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Gefangen in Sicherheit

 

Das Mondlicht bestrahlt, durch das schmale Fenster, meinen unruhig bebenden Brustkorb. Schon wieder der Traum und immer dasselbe. Aber wer ist das Kind, welches die Hände der Eltern umklammert? Und warum endwickelt sich ein so friedlicher Traum in Chaos aus Geschehnissen und Gefühlen? Wirr und ohne Zusammenhang. Sobald ich mich mehr auf den Traum fokussieren zu versuche, so mehr verblasst er, bis ich mich gar nicht mehr erinnern kann. Müde fallen meine Augen wieder zu und im nächsten Moment kommt meine Mutter ins Zimmer gestürmt. „Aufstehen, Max!“ schreit sie mich an. War grade nicht noch Nacht? Aber meine Gedanken werden durch ein lautes Türknallen gestört. Sie hat mein Raum schon wieder verlassen. Angezogen stehe ich vor meiner Zimmertür, diese ist noch ein Spalt geöffnet. Ich steige langsam die Treppe hoch, die bei jeder zweiten Stufe knatscht. Am Tisch angekommen löffle ich mir schnell die Cornflakes rein. „Ein Mädchen“ blitzt es in meinen Gedanken auf. Das Kind in meinen Träumen ist ein Mädchen. „Max, schon wieder am Träumen?“, mein Vater setzt sich, mit einem kühlen Gesichtsausdruck, vor mich. Kaum sitzt er, so stehe ich auf, um mein Geschirr wegzubringen. Doch kurz vor der Spüle, rutscht mir die Schüssel aus der Hand und zerbricht, mit einem lauten Klirren, auf dem Boden. Ich bin kurzeitig wie gelähmt, werde jedoch von einem Klatschen auf meiner Wange aus meiner Starre rausgeholt. „Aufräumen! Alles, ich will keinen einzigen Splitter mehr sehen. Ich gebe dir fünf Minuten. Die sollten doch für dein nutzloses Gehirn genügen, das hier wegzuräumen.“ Noch während mein Vater zu mir spricht, schüttetet er seinen Tasseninhalt über mich. „Das auch“, mit diesen Worten verlässt er die Küche. Ich betrachte einen Moment den Scherbenhaufen vor mir. Wie lange verzeihen mir meine Eltern meine Missgeschicke noch? Wann kommt der Punkt, an dem sie mich rauswerfen? Durch die Fragen in mir, steigt meine Furcht. Von der ich mich aber nicht abhalten darf, hier sauber zu machen.

 

Ich bin fertig und will grade zurück nach unten, da nehme ich ein Gespräch wahr, aber es hört sich weder nach Mutter noch nach Vater an, wer ist das? Verunsichert laufe ich der Stimme nach, bis ich vor dem großen Bildschirm stehe, der einen Mann zeigt. Er ist schick angezogen und berichtet das Wetter. Ist es wichtig, das Wetter angesagt zu bekommen. Meine Eltern meinten, nur um Wichtiges zu erledigen, darf man raus. Aber wieso soll man das Wetter wissen, wenn man sowieso nicht raus darf? „Nachrichten“, es wird immer wieder erwähnt. Sind das Nachrichten? Das Bild wechselt und Kinder werden gezeigt. „Was machen die da?“ flüstere ich zu mir selbst. Zwischen sieben und zehn Kindern, die einfach in der Öffentlichkeit sind. Ist das nicht gefährlich? Denen muss geholfen werden! Obwohl, sie sehen glücklich aus, das verwirrt mich.

 

„Es ist Zeit für Schule“, ruft meine Mutter quer durchs Haus. Ich gehe runter in mein Zimmer, um mich dort an meinen Schreibtisch zu setzen, meine Mutter wartet schon auf mich. „Warum hast du so lange gebraucht?“ „Müsste noch was saubermachen.“ „Ja, das sehe ich. Zieh dich schnell um, dein Shirt ist voll mit Kaffee.“ Ich drehe mich weg und krame ein frisches Shirt aus meinem Schrank. „Können wir jetzt endlich beginnen?“ fragt meine Mutter ungeduldig. „Ja, natürlich, Verzeihung die Verzögerung“ „Deine Entschuldigung brauch ich nicht, es soll bloß nicht wieder vorkommen, hast du verstanden?“ Ich nicke meiner Mutter als Antwort zu. Doch anstatt dies hinzunehmen, landet zum zweiten Mal eine flache Hand auf meiner Wange, nur dieses Mal kam es von meiner Mutter. Ich zucke vor Schreck zusammen, fange mich aber recht schnell. „Es kann doch nicht sein, wir erziehen dich mit Anstand und du gehst so respektlos mit uns um. Ich bin enttäuscht“ Mit strengen Blick übt sie Dominanz auf mir aus. „Verzeihung, Mutter. Ich habe verstanden, es wird nicht wieder vorkommen.“ Ihr eben noch strenger Blick, verwandelt sich in ein herzliches Lächeln. Sie holt erneut mit ihrer Hand aus aber dieses Mal legt sie diese sanft an meine Wange und streichelt über die, „Du wirst später ein gut erzogener junger Mann werden, da bin ich mir sicher.“ Ich gucke verunsichert in ihre Augen und versuche meine Mundwinkel zu einem Lächeln zu zwingen, was mir nur so halb gelingt, trotzdem gibt sie sich mit dieser Geste zufrieden. „Wir müssen heute einiges nachholen und da wir schon später als gewohnt anfangen, musst du konzentriert bei der Sache sein.“

