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Blauer Samt

 

Kapitel 1

 

Wie bei einem riesigen Wasserfall stürzt der Regen auf die Erde. An den Straßenrändern bilden sich reißende Flüsse und die Straße verwandelt sich langsam in einen großen Spiegel. Meine Silhouette ist wie ein dunkler Schatten darin zu erkennen. Meine weißen Sportschuhe stecken bis zum Knöchel in einer braunen Pfütze. An mir vorbei schwimmt eine leere Cola-Dose, die mit einem lauten Scheppern an einem Abfluss landet. Das Rauschen der herunterstürzenden Wassermassen strömt durch meine Ohren und lässt alles andere verstummen. Ich fühle mich wie in einer großen Blase. Nur der Fakt, dass der Regen weiterhin auf mich fällt, zerstört diesen Gedanken. Meine Sachen triefen und eine Kältewelle durchströmt meinen ganzen Körper. Meine Finger fangen langsam an, zu zittern und nach kurzer Zeit tut es mein gesamter Körper. Aber ich bewege mich nicht von der Stelle. Alles andere scheint plötzlich unwichtig und auch der Regen stört mich nicht. Auch wenn ich wegwollte, meine Füße heben sich nicht. Es fühlt sich an, als ob sie an den Boden betoniert wurden. So schwer, dass mir nicht anders bleibt, als an diesem Tag auf der linken Straßenseite zu stehen und auf das Gebäude gegenüber zu schauen.

 

Heute war der Tag. Es war mir bewusst, dass es geschehen würde. Irgendwann würde ich es machen. Ich hatte schon viel früher damit gerechnet. Jeden Tag aufs Neue, startete der Konflikt in mir selbst. Diese eine Haltestelle, die mich jedes Mal in Stille versetzte. Es war der Ort, der mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte. Jeden Tag aufs Neue schweifte mein Blick auf die Bahntüren, die das Einzige waren, was mich vom Herausgehen stoppten. Und das hatten sie wirklich. Jeden Tag zweimal für die letzten 4 Jahre. Erst auf dem Weg zur Schule und seit 2 Jahren auf dem Weg zu meiner Arbeit.

 

Heute war ich diesen Schritt gegangen. Ich war ausgestiegen. Mit bestimmten Schritten war ich hierher geschritten. Und jetzt? Meine ganze Zuversicht ist verschwunden und in mir macht sich das Kind von früher breit. Ich will weglaufen. Einfach alles ausblenden und laufen bis es mir den Atem raubt. Ich möchte mich in eine Ecke verkriechen und mich so klein machen, dass mich niemand mehr sehen kann, ich einfach verschwinde. Das Gebäude gegenüber hatte eine schrecklich große Wirkung auf mich. Eigentlich ist es nicht einmal das Haus an sich, sondern die Erinnerungen an das Geschehen. Das Geschehen, der Augenblick der mein ganzes Leben verändert hat. Wie Lichtblitze zucken die Bilder durch meinen Kopf. Was sagt es über mich aus, dass ich da war? Zu was für eine Person macht es mich?

 

 

 

Kapitel 2

 

13.15 Uhr. Donnerstag. Die Mensa ist wie jeden Tag mal wieder vollkommen überfüllt. An den Tischen versammeln sich mehr Schüler, als eigentlich vorgesehen sind. Hinten in der Ecke am Fenster sitzen drei Jungs aus der Oberstufe. Noch nie hatte jemand sie getrennt voneinander gesehen. Nächstes Jahr machten sie ihren Abschluss und was dann ihr Plan ist, weiß keiner so genau. Generell sprach keiner mit ihnen. Niemand hatte Interesse daran, auch die drei selbst nicht. Bekannt war einzig und alleine, dass sie alle von wohlhabenden Familien stammten. Verwöhnte Söhne, die mit Geld nur so um sich schmissen und sich als etwas Besseres ansahen. Niemand, mit dem man Zeit verbringen will, aber auch niemand dem man etwas Böses zutraut.

