· 

Tiefe Gewässer

 

Prolog

 

 

 

Wenn Kiana sich mit nur einem Wort beschreiben müsste, würde sie wahrscheinlich das Wort Wasserratte wählen. Nicht nur, dass sie durch eine Wassergeburt auf die Welt kam, sondern weil sie auch schon immer gern geschwommen ist. Von klein auf war es so. Sobald sie die verschiedenen tiefen Gewässer erkunden konnte, ging es ihr gut.

 

Am liebsten trieb sie auf ihrem Rücken oder sank auf den Grund des Gewässers, da sie sich in solchen Momenten frei fühlte und alles um sich herum ausblenden konnte.

 

 

 

Freiheit.

 

 

 

Das Gefühl, welches für sie alltäglich war, jedoch lange nicht mehr von ihr empfunden worden ist.

 


 

Kapitel 1

 

 

 

,,Hör auf zu heulen. Du hast Pflichten und das weißt du auch.”

 

 

 

Kiana versuchte seine Worte nicht zu Herzen zu nehmen, doch sie bemerkte ganz genau, wie sie wieder anfing, an sich zu zweifeln. Ihr Selbstbewusstsein sank und sie versuchte ihre Tränen zurückzuhalten.

 

 

 

,,Wie oft müssen wir es noch durchkauen? Die Regeln. Los”, knurrte Dirk sie an.

 

 

 

,,R-regel Nummer 1 besagt, was Dirk sagt, wird auch gemacht. Nummer 2 besagt, egal wann, wenn Dirk Bedürfnisse hat, müssen diese b-befriedigt werden-”, antwortete sie ihm, doch bevor sie die nächste Regel aufsagen konnte, wurde sie von ihm unterbrochen.

 

 

 

,,Stop! Wie ich sehe, kennst du die Regeln. Und trotzdem liegst du hier, auf meinem Bett, und flennst wie ein Kleinkind.”

 

 

 

Er griff nach Kianas Kiefer und drehte ihr Gesicht mit Druck in seine Richtung, so dass sie ihm in die Augen sehen musste. An seinem Blick erkannte sie, dass er etwas von ihr erwartete.

 

 

 

,,Es tut mir leid.”, flüsterte sie, wissend, dass sie nächstes Mal wahrscheinlich wieder weinen würde.

 

 

 

Zufrieden mit sich selbst ließ Dirk ihren Kiefer los und machte sich auf den Weg in die Küche, um sich ein Bier zu genehmigen.

 

 

 

Er ging davon aus, dass er es sich verdient hatte, da er seine Pflichten eines guten Mannes erfüllt hatte. Geld nach Hause bringen und seine Frau an seinem Sexleben teilhaben lassen.

 

 

 

 Kiana lag in dem Bett, in welchem sie sich noch nie wirklich wohl gefühlt hatte, und dachte über die letzten Jahre in ihrem Leben nach.

 

 

 

Sie war 22 Jahre alt, war mit einem älteren Mann verheiratet und arbeitete als Krankenschwester. Es war nicht das beste Leben, aber man konnte es auch nicht als schlecht bezeichnen.

 

 

 

Sie konnte im Hintergrund, das Klingeln ihres Weckers, der sie an ihren Job erinnern sollte, hören und ehe sie sich versah und ohne es wirklich mitzubekommen, stand sie bereits vor dem Krankenhaus, bereit, ihre Schicht zu beginnen. Es war immer dasselbe. Blut abnehmen, Medikamente verabreichen, Ärzten assistieren und vieles mehr. Ein üblicher Tag im Krankenhaus eben.

 

 

 

Da ihr Alltag wie immer ablief, ging Kiana davon aus, dass es bei ihrer Mittagspause genau so sein würde, aber überraschenderweise war es nicht so. Dieses Mal setzte sich jemand zu ihr. An seiner Kleidung konnte sie erkennen, dass es sich um einen Arzt handeln müsste, aber sein Gesicht war ihr unbekannt.

 

 

 

In einem Krankenhaus mit tausenden von Mitarbeitern, war so etwas nicht ungewöhnlich. Was allerdings ungewöhnlich war, war die Tatsache, dass sie, als Krankenschwester, von einem unbekannten Mitarbeiter während der Pause angesprochen wurde.

 

 

 

,,Ähm. Hey. Ich glaube wir haben uns noch nie zuvor getroffen. Ich heiße Matt.”, sagte er zu Kiana mit einem strahlenden Lächeln. Er war am überlegen, ihr seine Hand auszustrecken, ließ es dann aber doch sein, weil sie so mit dem Essen beschäftigt war.

 

 

 

Etwas verwirrt schluckte sie ihr Essen hinunter und sah sich ihn etwas genauer an. Erstaunt von seinem Aussehen, blieben ihr die Worte im Hals stecken.