 

Doch das bin ich nicht, es sind jetzt drei Stunden vergangen und mein Fokus liegt bei dem Mädchen, welches ich Nacht für Nacht in meinem Traum sehe und bei den Nachrichten. Die Kinder leben doch in Gefahr, da draußen, ganz ohne Schutz und dann auch noch so viele. Sie sind so ein einfaches Ziel, vordem was da draußen ist. Oder wurden sie deshalb auf diesem Bildschirm gezeigt, weil ihnen geholfen werden muss? „Hörst du mir überhaupt zu? Ich rede mit dir. Was ist denn heute mit dir los? Du bist ein Nichtsnutz, wenn du weiterhin so in deinen Gedanken bist.“ Soll ich ihr von meinem Fund berichten oder weiß sie es schon? Wenn ich es ihr aber sage, dann weiß sie, dass ich in einem Raum war, in den ich gar nicht hätte sein dürfen und was dann mit mir passiert, weiß ich nicht und das will ich mir auch nicht ausmalen. Sie wird wissen, was richtig ist, meine Eltern tun das alles für meinen Schutz, ich kann mich glücklich schätzen, denn zu urteilen, von den Kindern auf dem Bildschirm, hat nicht jeder so fürsorgliche Eltern. „Jetzt reicht es mir aber, grins nicht so dumm“, ich gucke sie zuerst verwirrt an, bis ich realisiere, weshalb ich grinse. „Ich bin dankbar, Eltern wie euch zu haben. Ich glaube nicht jeder ist so fürsorglich sein Kind gegenüber. Wer weiß was da draußen alles herrscht. Ich bin echt froh in Sicherheit aufzuwachsen.“ „Du bist so ein guter Junge, aber das soll dich nicht vom Lernen abhalten. Also arbeite ab jetzt fleißig weiter.“

 

Die nächsten Stunden vergehen problemlos, doch trotzdem lässt mich meine Neugierde nicht los. Die Kinder auf dem Bildschirm beschäftigen mich noch bis tief in die Nacht. Ich muss mehr über sie herausfinden. Aber meine Eltern zu fragen wäre zu riskant. Der Bildschirm, ich muss zu dem. Ich beschließe noch heute Nacht aus meinem Zimmer auszubrechen und zu dem Raum zurückzukehren. Vor meiner Zimmertür wartet das erste Hindernis auf mich, sie ist versperrt, wie eigentlich immer, also warum wundere ich mich großartig. Doch die Lösung liegt mir zum Greifen nah. Auf dem Schreibtisch befindet sich noch eine Haarnadel meiner Mutter. Mit der sollte ich es doch irgendwie hinbekommen, die Tür zu öffnen. Siegessicher stochere ich im Schlüsselloch umher, doch das hält nicht lange an. Ein leises Knacken, welches sich verdächtig nach einem Metall anhört, welches in zwei bricht, zerstört die Vorfreunde in mir. In der Hand halte ich nun die kaputte Haarnadel, wodurch sich meine Befürchtung bestätigt. Problem des Ganzen ist, die andere Hälfte steckt noch im Schlüsselloch. Panik steigt in mir auf, denn das kleine Stück Metall bekomme ich ohne Weiteres nicht raus. Niedergeschlagen lasse ich mich auf mein Bett sinken. „Ich werde es morgen erneut versuchen.“ Mit diesen Worten lasse ich mich nach hinten fallen und schlafe schlussendlich ein.