 

Links von ihnen saß ein Mädchen und stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Platz hatte sie an ihrem Tisch, setzen tat sich trotzdem niemand. Mit gespitzten Ohren hörte sie gespannt dem Gespräch des Nebentisches zu. Was Anderes gab es diesem Moment sowieso nicht zu tun. Zudem könnte es auch daran liegen, dass sie schon seit einiger Zeit ein Auge auf den größten der drei Jungen geworfen hatte. Ihre Schwärmerei hielt sie jedoch geheim. Das sollte keiner wissen. Am Anfang des Schuljahres war sie auf der Treppe ausgerutscht und er hatte ihr wieder aufgeholfen. Vielleicht tat man ihm mit den Gerüchten unrecht? Er kümmert sich doch um das Wohl anderer. Es war ihm wichtig, dass es ihr gut geht. Das redete sie sich auf jeden Fall selbst ein.

 

Aus dem Gespräch der Drei hört sie nur Wortfetzten. Besitzerin. 22 Uhr. Rotes Gebäude. Und den Namen einer Haltestelle, der ihr irgendwie bekannt vorkommt. Gedankenverloren schreibt sie diese Wörter in das blaue Notizbuch, welches neben ihrem Essen auf dem Tisch liegt. Schreiben mag sie seitdem sie denken kann. Zu jeder Zeit ist sie auf der Suche nach Inspiration.  Dafür hörte sie auch gerne mal bei anderen Gesprächen zu. Maria aus der 9ten hat eine Hausparty geschmissen und wurde von ihren Eltern erwischt. Tobias hat seinen neuen Audi, den er zu seinem 18ten bekommen hat, gegen die Hauswand gefahren. Sie wusste über alles Beschied.

 

Am besagten Tag um kurz vor zehn steigen die drei Jungs aus der Bahn. Mit ihnen eine ältere Frau mit Dackel und eine weitere Person. Keiner von beiden schenken sie nähere Beachtung. Es war nicht ungewöhnlich, dass auch noch andere hier ausstiegen. Schnellen Schrittes kehren sie um die nächste Straßenecke, bevor sie vor einem roten Haus abrupt stehenbleiben. „Schmidts“ steht dort in goldener verzierter Schrift am Schaufenster. Schweift man dem Blick nach unten, blitzen einem eine Vielzahl von Diamanten entgegen. Zum Teil sind sie in atemberaubende Colliers und Ohrstecker gefasst oder liegen als Einzelstücke in dem teuer aussehenden blauen Samt. Ein wirklich schöner Anblick. Wer hatte nicht schon mal darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen würde, ein solches Stück sein Eigen nennen zu dürfen? Aber wer hatte schon das Geld dafür? Die kleinen Preisschilder zeigten den Wert der Kostbarkeiten. 10.000€ für die Kette mit dem blauen Diamanten. 3.000€ für die kleinen Ohrstecker. Mit dem Geld könnte man sich glatt einen gebrauchten Kleinwagen holen. Ein unfassbarer Wert, der dort gerade im Schaufenster einstaubte. Ein Schatten huschte kurz am Schaufenster vorbei und spiegelte sich im Glas. Von innen ließ es sich kaum wahrnehmen, ein Vogel hatte wohl nur kurz Interesse an den funkelnden Teilen gefunden.

 

 

 

Kapitel 3

 

Durch den Regen fallen, die mir die Wange herunterlaufenden Tränen nicht auf. Keiner würde erahnen, wie ich mich gerade fühle. Die Wut. Die Angst. Die Verzweiflung. Der Kampf im Inneren. Keiner kann es sehen. Alle spielt sich in mir drin ab. Und das ist gut so. Keiner soll wissen, wie es in mir aussieht und mit was ich kämpfe. Ich muss mir selbst erst einmal klarmachen, was ich tun werde. Und das so schnell wie möglich. Ich habe die Last lange genug mit mir herumgetragen und den Gedanken so gut es geht verdrängt. Mein Gehirn lässt mich immer weiter auf dieses Ereignis zugreifen. Vorbei sind die Tage, an denen es mir misslang, überhaupt an dieses Geschehen zu denken. Es war wie eine verschlossene Tür, die ich nicht aufgetreten bekommen habe. Von innen hat es mich aufgefressen. Von Tag zu Tag fühle ich mich leerer. Ich bin nur noch eine Hülle meiner selbst. Die Wahrheit muss ans Licht kommen. Die Reue in mir wird immer stärker. Wie konnte ich für die ganze Zeit mit diesem Wissen leben? Ich habe etwas getan, für das ich mir nicht einmal selbst verzeihen kann. Ich kann es nicht mehr geheim halten, auch wenn ich dann Leuten, die mir sehr am Herzen liegen Schaden zufüge. Es muss Gerechtigkeit verübt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4