 

 

 

Matt hatte blondes Haar, welches fast schon golden wirkte, große grüne Augen, die hinter runden Brillengläsern, die Kiana erkannte, da sie im vorherigen Jahr total beliebt waren, versteckt waren, und sein Gesicht wurde mit Grübchen verziert.

 

 

 

,,Ich heiße Kiana. Ich bin Krankenschwester in der Gynäkologie.”, antwortete sie ihm mit etwas Unsicherheit in ihrer Stimme. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie wirklich aus dem Nichts von jemandem angesprochen wurde. Auf der einen Seite war sie glücklich, aber auf der anderen Seite war sie verwirrt, neugierig und leicht verängstigt.

 

 

 

Er hätte keine Antwort von ihr erwartet.  Als Matt in die Cafeteria kam, hatte er eigentlich vor, sich wie immer alleine an den Tisch in der Ecke zu setzen, doch dabei erblickte er eine Frau. Sie hatte dunkles Haar, er war sich von der Entfernung nicht sicher, ob es braun oder schwarz war, welches in einen hohen Zopf gebunden war und zu glänzen schien.

 

Als er sich zu ihr setzte und sie aufsah konnte er erkennen, dass sie braune, beinahe schwarze, Augen hatte, die ihn überrascht ansahen.

 

 

 

Als sie ihm antwortete, weitete sich sein Lächeln und er begann ein Gespräch aufzubauen.

 

 

 

,,Ach, so ist das also. Ich bin Arzt in der Notaufnahme. Kein Wunder, dass wir uns während der Arbeit noch nicht gesehen haben. Die meisten unserer Patienten werden nämlich an die Chirurgie weitergeleitet.”

 

 

 

,,Oh, daran erinnere ich mich. Ich war mal Krankenschwester in der Notaufnahme, aber aufgrund gewisser Umstände bin ich dann gewechselt.”

 

 

 

,,Es wäre bestimmt sehr interessant gewesen mit dir zusammenzuarbeiten. Schade, dass ich erst seit 6 Monaten in diesem Krankenhaus bin.”, sagte Matt, wobei er den zweiten Satz nur noch flüsterte.

 

 

 

Nicht sicher, wie sie reagieren sollte, guckte Kiana unwohl auf ihre Uhr, bemerkte wie spät es war und verabschiedete sich mit den Worten: ,,Meine Pause ist beinahe vorüber. Ich mach mich wohl mal besser auf den Weg. Ich will die Patientin nicht warten lassen.”

 

 

 

Matt sah ihr hinterher. Warum konnte er sich selbst nicht erklären.

 

 

 

Kianas restlicher Tag lief wie immer ab.

 

Nach der Schicht fuhr sie einkaufen, nahm sich alles Notwendige, wobei sie natürlich darauf achtete, dass nichts in den Einkaufswagen kam, was Dirk nicht mochte, und machte sich auf den Weg zur Kasse. Als sie an der Kasse ankam, entschied sie sich jedoch dazu, einen Lippenbalsam zu kaufen, um sich einfach mal was Gutes zu tun.

 

 

 

Als sie in ihrer Wohnung ankam, packte sie alle Sachen aus, fing an zu kochen, damit das Essen rechtzeitig fertig wurde, duschte sich, trug ihren Lippenbalsam auf und legte sich anschließend in ihr Bett, wobei sie an ihren Tag dachte.

 

 

 

Ihr Tagesablauf war im Prinzip wie immer, doch trotzdem konnte sie nicht aufhören, an diesen unbedeutsamen Tag zu denken.

 


 

Kapitel 2

 

 

 

Kiana saß auf dem Sofa, während Dirk aufgebracht hin- und herlief.

 

 

 

,,Du willst mir also sagen, dass du schon die ganze Zeit über Männer auf diese Art und Weise angefasst hast?”

 

 

 

,,Was meinst du mit “auf diese Art und Weise”? Ich bin Krankenschwester. Ich helfe den Menschen, wenn sie Beschwerden haben.”, antwortete sie ihm, vollkommen von seinem Wutausbruch verwirrt.

 

 

 

,,Du hörst auf in der Notaufnahme zu arbeiten. Hast du mich verstanden?”, schrie Dirk, während er sie aggressiv an ihrem Arm vom Sofa zog.

 

 

 

Kiana schrak hoch und atmete tief durch und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass es nur ein Albtraum war.

 

 

 

Sie war sich sicher, dass es an dem Gespräch mit Matt liegen musste. Durch ihre kurze Unterhaltung sind alte Gefühle und Erinnerungen von damals wieder in ihr hochgekommen.