 

Diesen Morgen wache ich nicht durch den Ruf meiner Mutter auf, sondern werde gewaltsam aus dem Bett geworfen. Unter Schock und noch im Halbschlaf muss ich das Geschehende erst einmal realisieren. Durch noch verquollene Augen vom Schlaf schaue ich hoch zu meinen Eltern. Ich setze zu einem verwirrten „Gute Morgen“ an, doch werde noch beim Reden unterbrochen. Meine Mutter wirft ein kleines Stäbchen aus Metall vor meine Füße. „Ich will keine dummen Ausreden. Sag die Wahrheit!“. Ich muss erst einmal die Situation verarbeiten und das Stäbchen, welches vor mir liegt, identifizieren. Und dann fällt es mir ein, meine Augen weiten sich und in meinem Kopf ist nicht mehr als Leere. „Ich musste aufs Klo.“ „Dass du mit so einer einfachen Ausrede kommst, hätte ich nicht gedacht, dachte schon, da wäre etwas mehr Verstand in deinem Hirn.“ „Ich meine es ernst.“ Mein Gesichtsausdruck wandelt von einem verunsicherten, zu einem fest fokussierten Ausdruck. „Ich habe gestern vergessen vor dem Schlafen, auf Toilette zu gehen. Und im Übrigen muss ich immer noch ziemlich dringend, denn wie ihr seht, hatte ich in der Nacht nicht so viel Erfolg. Also wenn ihr mich entschuldigen könntet, dürfte ich einmal vorbei.“ Mein Blick weicht von meinen Eltern ab und visiert an ihnen vorbei die Treppe hoch. Doch werde ich an meinem Arm gepackt, bevor ich auch nur mein zweites Bein in Bewegung setzten konnte. Mit einem selbstbewussten Blick gucke ich meinen Vater in die Augen „Wie du meinst.“ Er lässt seinen Arm sinken und ich stampfe die Treppe hinauf. Ich versuche es erneut und das jetzt. Meine Eltern werden noch in meinem Zimmer sein, da sie mir nicht trauen, sie werden es durchsuchen und nach Hinweisen gucken. Ich beschleunige meinen Schritt und stehe nun vor der Tür, einmal tief durchatmen, meine Hand greift nach der Klinke und drückt diese bedacht runter. Zu. Sie ist verschlossen. Bin ich wirklich so naiv und denke, dass auch nur irgendeine Tür in diesem Haus geöffnet ist. Niedergeschlagen gehe ich zum Bad.

 

Einen Augenblick später befinde ich mich in der Küche. Beim Essen kommt mir der Traum wieder in den Kopf. Das Mädchen war dieses Mal deutlicher zu erkennen als sonst. Liegt es dran, dass ich jetzt weiß, dass es ein Mädchen ist? Sie hat gelächelt und dabei kam ihre Zahnlücke zum Vorschein. Ein kleines süßes Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen. Das Bild, welches grade noch so klar vor meinen Augen war, verschwimmt. Ich will ihren Namen wissen, aber auch woher ich sie kenne. Sie kommt mir so bekannt vor. Meine Mutter ist grade aus ihrem Büro gekommen und geht an der Küche vorbei. „Mutter!“ „Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“ Nein, eigentlich sehe ich es nicht, sie wirkt sehr entspannt und schlendert auch nur so den Flur entlang, aber das behalte ich für mich. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht aufhalten, aber wenn du nur fünf Minuten Zeit hättest.“ Sie lehnt sich an den Türrahmen „Verbrauch nicht zu viel von meiner kostbaren Zeit.“ Ich brauche einen Moment, um meiner Mutter in die Augen zu blicken, doch ohne es zu bemerken, fange ich schon an, zu sprechen. „Ein Mädchen mit ihren Eltern erscheint Nacht für Nacht in meinen Träumen. Die Eltern kann ich nicht erkennen, es ist, als hätten sie kein Gesicht aber von dem Mädchen sehe ich dies immer genauer.“ Da es nur so aus mir raus sprudelt, achte ich nicht auf ihren Ausdruck. „Stopp!“ Es ertönt laut und klar, ich zucke leicht zusammen und mein Blick trifft den meiner Mutter. Ich finde endlich wieder die Zeit, sie genauer zu betrachten. Sie wirkt aufgebracht und so, als würde sie mit sich selbst kämpfen. „Was soll das?“, ihre Worte verlassen aufgebracht ihren Mund. Doch man kann praktisch die Fragezeichen um meinen Kopf sehen. „Ich verstehe nicht.“ „Das ist ja mal wieder typisch, guck nicht so dumm. Ich habe dir gesagt, dass ich keine Zeit habe, und was machst du? Du kommst mir hier mit irgendwelchen Geschichten, von den du träumst“, sie lacht verächtlich „Ich weiß echt nicht, was man mit dir machen soll. Ich bin fassungslos. Behalt in Zukunft deine Märchen für dich.“ Kopfschüttelnd verlässt sie die Küche. „Heute fällt Unterricht aus“, bringt sie noch trocken hervor. Das war eine außerordentlich merkwürdige Reaktion, durch die mein Interesse an dem Mädchen noch mehr geweckt wurde. Ich weiß nicht, wie ich auf den Gedanken komme, aber, ich habe das Gefühl, meine Mutter weiß irgendwas. Auch wenn es nicht das gleiche Mädchen sein mag, welches ich im Traum sehe. Aber ein unguter Beigeschmack ist bei der ganzen Sache.

