen, wenn er jetzt viele Jahre mehr hat, es wiedergutzumachen?

 

Während wir essen, reden wir noch sehr viel über das, was in der Vergangenheit passiert ist. Wir machen Witze, lachen und genießen den Nachmittag. Später, als wir mit dem Essen fertig sind, fahren wir in mein altes Zuhause. Ich sehe schon meine Mutter an ihrer Staffelei im Atelier stehen und ein weiteres Meisterwerk fabrizieren. Mein Vater sperrt die Tür auf und ich laufe zu meiner Mutter, um sie zu umarmen. „Mom! “ Es tut so gut sie im Arm zu halten. Ich freue mich sehr, sie endlich wiederzusehen. Ich habe mich in den letzten Wochen sehr zurückgezogen. Hatte den Kontakt zu ihr zwar jeden Tag gehalten, jedoch ist es umso schöner sie in echt zu sehen. „Hey mein Spatz, wie geht es dir?“ Sie redet leise, damit mein Dad sie nicht versteht. Er schaut höflich zu uns rüber geht dann aber in die Küche. „Der Tag heute ist seit langen echt wieder total schön. Dad hat mich abgeholt und wir waren essen. So gut habe ich mich lange nicht mehr gefühlt.“ Sie lächelt hoffnungsvoll. „Ich habe es dir gesagt, kleine Schritte sind trotzdem Schritte, die zum Erfolg führen, du brauchst nur mehr Geduld und vor allem Mut“, sie blickt zu ihrer Leinwand, auf der die Farbe schon eintrocknet. „Darf ich das hier erst einmal weitermachen?“, sie lächelt. „Klar!“, ich gebe meiner Mutter noch einen Kuss auf die Stirn und gehe anschließend zurück in die Küche, um meinem Vater Gesellschaft zu leisten. Ich kann nicht in Worte fassen, wie gut es mir gerade wieder geht. Mein Vater ist wirklich wieder für mich da, nach all den Jahren. „Möchtest du etwas trinken?“ Er steht erwartungsvoll am Kühlschrank „Ein Glas Wasser wäre toll.“, er stellt es vor mich auf den Tisch. Ich nehme einen großen Schluck. „Wir müssen mal darüber sprechen, wie es nun mit der Wohnung ist.“, er denkt kurz nach und spricht weiter. „Ich möchte nicht, dass du weiter in der Wohnung wohnst. Such dir etwas, was nicht voller Erinnerungen ist, wo du neu anfangen kannst.“, er guckt mir streng, dennoch liebevoll in die Augen. Ich habe den Fakt, dass Michael bald weg ist, komplett verdrängt. Es zieht mich wieder in Gedanken, ich kann mir es tatsächlich nicht vorstellen, dass wir mal ohne einander leben müssen. Ich weiß gar nicht mehr wie es war, bevor wir uns kennengelernt haben. „Lass uns mal den Laptop nehmen und nach Wohnungen schauen.“, wir setzen uns wieder ins Wohnzimmer und versinken in der intensiven Wohnungssuche. Irgendwann klingelt lautstark mein Telefon. Michaels Name. „Hallo?“, Michael zieht zischend den Atem ein und legt los. „Hailey? Ist das dein scheiß Ernst?“, ich erstarre. „Wwwas? Was ist denn?“, ich spüre seinen Zorn durch das Telefon. „Ich warte seit vier Stunden auf dich. WO BIST DU?“, er schreit mich an. Hat er meine Nachricht nicht gelesen? Ich bin verunsichert. „Ich habe dir doch geschrieben.“, er wird ruhiger. „Hast du nicht.“, mein Vater blickt einfühlsam zu mir. „Ich habe dir geschrieben, vielleicht hatte ich kein Internet oder so.“, Michael legt genervt auf, ohne sich überhaupt zu verabschieden. Ich stehe auf und nehme meine Sachen in die Hand. „Ich glaub es wäre besser, wenn ich jetzt gehe, ich weiß nicht was mit Michael los ist.“ Mein Vater steht auf und geht mir hinterher. „Ich bringe dich.“ 

 