 

Blut. Überall Blut. Der alte Perserteppich verfärbte sich langsam rot. Erst nur eine Ecke und kurz darauf floss die rote Flüssigkeit wie ein kleiner Bach auf die marmorierten Fliesen. Ein schwerer Stiefel hinterlässt einen Abdruck. Die Spuren verteilten sich weiter auf dem gesamten Boden. Fußabdrücke von links nach rechts und wieder zurück. Wie ein hungriger Tiger im Käfig schritt dort jemand auf und ab. Angst und Verzweiflung liegen in der Luft. Jeder Atemzug fühlt sich beißend an. Hektische Bewegungen. Keiner verliert ein Wort. Der Kopf scheint leer. Kein geordneter Gedanke kann gefasst werden.

 

Ein keuchender Atemzug zerschneidet die Stille. Ein erkennbares Zucken durchfährt die Körper der Anwesenden. Panische Blicke treffen sich in der Mitte des Raumes. Ihnen war klar, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt. Die eine brutaler als die andere. Aber wer könnte schon nachweisen, dass sie es waren? Der Plan war schiefgegangen, aber das Ende musste das noch lange nicht bedeuten. Lange und ausführlich hatten sie diesen besagten Plan ausgearbeitet. Viele Stunden hatten sie vor dem Gebäude und in der näheren Umgebung verbracht. Ausgekundschaftet, bis sie ihre Hand nur noch durch den auf sie herab strahlenden Mondschein sehen konnten. Wie konnte es schiefgehen? Alles war nach Plan gelaufen. Das Geschäft war leer. Das Wetter lud nicht zu nächtlichen Spaziergängen ein und auch sonst war die Straße wie leergefegt. Ute Schmidt, die Besitzerin hatte gerade ihren Schlüssel in das goldene Schloss der Eingangstür gesteckt, als eine kräftige Hand sich auf ihre Schulter legte. Eine scharfe Stimme flüsterte ihr ins Ohr. „Tür auf. Wagen Sie es nicht, auch nur einen Ton von sich zu geben, sonst endet es nicht gut für Sie, meine Liebe“. Auch dieser Satz hatte lange Überlegungszeit benötigt. Innen hatten sie die Frau aufgefordert, alle Schmuckstücke in den schwarzen Rucksack zu stecken, den sie ihr entgegenhielten. Auch die aus dem Safe. Aus den Augenwinkeln vernahm einer der Dreien einen Schatten, was er jedoch als Einbildung abstempelte. Das lag sicherlich an der Aufregung. War er doch schon Tage zuvor paranoid durch die Straßen gelaufen.

 

 

 

Kapitel 5

 

Der Plan war schiefgelaufen. Die Situation lief aus dem Ruder. Das hätte jeder sehen können, der nur einen Blick in die Gesichter der drei Jungen geworfen hatte. Der starre Blick wich einem verschreckten Ausdruck. Die Augen weiteten sich. Auch durch die provisorischen Skimasken war das deutlich zu erkennen. Dieses Bild hat sich in meinem Gedächtnis eingebrannt. Nachts erschien es vor meinen geschlossenen Augen. Schweißgebadet wache ich dann auf und an Einschlafen ist nicht mehr zu denken. Auch jetzt, wo ich an diesem regnerischen Tag auf der gegenüberliegenden Straße stand, kam es wieder in mein Gedächtnis. Ich habe das Gefühl, als wurde ich in meiner Blase in die Vergangenheit zurückgebracht worden sein. Ich kann das Szenario von damals mitverfolgen.

 

Die Tür öffnet sich mit einem kräftigen Schwung. Das Geräusch der schweren Stiefel auf dem Asphalt und des aufgeregten Gemurmels schwirrt durch meine Ohren.  Dann ein metallisches Klirren, auf welches ein dumpferer Ton folgt. Ein Aufprall. Es fühlt sich so echt an. Erst als ich blinzle, taucht wieder die leere Straße vor mir auf. Hier war niemand und auch im Geschäft gegenüber rührte sich nichts. Das Gold am Eingangsschild hatte sich phosphatgrün verfärbt. Auch der Samt hatte nicht mehr die gleiche Farbe. Durch die Sonneneinstrahlung war das Blau fast vollkommen verblasst. Ein großer Aufkleber mit den Worten „zu verkaufen“ war schief auf der Fensterscheibe angebracht worden. Viel hatte sich in den letzten vier Jahren jedoch nicht verändert.