 

Ich befinde mich im Flur, meine Gedanken sind bei den Szenarien der letzten Tage und Wochen, sowie Nächte. Ich will mehr wissen. Über die Kinder auf dem Bildschirm, sowie dem Mädchen. Schon fast automatisch bewege ich mich zu dem Raum mit dem Bildschirm. Die Tür ist angelehnt, aber zur Sicherheit, klopfe ich sanft gegen diese. Keine Antwort. Ich warte noch einige Atemzüge und drücke dann die Tür nach vorne. In dem Raum befindet sich niemand. Erleichtert senken sich meine Schultern. Ich lasse die Tür leise ins Schloss fallen. Der Schlüssel steckt. Ich schätze mich glücklich und verriegle das Zimmer. „Sicher ist sicher“, mein Puls steigt merkbar an, aber mein Fokus liegt auf dem Bildschirm vor mir. Er ist schwarz. Ich gebe doch jetzt nicht auf, ich taste den Rahmen ab und tatsächlich lassen sich Knöpfe drücken, doch der Bildschirm bleibt schwarz. Beim letzten angekommen, passiert es. Der Bildschirm gibt einen lauten Ton von sich ab und ein Bild erscheint oder eher ein Video. Es ist zu laut, so wird man mich hören. Meine Hand fährt wieder zur Rückseite und drückt panisch die Knöpfe. Das Video wechselt und der Ton ist endlich leiser. Dieses Mal sind keine Kinder zusehen, es wird ein Produkt vorgestellt. Werbung, ich kenn es aus Zeitschriften. Ich finde es faszinierend, es auch als Video zu sehen. Vor mir liegt eine Fernbedienung, die Neugierde in mir ist sowieso nicht mehr aufzuhalten. Ohne diese wirklich zu betrachten, drücke ich mal wieder auf Knöpfen rum. Der Bildschirm geht aus. Hektisch drehe ich mich im Raum umher, doch niemand ist da. Ich drücke erneut auf den gleichen Knopf und er ist wieder an. Ein leises „Ahh“ gebe ich von mir. Ich habe herausgefunden, wie ich das Video ändere und es lauter oder leiser mache. Stolz betrachte ich es vor mir. Es läuft Werbung, also beschließe ich, mich etwas im Raum umzusehen. Auf dem Schreibtisch steht ein Laptop. Das ist der, den meine Mutter öfters zum Unterricht mitnimmt. Ich selbst habe aber noch nicht an ihm gearbeitet. Neben dem Tisch befindet sich ein Regal und eine Wand, an der einige Zeitungsartikel ausgeschnitten hängen. Ich gehe näher an die Artikel, um sie lesen zu können. Sie stammen großenteils aus dem Jahr 2002 und sind Vermisstenanzeigen von zwei Kindern. Ich ignoriere die Geräusche, die vom Bildschirm aus erklingen. Meine Konzentration liegt vollkommen auf dem, was an der Wand hängt. „Doppelter Mord, Täter auf der Flucht“ Wieso sollten meine Eltern so alte Artikel aufbewahren? Ist das ihr Beruf, solche Fälle zu klären? „Zwei Kinde werden vermisst“ Die Schlagzeilen hängen alle beieinander. Ein Artikel von vor zwei Jahren sagt aus, das neue Hinweise zur Tat am 25.03.2002 ans Licht gekommen sind. Und der Fall wieder aus den Akten geholt wurde. Ich bin wie in einem Rausch. Versuche die gelesene Information wie ein Schwamm in mich aufzunehmen. Doch dann lässt ein Bild das Blut in mir gefrieren. Eine Vermisstenanzeige von dem Mädchen aus meinem Traum. Das Bild aus meinem Gedanken vervollständigt sich mit dem Bild vor mir. „Lia Tomps“ das ist ihr Name. Ein gutes Gefühl durchströmt meinen Körper. Ich weiß endlich mehr über das Mädchen. Ich reiße vor lauter Freude den Abschnitt ab und halte ihn in beiden Händen. „Ich werde ihn mir später durchlesen.