· 

Planlos

Planlos

McRian

Eleutheromanie: Unstillbarer Drang nach Freiheit.

Ich stand auf dem Dach eines gefährlich hohen Gebäudes. Es war das höchste der ganzen Stadt. Ich blickte hinunter auf die mit Licht erfüllte Straße. Alles kam mir so winzig vor. So fühlte es sich also an, frei zu sein. Ich hatte es endlich geschafft, ich hatte das Spiel gewonnen. Ich war mehrere hundert Kilometer von dem Ort entfernt, an welchem alles begann. Wo mir das Leben nichts als qualvoll erschien. Wo ich mich selber erstickte.

Dienstag, den 23.4

Heute kam ich von der Schule nach Hause und wie immer war meine Mutter nicht da. Es wimmelte wieder nur so von leeren Flaschen. Ich hatte am Morgen vergessen Leo zu füttern, also schüttete ich ihm ein paar Flocken in sein Glas. Was er für ein Glück hat ein Goldfisch zu sein. Alles was er tut ist essen und in seinem Glas rumschwimmen. Es ist lächerlich, dass ihm dieses Leben geschenkt worden ist. Ich schmiss meinen Rucksack gegen die Wand. Ich weiß nicht warum ich eigentlich immer noch zur Schule gehe. Ich bin es leid von anderen bewertet zu werden und was wollen die dagegen unternehmen, meine Mutter anrufen? Jeder dort tut so, als ob das Leben so toll wäre und es natürlich so einfach ist, alles von den Eltern zu bekommen. Es macht auch richtig Spaß zur Schule zu gehen, um sich für einen gutbezahlten Job vorzubereiten, und um dann das ganze Geld an ein Altenheim abzugeben, damit man dort wartet bis der Tod einen holt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich umbringen möchte. Ich meine irgendwie kann man schon das Leben in etwas Interessantes umwandeln. Ich muss nur den richtigen Ort und Zeitpunkt finden, ich muss unbedingt weg von hier…

Mittwoch, den 24.4

Mein Schultag verlief heute so wie immer. Ich war vom Unterricht genervt und blieb in den Pausen alleine. Die anderen Schüler haben Angst vor mir, weil ich schon oft in Schlägereien verwickelt war. Die Lehrer interessieren sich wenig für mich und meine Probleme. Sie sagen, wenn das nochmal passiert, fliege ich raus. Außer einer Lehrerin, Mrs. Wellington. Sie fragt immer nach, wie es mir geht, was ich nicht verstehe. Sie meinte auch, dass sie meinen Vater kannte und, dass sie mir helfen kann. Aber wobei verstehe ich auch nicht. Jedenfalls vertraue ich Menschen einfach nicht. Meine Mutter erzählt viele Lügen und ich glaube, dass der Rest der Welt genauso ist. Gestern Abend ist es schon wieder passiert. Meine Mutter kam mit schlechter Laune zurück, von wer weiß woher, und schien betrunken zu sein. Sie erzählte mir sehr detailliert, dass mein Vater mich schlecht behandelt hatte. Jedoch erzählte sie mir sonst immer, dass er sich vor meiner Geburt aus dem Staub gemacht hätte. Und außerdem erinnere ich mich nicht an ihn. Ich halte es einfach nicht mehr in diesem Haus, in dieser Stadt, aus. Ich habe keine Idee, wohin ich genau abhauen werde. Ich war noch nie weiter weg als vielleicht 15 Kilometer, um zur nächsten Stadt zu kommen. Ich träumte schon immer davon in eine Großstadt zu ziehen. Außerhalb den Staaten, in eine neue und fremde Kultur einzutauchen. Ein Ort mit tausend Möglichkeiten. Wo sogar in den Nächten alles bunt und hell ist. Meine Mutter würde ich kein Stück vermissen. 

Donnerstag, den 25.4

Heute war ich nicht in der Schule. Ich blieb zu Hause, weil meine Mutter sowieso bis 3 Uhr nachmittags schlafen würde. Ich bin so gegen 7 Uhr aufgestanden, um meinen Rucksack zu packen. Leo wird wohl sterben müssen, aber ich glaube, das wird er nicht groß mitbekommen. Ich hatte eigentlich vor an diesem Tag wegzulaufen, aber ich hatte gar kein Geld. Ich habe das ganze Haus durchsucht und keinen Cent gefunden. Ich würde nicht damit durchkommen in Läden zu klauen, weil ich ja auch in Motels übernachten würde. In Sachen Klauen, kenne ich mich gut aus. Ich hatte schon den perfekten Plan. Ich werde in Jamie’s Haus einbrechen und nach Geld und Wertsachen suchen. Seine Familie hat genug davon. Einmal war ich zu Besuch bei ihm, als wir noch Freunde waren, vor unseren Streitigkeiten. Die lassen alles wahllos liegen, im ganzen Haus. Ich werde zuerst nach offenen Fenstern suchen. Falls keine zu finden sind, breche ich durch den Keller ein. Der Eingang besteht aus einer absurden Falltür aus Holz im Garten. Als erstes wird der Flur durchsucht, Handtaschen und Jackentaschen eingeschlossen. Nach oben werde ich nicht gehen, weil sich das Schlafzimmer direkt links von den Treppen befindet. Das Wohnzimmer wird nach Wertgegenständen durchstöbert. Der Einbruch geschieht noch diese Nacht, meine Lieblingszeit. 