 

Das Klirren. Der Aufprall. Es blieb in meinem Kopf und wollte nicht wieder verschwinden. Was hatte dieses Geräusch ausgelöst? War etwas heruntergefallen bei der überstürzten Flucht? Links von der Eingangstür befand sich ein Abwasserschacht. Einer, der dieses Geräusch hätte herbeiführen können. Ein Blick hinein ließ meine aufgekommene Zuversicht wieder erblassen. Eine braune Brühe gemischt mit dem Laub des letzten Herbstes erbot sich mir. Durch den starken Regen stürzten die Wassermengen nur so in die Tiefe. Da war nichts mehr zu finden. Gerade will ich mich enttäuscht wegdrehen, als ich etwas Metallisches aufblitzen sehe. Mit all meiner Kraft stemme ich das Gitter hoch. Das ich dabei mitten in einer großen Pfütze knie, lässt mich unberührt. Meine ganze Konzentration gilt dem Metallstück. Mittlerweile war es nicht mehr zu sehen und in der Brühe untergetaucht. Mit dem halben Oberkörper unter der Straße fische ich nach dem Metall. Was ein Anblick ich wohl gerade abgebe? Endlich spüre ich etwas zwischen meinen Fingern. Etwas Scharfes. Blut fließt aus meinem Finger und das Wasser nimmt für einen kurzen Moment eine rötliche Färbung an. Schmerzverzogen verziehe ich das Gesicht. Was war das? Dieses Mal gehe ich mit mehr Vorsicht vor und ziehe ein kleines Messer aus dem Abfluss. Der schwarze Griff war schon zum Teil abgebröckelt. Die Klinge dagegen erstrahlte in einem glänzenden Silber. Ich erstarre in meiner Bewegung und das Messer fällt mit einem Scheppern auf die Straße. Ich kenne dieses Messer.

 

 

 

Kapitel 6

 

Erstarren. Ungläubig mit dem Kopf schütteln. Das taten alle, die am nächsten Morgen, dem Tag nach dem besagten Donnerstag die Zeitung aufschlugen. In der Schule war davon nichts zu spüren. Die Zeitung lesen, tat hier keiner. An den Tischen saßen wie jeden Tag mehr Schüler, als vorgesehen waren. Nur an einem hinteren Tisch, an dem das Mädchen saß, war wieder nichts los. An diesem Tag kam einem der freie Platz noch größer vor, da sie so wie sie in sich zusammengesunken war, nur einen halben Stuhl benötigen würde. Am Nebentisch, dem Tisch in der Ecke am Fenster sitzen die drei Jungen. Fröhlich scheint die Stimmung nicht, aber selbst, wenn es so wäre, würde man es ihnen nicht anmerken. Die Gefühlslage konnte man nie auch nur erahnen. Selbst der Lehrer, der einem mit seinem Röntgenblick womöglich jede Gefühlslage ansehen kann, stößt bei den Dreien auf seine Grenzen. Eine Seltenheit also, dass die Körpersprache des Größten so deutlich ist, dass er es auch hätte herausschreien können.

 

 

 

Kapitel 7

 

Schon damals an diesem dreckigen Tisch in der Mensa hatte der Konflikt in mir angefangen. Schon da spürte ich Reue. Tief in mir wollte ich es allen erzählen. Es einfach herausschreien. Ich wusste, dass es richtig wäre. Und dennoch tat ich nichts. Ich war wie gelähmt. Irgendwo zwischen Gehirn und Muskel ging der Befehl sich zu bewegen, verloren. So sehr ich mich dagegenstemmte, es klappte nicht. Es war nicht nur der Schockzustand, der mich noch beherrschte, sondern es lag auch an der Seite von mir, die es nicht wollte. Diese Seite von mir hatte Angst, Anderen Schaden zuzufügen. Innerhalb einer Minute könnte ich das Leben der Personen zerstören. Ich wäre dafür verantwortlich. Ich ganz alleine. Das wollte ich niemanden antun. Besonders niemanden, der mir so wichtig ist. Zudem konnte und wollte ich nicht glauben, was geschehen war. Es muss ein Traum gewesen sein. Das wäre niemals wirklich so geschehen. Sie hätten das nicht gemacht. Einerseits war ich eine leere Hülle, aber andererseits wollte mein Gehirn nicht auch nur für eine Sekunde verstummen. Noch heute frage ich mich, was war das Motiv? Die Intention? Es schien alles gut zu sein. An Geld sollte es nicht gelegen haben. Es fehlte an nichts. Vielleicht war es für den Kick. Einfach mal etwas tun was keiner von einem erwartet.