“ Mit den Gedanken lasse ich den Zettel in meiner Hosentasche verschwinden. Um mir Weiteres genau anzugucken, fehlt mir die Zeit. Der Bildschirm zieht meine Aufmerksamkeit erneut auf sich, die „Werbung“ ist vorbei und es erscheint wie beim ersten Mal ein Mann, schick gekleidet im Anzug. Wie paralysiert blicke ich ihn in die Augen. Ich denke aber nicht, dass er mich sehen kann, sondern eher, dass er zu einen breiteren Massen von Menschen spricht und man nur ihn sehen kann, aber nicht umgekehrt. Es wird von einem Krieg berichtet, Flüchtende werden gezeigt. Ich wusste doch, dass es draußen gefährlich ist, so wären die Kinder doch in Gefahr. Es wird ein Land genannt. Afghanistan, wenn ich es richtig verstanden hab. Ich habe von dem schon einmal gehört, meine Mutter hat mir in Erdkunde die Länder beigebracht. Es ist weit von Deutschland entfernt. Also herrscht überall auf der Welt Gefahr. Die Situation auf der Welt macht mir ganz schön zu schaffen und wenn ich daran denke, dass meine Eltern tagtäglich das Haus verlassen, um mich zu beschützen, kommt in mir ein großer Kloß aus schlechtem Gewissen hoch. Alles, nur um mich in Sicherheit zu wiegen. Der Bericht ändert sich und zeigt nun eine andere Überschrift an „Rekordtemperaturen im Juni“ „Während die Landwirte um ihre Ernte fürchten, lachen, planschen und feiern die Leute am Strand und im Schwimmbad.“ Mir klappt die Kinnlade runter. Der Mann spricht weiter „Parks und Städte sind überfüllt. Wer nach Feierabend noch raus möchte, kann dies gern tun, denn deutschlandweit ist für den restlichen Tag Sonnenschein angesagt, aber Weiteres hören Sie jetzt beim Wetter. Hiermit gebe ich weiter an meinen Kollegen.“ „Schönen guten Nachmittag…“ doch weiter höre ich gar nicht zu, ich bin schockiert und fassungslos. Meine Gedanken explodieren förmlich in meinem Kopf. Entgeistert stolpere ich nach hinten. Meine Augen sind weit aufgerissen, genauso wie mein Mund. Menschen sind da draußen, leben ein Leben ohne Gefahr. Das… das kann nicht sein. Meine Eltern haben mir neunzehn Jahre meines Lebens eingetrichtert, ich darf ja nicht das Haus verlassen. Es ist gefährlich. Sie wollten mir nie sagen, was da draußen ist, aber sie meinten, es ist besser, wenn ich es erst recht nicht wüsste. Ich kann immer noch nicht fassen, was ich gerade gehört und gesehen hab. Es spielt sich immer wieder in meinem Kopf ab. Menschen, die unbeschwert leben. Menschen, die frei sind. Warte, was denk ich da. Die Menschen, die ich auf dem Bildschirm gesehen habe, sind frei. Das heißt, ich habe mein Leben lang in Gefangenschaft gelebt. Nein, nein das kann nicht sein, ich habe das bestimmt nur falsch aufgefasst. Das sind meine Eltern, wieso sollten sie mich anlügen. Sie sorgen sich um mich, pflegen mich und haben mich aufgezogen. Ich sollte keinen fremden Mann vertrauen. Aber es lässt mich nicht los. Ich muss es mit meinen eigenen Augen sehen, um zu sagen, wer die Wahrheit sagt. Aber mir war es bis jeher strikt untersagt, das Haus zu verlassen. Doch bevor ich irgendwelche Pläne mir überlegen konnte, erschlagen mich meine eigenen Gedanken erneut. Nur dieses Mal ist das Wirrwarr in meinem Kopf klarer, was dazu führt, dass mein Körper komplett mit der Situation überfordert ist. Meine Atmung wird unruhig und der Boden fängt an, sich zu drehen. Ich habe das Gefühl, zu ertrinken, ich hole panisch Luft. „Mein ganzes Leben ist eine Lüge.“ Ich murmle den Satz auf und ab. Finde keine Ruhe, versuche aber so leise es geht, mich zu bewegen. Ich darf in meiner jetzigen Lage keine Fehler machen. Ich schalte den Bildschirm aus, gehe zu der Wand mit den Zeitungsartikeln und nehme so viele Zettel mit, wie ich greifen kann. Mit zittrigen Schritten gehe ich zur Tür, dreh den Schlüssel um und öffne diese. Eine riskante Aktion, ich weiß nicht, ob mich dort jemand erwartet, aber ich muss hier aus diesem Raum raus. Ich zieh den Schlüssel aus dem Loch, um die Tür anschließend von außen abzuschließen. Das wird mir etwas Zeit verschaffen, denke ich mir.