Wir steigen in das Auto ein und fahren los. Die Fahrt über sprechen wir kaum ein Wort. Ich fühle mich komisch und der Abend ist einfach versaut. Ich verstehe nicht, warum Michael so einen Stress macht. Ich kann nichts dafür, dass er meine Nachricht nicht empfangen hat. Als wir zu Hause angekommen sind, bedanke ich mich bei meinem Vater und gehe zügig hoch in unser Apartment. Ich schließe die Tür auf, er sitzt am Tresen in der offenen Küche. „Was ist los mit dir?“, platzt zickig aus mir raus, als ich zu ihm rüberstampfe „Es tut mir leid, ich habe überreagiert.“, er trägt Schmerz in seinen Augen. „Ich kann mit der Situation noch nicht ganz umgehen.“ Ich bin verständnisvoll. Dennoch kann ich mich noch nicht hundertprozentig abregen. „Ist ok.“, mein Ton ist immer noch zickig. „Wie machen wir das jetzt eigentlich alles in der Zukunft?“, er nimmt meine Hände in seine. „Ich weiß es nicht, wir trennen uns, und behalten zukünftig Kontakt. Ich weiß dass wir erstmal keine Beziehung führen können. Außerdem sind Fernbeziehungen scheiße.“, sein Atem wird ruhiger. „Ich will dich definitiv nicht komplett aus meinem Leben verlieren. Lass uns erst einmal Freunde bleiben.“ Ich realisiere jetzt erst, wie einfach das werden kann. Immerhin können wir täglich miteinander kommunizieren. Wir sehen uns einfach nur nicht jeden Tag, so wie normalerweise. „Okay. Aber bis zu deinem Abflug möchte ich noch deine Liebe spüren.“, sage ich verspielt und grinse. Er nimmt mich in seinen Arm und küsst mich auf die Stirn.

 

Die letzten Tage vor seinem Abflug vergehen rasend schnell. Sie haben sich nahezu wie Sekunden angefühlt. Abends fahren wir zusammen zum Flughafen. Ich helfe ihm mit seinem Gepäck und warte so lange, bis er durch die Kontrollen muss. Wir verabschieden uns kurz und schmerzlos. Er verspricht mir, dass wir uns in einem Monat wiedersehen werden. Er muss dann wieder zurück nach Kalifornien, um noch einige Dinge aus dem Haus seiner Eltern zu holen. Er geht zur Sicherheitskontrolle und ich warte noch so lange, bis ich ihn nicht mehr sehe.

 

Ich denke auf dem Weg nach Hause viel nach. Als ich anschließend zu Hause bin, lege ich mich direkt ins Bett und schaue an die Decke. Verdammt. Ich schaffe das alles nicht. Ich kann das alles nicht. Ich breche mental zusammen und fange an zu weinen. Scheiße, ich schaffe das nicht. Mein ganzer Selbsthass kommt in mir hoch. Warum bin ich so? Warum kann ich kein anderer sein? Warum ist mein Leben so scheiße? Warum passiert das alles mir? Ich sehne mich nach dem Nichts.

 

Nach einigen Stunden beruhigt sich mein Körper. Ich habe seit einiger Zeit nicht mehr geweint, weshalb ich mich umso befreiter fühle. Ich bin so erschöpft, dass ich einschlafe. Ich finde mich in einem Traum wieder. Ich sitze entspannt auf einer Parkbank im Central Park in New York City. Eine Menge kleiner, glücklicher Kinder springt lachend an mir vorbei. Eine weise Dame setzt sich neben mich. „Wenn du nicht langsam anfängst, wirst du es dein ganzes Leben bereuen.“ Als ich gerade etwas sagen möchte, löst sie sich einfach in Luft auf. Ich sitze nicht mehr auf der Bank sondern befinde mich in einem düsteren Zimmer, mit zwei Türen. Die eine ist weiß und mit wunderschönen, bunten Blumen verziert. Allein der Blick zur Tür bringt einem ein erfülltes und schönes Gefühl. Die andere Tür ist grau. Bei dieser Tür spüre ich nichts. Diese Tür ist neutral. Ich stehe aus meiner Ecke auf, um zu den Türen zu gelangen. Ich erschrecke, als mich etwas an der Schulter berührt. „Nimmst du die weiße, wirst du weise. Nimmst du Grau, wirst du nicht schlau.“ Ich drehe mich um, doch dort ist niemand. Instinktiv entscheide ich mich für die weiße Tür, öffne sie und es wird hell. Ich fühle mich wie im Himmel. Es ist, als würde eine höhere Macht unterbewusst mit mir sprechen und meine Entscheidung zu unterstützen. Es wird laut und mein Kopf dröhnt. Mein Wecker gibt einen schrecklichen Ton von sich und zeigt 7:45 Uhr. Ich stehe auf und gehe in die Küche um mir Kaffee machen. Der Sonne strahlt so sehr, als würde sie extra für mich scheinen. Heute wird ein aufregender Tag. Ich muss erst zur Uni, dann hole ich meinen Vater ab und wir schauen uns neue Wohnungen an. Anschließend muss ich zur Therapeutin und abends werde ich mit meiner Mutter ausgehen. Dadurch, dass sie sich seit Jahren jung halten konnte, fällt sie neben mir überhaupt nicht auf. Tagträumend gelange ich in die Tiefgarage, mache die Autotür auf und es fällt mir eine Menge Müll entgegen. Ich zücke mein Handy und schreibe meinem Vater eine Nachricht. „Wird eine halbe Stunde später. Ich muss mein Auto noch saubermachen, sitze buchstäblich im Saustall.“ Er antwortet nur mit einer Menge lachender Smileys auf die Nachricht. Der Tag in der Uni geht schnell um, und ich fühle mich gut. Ich bin ziemlich verwundert über meine Laune. Ich habe mir in der Mensa sogar neue Freunde gemacht. Die Mädchen sind schon seit längerem in meinem Kurs und waren schon immer ziemlich freundlich. Ich habe es nur nie geschafft, ihnen Beachtung zu schenken. Ich war immer zu sehr auf mich selbst fixiert. 