 

Ich habe oft nach Erklärungen gesucht. Eine simple Erklärung, durch die alles Sinn macht. Eine Erklärung, damit ich es verstehen kann. Aber es gibt keine Gute. Jeder Gedankengang endet darin, dass es nicht zu erklären ist, dass es einfach ein Fehler war, der nicht zu verzeihen ist. Ich habe lange gebraucht, um an diesem Punkt anzukommen. Der Punkt, an dem ich für die Gerechtigkeit einstehen möchte und meine Schuld eingestehe. Schaden habe ich schon genug angerichtet. Hätte ich gleich etwas gesagt und es gestoppt, wäre alles anders gewesen. Ich müsste meine Schuld und die der anderen nicht erst beweisen. Doch wie beweise ich eine Straftat, die vier Jahre in der Vergangenheit liegt?

 

 

 

Kapitel 8

 

Das Messer. Es war das Gleiche, was mir Wochen vor dem Tag des Geschehens förmlich vor die Füße gefallen war. Ich war zusammengezuckt. Die in Silber eingravierten Initialen blitzten mir entgegen. „S.H“. Simon Hammerstedt. Sogleich griff eine Hand danach und so schnell es aufgetaucht war, verschwand es auch wieder in einer Seitentasche seiner Jacke. Ein kurzer ausweichender Blick traf mich. Ein leises „Tschuldigung“ verließ seine Lippen. „Vergiss, was du gesehen hast, du weißt ja Messer sind hier verboten“. Mit einem entschuldigenden Lächeln machte er sicher, dass ich ihn auch wirklich verstanden hatte. Ein Messer. Was ist schon so besonders daran? Damals hatte ich mir keine weiteren Gedanken darübergemacht. Jetzt traf diese Erinnerung mich wie ein Schlag. Mein Blick schwenkte wieder zum Griff des Messers. Ich hatte Recht. Es ist seins. Kein Zweifel.

 

Es war ein Ansatz. Der erste Schritt in die richtige Richtung.

 

 

 

Kapitel 9

 

Der Rucksack war bis oben hin gefüllt. Nur mit Gewalt ließ er sich noch schließen. Die Mundwinkel zogen sich langsam nach oben. Ein selbstbewusstes, siegessicheres Lächeln. Ein Glücksgefühl macht sich breit. Zusammen mit dem Gefühl der Unerreichbarkeit. Keiner konnte ihnen das Wasser reichen. Ein kurzer Augenblick der Glückseligkeit. Eine Sekunde zu lag. Eine Sekunde unaufmerksam. Ein Blitzen erschien in den Augen der älteren Dame. Erst unscheinbar und dann immer deutlicher. Mit einem Schritt war sie hinter die Verkaufstheke. Lautlos. Wie ein Geist. Ein Arm verschwand unter der Theke und zog Etwas hervor. Ein schweres Metallrohr kam zum Vorschein. Mit einem Ruck hebt sie es ihn die Luft und geht zum Angriff vor. Die Frau wirkt auf einmal wie eine Bedrohung.  So klein und zerbrechlich sie eben noch schien, jetzt war sie als ernsthafter Gegner anzusehen. Der Schock in den drei Jungen saß tief. Taumelnd wichen sie einen Schritt zurück. Damit hatten sie nicht gerechnet. Was nun? Angriff oder Rückzug?