 

Mein Weg führt in mein Zimmer. Ich setze mich in eine unübersichtliche Ecke, so wird man nicht gleich sehen, was ich mache. Ein letzter Blick fällt auf meine Tür, sie ist geschlossen. Um meinen Atem wieder normal zu bekommen, sitze ich erstmal da und hole ein paar Mal tief Luft. Ich werde noch etwas Zeit haben. Wie viel ist mir jedoch nicht bewusst, ob es nur noch zehn Minuten oder vier Stunden sind, weiß ich nicht. Ich krame die ganzen Zeitungsartikel aus meinen Hosentaschen und breite sie vor mir aus. Die Vermisstenanzeige von vorhin nehme ich mir zur Hand und lese diese durch.

 

„Der Vorfall ereignete sich am 25.03.2002. Die Eltern Steven T. und Katharina T. wurden in der Nacht vom 24.03 auf den 25.03. brutal ermordet. Der Tathergang spielte sich, wie Kriminologe Dr. Peter vermutet, wie folgt ab. Er schätzt auf zwei oder mehrere Täter. Diese drangen zur Tatzeit um 23.30 Uhr in das Familienhaus ein. Dort eingetroffen, gingen sie ins Schlafzimmer der Eltern und schossen Steven T. frontal dreimal in den Schädel, daraufhin verstarb das Opfer sofort. An der Leiche von Katharina T. wurden Würgemale festgestellt. Der Täter habe zuerst die Frau erwürgt und dann zwei Schüsse in den Hinterkopf geschossen. Das jüngste Kind Samuel T. befand sich zu der Zeit der Ermordung der Eltern im Raum. Hinweis ist das blutbespritzte Kinderbett, welches deutlich zeigt, dass beim Geschehen ein Neugeborenes vor Ort war. Das Kleinkind Lia habe sich wohl in ihrem eigenen Zimmer befunden. Es gab zur Tatzeit keine Indizien, dass sie ebenfalls verletzt oder ermordet wurde. Die Hoffnung stand vor Kurzen noch, dass die Kinder die Tat überlebt haben. Doch ein Teil der Wahrheit kam vor zwei Wochen am 14.06.2019, ans Licht. Die Leiche von Lia T. wurde von Spaziergängern, im Klövensteener Wald, zerstückelt in einem Müllbeutel gefunden. Laut Untersuchungen sei sie wenige Wochen nach der Ermordung der Eltern getötet worden sein. Das Waldgebiet und umliegende Wälder wurden von Polizisten durchsucht, um Hinweise auf den noch vermissten Bruder Samuel T. zu finden. Bis heute war dies aber aussichtslos.“ Ich lasse den Artikel in meiner Hand sinken. Zu viele Emotionen und Gedanken befinden sich in mir. Einen einzigen klaren Gedanken zu fassen ist unmöglich. Das Mädchen aus meinen Träumen ist tot. Mit ihrem herzlichen Lächeln, ihrer süßen Zahnlücke und den zwei geflochtenen Zöpfen. Sie kam mir immer so bekannt vor aber nach dem Datum zu urteilen, war ich grade mal auf die Welt gekommen. Ich kann sie also gar nicht kennen.

 