Freitag, den 26.4

Während ich das hier schreibe, sitze ich im Zug auf dem Weg zum nächsten Staat, Oregon. Schreiben hilft dabei mich abzulenken, es beruhigt mich und lässt mich einen Fokus auf das Geschehene haben. Es ist jetzt 5 Uhr morgens. In meinem Rucksack befinden sich ungefähr 5.000$ und etwas teuer aussehender Schmuck. Der Einbruch verlief bis zum Ende hin ganz gut. Im Flur lag in einer schwarzen Lederhandtasche ein Portemonnaie mit mehreren hundert Dollar–Scheinen. Zusätzlich noch ein weiteres Bündel Geld in einer Manteltasche. In der Küche lag auf der Theke ein zweites Portemonnaie, welches ich auch ohne zu zögern einsteckte. Dann kam das Wohnzimmer. Die Glasvitrine schien im Dunkeln zu glitzern, als ob sie für mich bestimmt wäre. Sie sah wie aus einem Juweliergeschäft aus. Ohrringe, Ketten, Armbänder, Ringe. Sogar Armbanduhren waren dabei. Ohne nachzudenken öffnete ich die Tür der Vitrine. Eigentlich hätte ich mir denken können was als nächstes passieren würde. Ein ziemlich lauter Alarm hat sich ausgelöst. Ich schob mit meinem Unterarm den Inhalt des mittleren Regals in meinen Rucksack und stürmte aus dem Haus. Draußen angekommen hörte ich nicht auf zu rennen. Auch wenn sich meine Geschwindigkeit verringert hatte, habe ich es noch geschafft, weiter zu laufen. Ich habe es getan. Im Gehen musste ich erstmal mit der Tatsache klarkommen, dass ich gerade in ein Haus eingebrochen bin. Sowas passiert in den Staaten relativ oft, aber trotzdem ist es was Anderes, wenn ich die Person bin, die es getan hat. Ich hatte auf einmal einen großen Schub an Energie. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Es erschien mir, dass mich nichts mehr aufhalten kann. Ich bin zu allem fähig, ganz ohne jegliche Grenzen. Dies war der Start in mein neues Leben. Ohne Plan und ohne Unterstützung, nur ich und die atemberaubende, dunkle Nacht.

Es hat etwas gedauert, bis ich am Bahnhof ankam. Zu Fuß war es auch schwieriger. Der Ticketverkauf hatte schon zu gemacht, aber zum Glück gab es Automaten. Ich gab das Ziel ,,Iron Springs, Oregon‘‘ ein, weil man von dort mit dem Schiff über den pazifischen Ozean fahren kann. Ich bezahlte die 35$ und wartete am Bahnsteig. Auf der Anzeige stand, dass der nächste Zug in 40 Minuten käme. Dann mach ich das also wirklich. In der Schule hatten wir mal in Politik das Thema, ,,Wirtschaft in China‘‘. Ich war von dem Unterricht fasziniert. Obwohl ich eigentlich Schule hasste, erstaunte ich bei jedem Bild, welches mir bei Google zum Suchbegriff Shanghai angezeigt wurde. So viele Menschen leben an einem Ort. Die vielen Hochhäuser und die umwerfende Skyline. Je größer die Stadt, desto mehr Möglichkeiten. Mir wurde sofort klar wo mein Weg mich hinführen wird. Ich habe endlich ein Ziel. Bald werde ich Einwohnerin Shanghais sein. Endlich kam der Zug an. Ich stieg ein und suchte mir einen Fensterplatz. Und jetzt sitze ich hier in einem fast leeren Abteil. Ein paar Sitze weiter sitzt ein Geschäftsmann, der an seinem Laptop schreibt und hinter ihm eine ältere Frau, die tief und fest schläft. Die Fahrt würde jetzt ein bisschen dauern, also werde ich mich etwas hinlegen.