 

Der Rucksack kommt mit einem dumpfen Ton auf den Boden auf. Eine geladene Stimmung erfüllt den Raum. Die Besitzerin scheint nun noch näher gekommen zu sein. Und mit ihr das Metallrohr. Gefährlich nah schwingt es über den Köpfen der drei. Dann der Schlag. Ein stumpfer Ton hallt durch den Raum. Ächzend sinkt einer der drei in die Tiefe. Ausgeknockt.  Für einen kurzen Moment in einen tiefen Schlaf versetzt. Angriff. Die folgenden Augenblicke fühlen sich an wie ein grausamer Traum. Panik setzt ein. Das Metallrohr wechselt die Hand. Mehrere stumpfe Aufpralle hallen durch den Raum. Ein silbernes Blitzen einer Klinge. Zwei, drei Bewegungen, die wie in Zeitlupe vergehen. Dann Stille. Blut überall. Ein geschockter Blick auf die Hand, an der gerade dicke Tropfen rote Flüssigkeit herunterfallen. Aus den Gesichtern verschwindet jegliche Farbe. Wie konnte das geschehen? Wie konnte es soweit kommen? Und wieder standen zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Bleiben oder flüchten. Vor dieser Entscheidung standen nicht nur die drei, sondern auch das Augenpaar auf der anderen Seite des Schaufensters.

 

 

 

 

 

Kapitel 10

 

Ein Messer. Mein Geständnis. Würde das als Beweis reichen? Würde man mir glauben? Was würde mich erwarten?

 

Tod durch Gewalteinwirkung. Schädelhirntrauma. Zwei Stichwunden in der Bauchgegend. So hieß die Diagnose. So steht es auf den Papieren des Gerichtsmediziners. In der Zeitung wurde es mal wieder etwas verherrlicht dargestellt. Aber ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Ein schrecklicher Anblick. Ein Bild, welches mich noch heute heimsuchte. Mit den nächsten Regentropfen, zuckte ein Blitz durch die dicke schwarze Wolkendecke und erleuchtete für einen kurzen Augenblick die Umgebung. Zugleich wurde eine weitere Erinnerung hinter der verschlossenen Tür in meinem Gedächtnis befreit. Ein kurzer Augenblick. Ein Bruchteil einer Sekunde. Da war es wieder. Der Schatten, den ich aus den Augenwinkeln gesehen hatte. In meinen Kopf fängt es an, zu arbeiten. Die letzten Stunden vor dem Geschehen spiele ich wie einen Film ab. Immer wieder. Wie bei einer Dauerschleife. Da war es, das Teil, das mir gefehlt hatte. Auf einmal setzt sich alles zu einem großen Bild zusammen. Erst war nur eine schwarze Silhouette zu erkennen, dann erschien plötzlich ein scharfes Bild vor meinen Augen.

 

Kurze braune Haare. Sie waren zu einem stylischen Bob geschnitten. Die Augen wurden von einer großen Sonnenbrille verdeckt. Sie sah anders aus. Erwachsener. Aber sie war es.  Auf ihren Lippen spielte sich ein Lächeln ab. Sie strahlte eine unfassbare Ruhe aus. Sie wirkte glücklich. Vielleicht lag ich falsch. Vielleicht war es ein Fehler, hierher zu kommen. Gerade als ich mich umdrehen wollte, trafen sich unsere Blicke. Auch wenn ich ihre Augen nicht sehen kann, kann ich die aufkommende Angst in ihnen erahnen. Ihr Lächeln verschwindet von ihren Lippen. Sie hatte mich erkannt. Und sie weiß, weshalb ich hier bin. „Du weißt es?“. Das ist das erste, was sie sagt, nachdem ich ihr angedeutet hatte, in die Nebengasse zu kommen. Eigentlich war es eine rhetorische Frage. Die Antwort wartet sie gar nicht erst ab. „Was möchtest du von mir?“. Der geschockte Ausdruck wurde von einem Schwall der Angst verdrängt. Sie nimmt eine eingeschüchterte Haltung ein. „Ich habe solange dichtgehalten. Ich werde euch nicht verraten.“ Beruhigend will ich meine Hand auf ihre Schulter legen, aber sie duckt sich darunter hinweg. „Alles gut. Ich werde dir nichts tun. Ich möchte, dass du mit mir aussagst.“

 

 

 

Kapitel 11

 