Der Zeitungsartikel zeigt ein Bild von Lia und neben dem ist, ist ein Bild von Samuel zusehen. Er ist noch ein Neugeborenes, doch man kann eine gewisse Ähnlichkeit zu dem Mädchen erkennen. Ich drehe das Blatt in meinen Händen um und sehe ein Bild in einem Jungen im Alter von ungefähr sechszehn Jahren. Es ist ein Phantom Bild und soll zeigen, wie ungefähr Samuel im Jahr 2019 aussehen könnte. Ich betrachte es genau, bis ich plötzlich stutzig werde. Nicht nur die Ähnlichkeit zu dem Mädchen ist da, sondern auch zu mir. Ich springe auf und laufe ins Badezimmer. Dort angekommen vergleiche ich das Phantombild mit meinem Spiegelbild. Die Ähnlichkeit ist erschreckend, ein Muttermal befindet sich an der gleichen Stelle, die Augenfarbe genauso wie Form ist wie kopiert. Ich bin überfordert, überfordert mit allem. Ich fange an, zu weinen und schmeiße mich förmlich auf den Boden, drücke die Zeitung an meinen Körper, der vor Aufregung bebt. Die Leute, bei denen ich jahrelang gelebt habe, sind fremde Menschen. Menschen, die meine Eltern und meine Schwester ermordeten. Die mich jahrelang eingesperrt haben. Ich fange an zu schreien. Ich kann im Moment nicht rational denken, mir ist egal ob meine Eltern, nein, meine Entführer mich hören. Mir ist egal, was mit mir geschieht. Mein Leben zerbröckelt Stück für Stück. Die Furcht vor den Menschen, mit den ich unter einem Dach lebe, verwandelt sich in Ekel. Ich schaffe es nicht, mich bis zur Toilette zu robben, denn vorher schon übergebe ich mich auf den Fließen. Ich schreie und schlage um mich. All das Chaos, was in mir ist, muss raus, sonst würde mein Kopf explodieren, so fühlt es sich jedenfalls an. Ich nehme Geräusche war. Sie kommen von der Haustür, die „Fremden“ sind nach Hause gekommen. Sie kommen zu mir gerannt und wollen mich anfassen, um an mir zu rütteln, stellen Fragen wie „Was ist passiert?“, „Hast du dir weh getan?“. Doch ich nehme alles nur beiläufig wahr. Ich schmeiße den Artikel, den ich bis eben noch fest an meinen Oberkörper gedrückt habe auf den Boden. Sofort ändert sich der Gesichtsausdruck der „Fremden“ in ein wuterfüllenden. Der Mann geht zügig auf mich zu und holt mit der Faust aus. Es fühlt sich an wie in Zeitlupe, seine Bewegungen, die Schreie von der Frau, alles verläuft wie in einer Blase. Doch dann trifft sie mich, Schwärze breitet sich in meinem Sichtfeld aus.

 

Ich erwache, bin unfähig mich zu bewegen. Schmerzen durchfahren mich, wenn ich auch nur versuche, mich zu rühren. Meine Augen sind verklebt, aber ich schaffe es letztendlich diese zu öffnen. Ich befinde mich in meinem Zimmer. Mein Blick senkt sich auf meinen Körper. Ich liege nur auf einer Matratze, trage ein Shirt und eine Boxershorts. Der Grund, weshalb ich bewegungsunfähig bin, wird mir jetzt auch klar.  Hämatome und Platzwunden übersehen meinen Körper. Ich hebe unter Schmerzen meinen Arm und streife mein Oberteil hoch. Die Quelle der starken Schmerzen ist mein Bauch, dort zusehen ist ein fettes blau-lilanes Hämatom. „Scheiße“, krächze ich. Die Erinnerungen schießen in mir hoch, doch die Kraft, um in Panik auszubrechen, habe ich nicht. Die Tür öffnet sich. „Wer bist du?“ Es sollte bedrohlich klingen, aber es kam nur ein leises Flüstern raus. „Deine Mutter, wer sonst?“ Ihr selbstsicheres Grinsen widert mich an. „Du bist nicht meine Mutter. Meine Mutter verstarb gemeinsam mit meinem Vater vor knapp neunzehn Jahren.“ „Ach ja, ach ja.“ Sie schreitet langsam auf mich zu, in der Zeit versuche ich mich gequält aufzusetzen. „Bleib ruhig liegen. Die Schmerzen werden dich sonst um den Verstand bringen.“ Sie lacht fürchterlich grässlich. „Du wusstest, dass ich meine Schwester im Traum sah.“ „Aber natürlich, ich habe es mir gedacht. Aber auch deine heimlichen Schnüffeleien blieben uns nicht unbekannt. Natürlich wolltest du nicht nachts aus deinem Zimmer ausbrechen, um zu pinkeln. Das ist schwachsinnig. Aber dass ich so einen fatalen Fehler gleich zweimal machte.“ Ihr Blick wandert meinen Körper auf und ab. „Die Tür zu meinem Büro offenzulassen. Tja, dafür musstest du jetzt büßen. Viel zu neugierig. Aber mach dir nichts draus.“ Fassungslos guck ich sie an „Ihr habt mich belogen, mein Leben lang. Weshalb? Weshalb habt ihr mich aufgezogen und mich hier eingesperrt.“ „Deine Neugierde bringt dich noch um. Sei still, dir sollte doch kläglich bewusst sein in was für einer Lage du dich befindest.“ Sie steht nun direkt vor mir, ihr Blick ist erniedrigend. „Einmal am Tag wird es Essen geben, sieh zu, wie du satt wirst. Das Zimmer wird nicht verlassen. Der Eimer steht da nicht ohne Grund. Ich denke, du weißt, wofür der ist. Dann brauchst du nicht versuchen, rauszuschleichen.“ Sie zwinkert mir zu, aber auf keinen Fall auf eine freundliche Art. Sie macht sich über mich lustig und ich kann mich nicht wehren. „Das war's dann auch, schönes Leben, du Missgeburt.“ Sie ist aus der Tür und will diese gerade schließen „Ach ja, Samuel, deine Mutter war eine Hure. Du kannst dich glücklich schätzen, bei uns aufgewachsen zu sein, aber nein du musst alles zerstören.“ „Ich soll mich glücklich schätzen?“ Zum ersten Mal erhebt sich meine Stimme. „Meine Familie ermorden und mich weggesperren. Ihr seid verrückt!“ Ich will weiter reden, doch die Tür schließt sich mit einem lauten Knall und wird abgeschlossen. Das hält mich aber nicht davon ab, den letzten Satz erneut aus mir rauszubrüllen „Verrückt seid ihr. Ihr seid Psychopathen!“ Durch den Stress bin ich aus der Puste.