 

Kiana konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als wäre es gestern gewesen. Es war nur wenige Wochen nach ihrer Hochzeit.

 

Dirk hatte sie als Hure beschimpft, doch davon ließ sie sich nicht beeinflussen und arbeitete weiter.

 

 

 

Sie ließ sich davon nicht beeinflussen, doch er fand andere Wege und Mittel, sodass sie dann doch letztendlich in die Gynäkologie wechselte.

 

 

 

Da sie nicht weiter an diesen Vorfall denken wollte, schob sie ihn in die hinterste und dunkelste Ecke ihres Gehirns, stand auf, um das Frühstück vorzubereiten und verbrachte ihren freien Tag wie immer.

 

 

 

Die nächsten Wochen verschwendete Kiana keine Gedanken mehr an ihre Zeit in der Notaufnahme. Allerdings kam sie auf eine andere Weise mit ihr in Kontakt. Matt hat nach ihrem ersten Gespräch weiterhin den Kontakt mit ihr gesucht. Inzwischen aßen sie jede Pause, sollte die Arbeit es zulassen, gemeinsam.

 

 

 

Ihre Gedanken und Gefühle ihm gegenüber hatten sich in dieser Zeit auch verändert. Inzwischen war sie einfach nur glücklich, dass sie ihn sehen konnte und fühlte sich in seiner Nähe auch nicht mehr unwohl.

 

 

 

Wenn sie an all die Gespräche dachte, gab es dieses eine, welches sie nie vergessen würde.

 

 

 

,,Ich war nie wirklich ein Fan von Liebesfilmen. Anscheinend kennst du dich aber mit ihnen aus. Wenn du mir einen empfehlen würdest, würde ich ihn mir ansehen.”, sagte Matt mit einem neugierigem Blick.

 

 

 

Kiana überlegte kurz und sprach:

 

 

 

,,Am liebsten mag ich den Film Romeo und Julia.”, antwortete sie ihm.

 

 

 

,,Trotz des Endes? Ich habe den Film zwar nie gesehen, aber es ist ja allgemein bekannt, wie die Geschichte ausgeht.” Matt sah die dunkelhaarige Frau überrascht an.

 

 

 

,,Zum einen hat der Film kein Happy End, wie der Großteil der Liebesfilme und zum anderen kann man sehen, dass die beiden füreinander sterben würden. Liebe allein reicht eben nicht für eine funktionierende Beziehung und genauso funktioniert eine Beziehung nicht ohne Liebe. Ich persönlich würde auch für die Liebe meines Lebens sterben.”

 

 

 

Er öffnete erstaunt seinen Mund, wobei es so wirkte, als ob er ihr antworten wollte, doch letztendlich schloss er ihn wieder und behielt seine Gedanken für sich.

 

 

 

Ein Lächeln zierte ihren Mund, bei der Erinnerung.

 

 

 

Mit einem Seufzen stand sie von der Parkbank, auf der sie die letzte Stunde verbracht hatte, auf, nahm sich ihren Lippenbalsam und trug ihn auf, wobei sie bemerkte, dass sie bereits ½ verwendet hatte und ging nach Hause, zu ihrem Ehemann, während sie daran dachte, dass sie in drei Wochen ihre Eltern wiedersehen würde.

 


 

Kapitel 3

 

 

 

,,Das Kleid gefällt mir nicht wirklich. Zieh dir ein anderes an.”, forderte Dirk Kiana auf.

 

 

 

,,Was stimmt mit dem denn nicht?”

 

 

 

Verwirrt sah sie an sich herunter.

 

 

 

,,Du bist meine Frau und dementsprechend solltest du dich auch kleiden. Du bist da, um mich gut aussehen zu lassen. Zieh dir ein Kleid an, das mehr Haut zeigt.”

 

 

 

Sie wollte was sagen, doch ließ es dann doch sein, davon ausgehend, dass es sinnlos wäre und ein kleiner Teil in ihr wollte ihm wahrscheinlich auch glauben.

 

 

 

Sie zog sich um, trug ihren Lippenbalsam auf, ging aus dem Haus und setzte sich ins Auto auf den Beifahrersitz.

 

 

 

Sie waren auf den Weg zu ihren Eltern, da diese ihre Silberhochzeit feierten. Kiana hatte sich vorgenommen, mit ihrer Mutter das Gespräch zu suchen, um ihre Gedanken mit jemandem zu teilen.

 

 

 

Als sie ankamen, legte Dirk seinen Arm um ihre Taille und führte sie ins Haus, zu ihren Eltern.

 

 

 

,,Dirk. Wie schön dich zu sehen.”, begrüßte Kianas Mutter, Lea, ihn mit einer Umarmung.