 

Ich brauche nur fünf Minuten zur Autowäsche. Dort räume ich meinen kompletten Wagen einmal aus. Nichts ahnend finde ich das Motivationskärtchen wieder, das ich vor einigen Wochen zerknüllt habe. Ich falte es auseinander. „Einmal mutig sein kann dein ganzes Leben verändern.“ Wieder lasse ich es durch meinen Kopf gehen. Vielleicht ist da doch mehr dran, als ich denke. 

 

Mein Auto wird von mir ausgesaugt, gewaschen und poliert. Ich verliere mich wie immer in Gedanken, als mir der Traum von letzter Nacht in Erinnerung kommt. Der war total komisch, aber dennoch spannend. Vielleicht ist das alles kein Zufall. Habe ich vielleicht einen Gedankenwandel erlebt? Ich fühle mich schon viel befreiter. Ich fühle mich so befreit wie nie. Mir fallen wieder kleine Details in meinem Tagesablauf auf, die ich lange außer Acht gelassen habe. Ich habe mir heute so viel vorgenommen, wie schon lange nicht mehr. Ich nehme mein Motivationskärtchen aus der Hosentasche und lege es auf das Armaturenbrett. Es wird kein Zufall sein. Etwas hat diese Nacht mit mir gesprochen, etwas, das mir den Ansporn gegeben hat, mein Leben wieder bewusst in die Hand zu nehmen. Meinen Ängsten, Sorgen und vor allem meiner Depression ein Ende zu geben. 

 

Als ich mit dem Auto zu meinen Eltern fahre, fällt mir was Merkwürdiges auf. Ich sehe mindestens drei Mal die Zahl 1212. Egal ob auf Nummernschildern, vorhin auf der Uhr oder bei Hausnummern. Ich bin bei meinen Eltern angekommen und lasse es einmal bei meinem Vater auf dem Telefon klingeln, damit er weiß, dass ich draußen bin. Da mein Vater noch ein paar Minuten brauchen wird, gebe ich die Zahl 1212 bei Google ein. Die erste Seite sieht bereits vielversprechend aus. In der Überschrift steht Numerologie. Davon habe ich schon einmal gehört, als ich mal mit meiner Mutter über Spirituelle „Ich´s“ gesprochen habe. Auf der Seite steht so viel wie: „Nichts ist ein Zufall, alles passiert so, wie es sein soll. Wenn sie die Zahl 1212 in unmittelbarer Zeit gesehen haben, versuchen die Engel zu ihnen zu sprechen. Hören sie verstärkt auf ihre Intuition. Sie haben eine besondere Fähigkeit, sich ihren Ängsten zu stellen und über ihren Schatten zu springen. Haben sie momentan eine schwere Zeit hinter sich oder befinden sich gar in einer, dann springen sie über ihren Schatten, haben sie den Mut ihr Leben in die Hand zu nehmen und das Beste daraus zu machen.“

 

Mein Vater steigt in mein Auto ein. Ich schaue ihm ins Gesicht: „Planänderung“, ich fahre zielstrebig los. Heute ist der Tag gekommen, an dem ich mein Leben ändere. Ich war lang genug unter der Gewalt meiner Depressionen. Ich setze dem jetzt selbstständig ein Ende. (Fortsetzung folgt…)