Weiße Wände. Dunkles Holz. Der ganze Raum strahlte eine kühle und einschüchternde Atmosphäre aus. Einladend wirkte das Gericht nicht. Aber was hatte ich erwartet? Der Raum füllte sich langsam. Die Zeit vor der schweren Eichentür fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Der orange Overall kratzte auf meiner Haut. Ungeduldig tippele ich von einen auf den anderen Fuß. Der Gang durch die Sitzreihen, der dann folgte, fühlt sich wie der Weg der Schande an. Mein Blick ist auf meine Füße gerichtet. Ich wage es nicht einmal hoch zu schauen. Zu groß ist meine Reue, die Schuld, die auf meinen Schultern lastete. Zugleich hatte dieser Weg aber auch etwas Erleichterndes. Ich wusste was mich erwartete. Wie meine Zukunft aussehen würde. Und ich war erleichtert. Ich wusste, dass es so kommen musste. Ich hatte es verdient. Die Angehörigen hatten es verdient endlich Gewissheit zu bekommen. Schon viel zu lange hatten sie darauf warten müssen. Sie lebten mit der Ungewissheit, wie das Leben ihres geliebten Menschen geendet hatte.

 

Die nächsten Minuten kommen mir wie ein Traum vor. Als ob ich durch ein milchiges Glas von außen zuschaue. Als ob ich in einem dichten Nebel stehe. Ich erlange erst wieder mein Bewusstsein, als es dreimal laut donnert. Der Richter hatte sein Urteil verkündet. 12 Jahre Knast. Raub und Beihilfe zum Mord lautete die Anklage. Ich hatte nicht zugestochen oder zugeschlagen, aber ich war dabei gewesen. Ich hatte zugesehen. Ich war nicht dazwischen gegangen. Ich hatte die Frau in ihrem Elend zurückgelassen. Vielleicht hätte sie es überlebt. Mein Blick schweift zur linken Seite. Da saßen die anderen zwei. Zusammengesunken in ihren orangen Overalls. Sie hatte ein anderes Urteil erhalten. Raub und Mord lautet die Anklage. Sie hatten alles gestanden. Unsere Blicke trafen sich. Genauso wie es einst in dem Juweliergeschäft gewesen war. Doch dieses Mal lag ein anderer Ausdruck in unseren Augen. Keine Panik und Angst. Stattdessen waren unsere Augen leer. Wir wussten alle, dass es richtig war. Niemand hatte sich getraut, es zu sagen, aber jeder hatte daran gedacht. Und nicht nur einmal. Nun war ich derjenige, der diesen ersten Schritt gegangen war. Und ich war froh darüber. Bis heute kann ich mir nicht erklären, weshalb wir es getan hatten. Vielleicht war es ein Rebell-Akt. Vielleicht wollten wir es uns selbst und allen anderen beweisen, dass wir es durchziehen könnten. Die Schmuckstücke hatte keiner von uns auch nur einmal wieder angesehen. Tausende Euro waren die gesamte Zeit einen Meter unter der Erde in einem Waldstück in der Umgebung eingegraben gewesen. Jetzt lagen die Kostbarkeiten in Plastiktüten als Beweisstücke auf dem Tisch rechts von mir. Unabhängig, weshalb wir es gemacht haben oder was wir mit der Beute gemacht hatten, es ist nicht zu erklären. Und ich möchte auch kein Verständnis oder, dass mir verziehen wird. Ich, Mike Miller, habe das nicht verdient. Handschellen schließen sich um meine Handgelenke. Beim Verlassen fällt mein Blick auf sie. Jessica. Das Mädchen am Nebentisch. Das Mädchen was immer ihr Notizbuch bei sich trägt. Auch sie hatte jahrelang dieses Wissen mit sich herumgetragen. Als sie mich erblickt, erscheint ein kleines Lächeln auf ihren Lippen. Nicht das glückliche, ausgeglichene von dem Tag, als ich sie besucht hatte, aber es erleichterte mich. Mit einem leichten Nicken vermittelte sich mir, dass sie dankbar war. Auch sie hatte nun endlich die Möglichkeit, darüber zu sprechen. Zu groß war ihre Angst und der Gedanke, dass man ihr nicht glauben würde, zuvor. Die Liebe, die sie noch vier Jahre zuvor für mich empfunden hatte, war verschwunden. Aber vielleicht würde sie mich nicht nur schlecht in Erinnerung behalten. Ich hoffe, dass sie endlich die Vergangenheit hinter sich lassen kann und glücklich wird. Was mich angeht, bin ich schon glücklich. Schwer zu glauben, wenn man bedenkt, wo ich mich gerade befinde, aber endlich ist die Last, die auf meinen Schultern wiegte, weg. Genauso wie die Reue, die ich jeden Tag verspürt hatte. Ich bin frei! Frei von der Last der Vergangenheit.