Samstag, 27.4

 Ich habe ziemlich unruhig geschlafen, weil ich einen Alptraum hatte. Darüber reden möchte ich lieber nicht. Am frühen Morgen bin ich in Iron Springs angekommen. Es war wunderschön und direkt am Hafen. Zum ersten Mal sah ich das echte Meer. Es ist riesig und sieht so aus, als würde es ewig lange über den Horizont hinausreichen. Die Sonne spiegelte sich am Wasser und das Licht brach in glitzernde Funken. Ich lief runter zum Steg und bewunderte den Ausblick. Ich war sprachlos. Beim Anblick der ganzen Schiffe fiel mir ein, dass meine Reise ja noch weitergeht. Ich sprach eine Passantin an, die an den Steg kam. Ich fragte, wo man Tickets kaufen kann, und sie wies mich zu einem weißen Gebäude. Nach einem weiteren Blick auf das Meer, ging ich den kleinen Hügel hoch zu dem Gebäude. Ich trat ein und befand mich in einem mit Marmorfußboden ausgelegten Wartezimmer. Die Frau am Tresen war recht jung und hatte ihre Haare hoch zu einem Zopf gebunden. Sie erzählte, dass das einzige Schiff, welches nach China fahre, die Big Ally wäre. Ein altes Kreuzfahrtschiff mit 200 Passagieren an Bord. Das Ticket kostete 900$. Ob das zu viel oder wenig ist, weiß ich nicht, ich war noch nie auf einer Kreuzfahrt. Nach 3 Stunden ist das Schiff angekommen und war zum Starten bereit. Während dieser Zeit saß ich auf dem Steg und bewunderte das Wasser. Dann ging es endlich los. Es fühlte sich komisch an, das erste Mal ein Schiff zu betreten. Es schwankte leicht hin und der und die Wellen brachen an der Unterseite. Das Schiff sah gar nicht aus, wie die Kreuzfahrschiffe aus Filmen. Es hatte statt einem Dach mit Pool, einen Gang aus Holz rund um das ganze Boot. Ich las auf dem Ticket, was für ein Zimmer ich hatte, Nummer 16. Ich bog links ab in den Flur und startete bei 42. Ich ging den Flur runter, bis ich bei Nummer 16 angekommen war. Ich schloss die Tür auf und stand in einem kleinen Zimmer. Es war sehr klein. Das Zimmer bestand aus einem Einzelbett mit Nachttisch, einem Kleiderschrank und einem Spiegel. Als erstes fing ich an das Tagebuch zuschreiben.

Montag, den 5.5

Ich habe jetzt länger keine Einträge mehr geschrieben. Erstens hätte es sich nicht gelohnt, weil mein Alltag immer derselbe war. Und zweitens habe ich den Grund für das Schreiben vergessen. Ich schreibe eigentlich, um meine Gedanken zu ordnen, um mich auf mein Ziel zu fixieren und um mit Stress besser umzugehen. Jedoch dachte ich, dass es unnötig wäre und ich nur meine Zeit verschwende. Ich habe gemerkt, dass es mir ohne das Schreiben schlechter geht und mich meine Gedanken einholten. Ich hasste es mich im Spiegel anzugucken. Es tat weh, mich und meine Narben zu betrachten. Aber ich muss jetzt mein Ziel im Auge behalten. Morgen kommt das Schiff in Shanghai an. 

Dienstag, den 6.5

Die Ankunft des Schiffes war gegen 20:00 Uhr. Schon von weitem erstarrte ich beim Anblick der Skyline. Es fällt mir etwas schwer meine Reaktion zu beschreiben, weil ich bis jetzt immer noch nicht glauben kann, dass ich es geschafft habe. Die Sonne ging gerade unter und die Stadt war ein riesiges Licht, welches den ganzen Hafen erleuchtete. Langsam näherte ich mich dem Licht und musste gegen den Drang, von Board zu springen ankämpfen. Aber ich werde früh genug ankommen. Es sah aus wie in einem Science-Fiction Film. Alle Leute versammelten sich im vordersten Teil des Ganges und staunten mit mir zusammen. Diese Stadt ist das größte, was ich mir je gewünscht hatte. Von Nahem konnte man die einzelnen Farben der Lichter besser erkennen. Ich habe schon recherchiert, welches der höchste Turm ist. Gefolgt vom Shanghai World Financial Center ist der Shanghai Tower der mit Abstand höchste. Nach 10 Tagen Fahrt dockte das Schiff am Tiefwasserhafen Yangshan an. Der größte Hafen der Welt. Ich lief wortwörtlich vom Schiff runter und rannte nur geradeaus auf den Shanghai Tower zu. Es fühlte sich wie eine magnetische Bindung an, als würde ich angezogen werden. Es gab keinen Ausweg, weil dieser Turm für mich bestimmt war. Kalte Luft flog mir an den Ohren vorbei und meine Beine fingen an wehzutun. Doch gleichzeitig fühlte es sich so an, als ob ich schweben würde. Irgendwann machte ich eine kleine Verschnaufpause. Jedoch gab ich keinesfalls auf und kam nach einer halben Stunde an. Drinnen angekommen bezahlte ich einen Eintritt von 26$ und machte mich auf dem Weg zum Fahrstuhl. Ich bemerkte, dass ich vor Aufregung zitterte und ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Aber das ist egal, denn ich hatte nur eins im Kopf: Auf das Dach zu kommen. Der 128 Stock war der höchste und ich musste von dort aus die Treppen nehmen. Mit einem großen Lächeln auf meinem Gesicht, stürmte ich sie hinauf bis zu einer Eisentür. Und mit meinem Glück war sie natürlich offen. Ich trat hinaus und atmete die kalte Luft ein. Ich ging so weit wie es ging zum Rand hinaus und betrachtete die Straße. Ich habe gewonnen…