 

 
Wie viele Tage vergangen sind, kann ich nicht mehr einschätzen, die ersten paar Tage habe ich noch versucht zu zählen, doch dadurch, dass ich fast durchgehend schlafe, bin ich schnell aus dem Rhythmus gekommen. Zur Beschäftigung male ich an meine Wände, die paar Bücher, die ich noch besitze, sind mehrfach durchgelesen und auch dort sind einige Seiten mit Zeichnungen vollgekritzelt. Ob ich hier irgendwann wieder rauskomme, bezweifle ich. Wohl eher habe ich schon aufgegeben. Natürlich habe ich schon versucht zu fliehen, vergebens, ich komme nicht einmal aus diesem Zimmer. Jetzt sitze ich hier auf meiner Matratze, meine alten Wunden sind schon längst verheilt, dafür sind neue dazugekommen, mein Körper hat keine Kraft mehr, aber auch meine Psyche ist am Ende. Ich warte auf mein Essen und Trinken. Die Tür öffnet sich einen Spalt und das eben angekündigte wird reingeschoben. Ich habe endlich eine Idee aus dieser Hölle zu entfliehen und Freiheit zu genießen. Mein Essen lasse ich ungerührt, nur das Messer nehme ich mir zur Hand. Es ist nicht scharf genug um als Waffe zu dienen, doch mit etwas Hilfe wird es Fleisch schneiden wie Butter.

 

Ich sitze auf dem Boden und schleife nun seit einiger Zeit das Messer an dem Heizrohr. „Perfekt“ nuschle ich vor mir hin. An meiner Fingerspitze tropft etwas Blut runter. Anscheinend sind schon einige Stunden vergangen, denn das Schloss der Tür erklingt und die Klinge wird nach unten gedrückt. Ich verstecke das Messer hinter meinen Rücken. Mein Entführer betritt das Zimmer „Du verweigerst also das Essen. Soll ich es dir mit Gewalt einflößen, oder was?“ Meine Decke liegt über meinen Schoß, so sieht er nicht, dass ich die Hand, in der sich das Messer befindet, nach vorne bewegt. Meine Gedanken schweifen umher, soll ich es wirklich tun. Werde ich so frei sein? Ja, es ist der einzige Plan, den ich in Realität umsetzen kann. Die Klinge streift zuerst meinen Unterarm entlang, weshalb sich Gänsehaut auf meinem Rücke ausbreitet. Bevor er mir zu nah kommt, muss ich es durchziehen. Ich lächle ihn an, denn ich weiß, dass da draußen die Freiheit auf mich wartet. „Was ist mit dir? Antworte. Warum lächelst du?“ Während er dies sagt, zog ich die Klinge tief durch das Fleisch. Die rote warme Flüssigkeit breitet sich in null Komma nichts aus. Mein Lächeln und meine Freunde werden größer. Ich kann es kaum glauben. Der Blick meines Gegenübers ist leer. Doch Genaueres nehme ich schon gar nicht mehr wahr. Die Umgebung um mich verschwimmt, Erinnerungen ziehen an mir vorbei. Bis ich schließlich an dem Bild aus meinem Träumen angekommen bin. Meine Eltern und meine Schwester sind deutlich zu erkennen. Sie bewegen sich und öffnen ihrer Arme, sodass ich in eine herzliche Umarmung geschlossen werde. Ich kann sie nach über neunzehn Jahren wiedersehen. Die Freude in mir ist enorm. Zum ersten Mal bin ich Frei. Ein Gefühl, welches mich unbeschreiblich fasziniert.