 

 

 

,,Schön hier zu sein Lea. Ich war schon die ganze Woche über aufgeregt, euch wiederzusehen. Wie geht’s dir Chris?”

 

 

 

,,Alles wie immer. Schön, dass du da bist.”, erwiderte Kianas Vater, Chris.

 

 

 

Nachdem weitere Umarmungen und Küsschen zwischen Kiana und ihren Eltern ausgetauscht wurden, wanderten Dirk und sie weiter herum und sprachen mit den verschiedensten Leuten als Ehepaar. Eigentlich sprach nur Dirk und Kiana lächelte, nickte oder sagte einzelne Wörter, um ihm zuzustimmen.

 

 

 

Rund vier Stunden später, als das Essen bereits stattfand und einige Gäste schon gegangen waren, ging Kiana in die Küche und sprach ihre Mutter mit den Worten ,,Hey Mama. Könnte ich kurz mit dir reden?” an.

 

 

 

,,Sicher, mein Schatz. Ich kann später aufräumen. Setz dich.”, antwortete sie ihr besorgt.

 

 

 

Sie war verwirrt darüber, dass ihre Tochter sie in diesem Moment ansprach, obwohl sie sie die gesamte Feier über hätte ansprechen können.

 

 

 

,,Es geht um Dirk. Ich denke...wir sollten uns scheiden lassen. Ich weiß, dass er nicht der Richtige ist. In seiner Nähe fühlt sich alles erzwungen an.”

 

 

 

,,Was meinst du? Es gibt nicht einen Richtigen im Leben. Was gibt es an ihm auszusetzen?”, fragte Lea verwirrt.

 

 

 

,,Abgesehen davon, dass er 39 Jahre alt ist?”, erwiderte sie mit angehobener Augenbraue.

 

 

 

Sein Alter war eine Sache, die sie von Anfang an gestört hatte.

 

 

 

,,Er ist ein toller Mann. Er verdient gutes Geld  Er ist gutaussehend.”

 

 

 

,,Zum einen...”

 

 

 

Kiana nahm einen tiefen Atemzug, versuchte ihre Hände vom Zittern zu stoppen und sprach anschließend weiter.

 

 

 

,,Zum einen fasst er mich auf eine Weise an, die mir unangenehm, obwohl-”

 

 

 

,,Stop, stop, stop. Sag das nicht. Es hört sich so an, als würde er dich sexuell missbrauchen. Ein Mann kann seine Frau nicht vergewaltigen. Sobald Mann und Frau den Bund der Ehe eingehen, hat die Frau unter anderem die Pflicht ihren Mann zu befriedigen. Du solltest glücklich sein mit ihm. Er lässt dir Freiheiten.”

 

 

 

Kiana starrte sie einige Sekunden geschockt an. Etwas in ihr brach, durch die Worte von ihrer Mutter, und sie ließ ihren Emotionen freien Lauf.

 

 

 

,,Hörst du dir eigentlich selbst zu? Nur weil er mein Mann ist, dabei dürfen wir nicht vergessen, dass ihr ihn für mich ausgesucht habt und mich regelrecht in diese Ehe gedrängt habt, heißt es noch lange nicht, dass er mir Dinge antun darf, obwohl ich weine und wiederholt nein sage. Wir leben im Jahr 2021 und nicht im Jahr 1950. Und von was für Freiheiten redest du? Er hat Regeln aufgestellt  und sobald ich diese nicht einhalte, tut er mir wieder weh.”, sagte Kiana, wobei sie versuchte, ihre Stimme nicht zu heben.

 

 

 

,,Regeln sind da, damit es Ordnung im Leben gibt. Seit eurer Hochzeit bist du schon viel ruhiger und nicht mehr so risikobereit. Das ist doch schön.”

 

 

 

,,Mama, ich habe mich in einen anderen Mann verliebt. Selbst wenn es nicht so wäre, würde ich dieses Gespräch mit dir führen.”

 

 

 

Kiana sah ihre Mutter an und hoffte auf Unterstützung und aufmunternde Worte, doch stattdessen sah sie weg und fing wieder damit an, aufzuräumen.

 

 

 

Kiana seufzte nur und stürmte aus der Küche und anschließend aus dem Haus, wobei sie Dirk total vergaß. Lea sah ihr hinterher und dachte nur daran, dass sie wahrscheinlich Dirk informieren sollte.

 

 

 

Als alle Gäste sich verabschiedeten, hielt Lea Dirk auf, um mit ihm über ihr privates Gespräch mit ihrer Tochter zu reden, unwissend, wie das ihr Kind beeinflussen würde.

 

 

 

Zur selben Zeit saß Kiana mal wieder in einem Park, während sie sich ihren Lippenbalsam ansah und bemerkte, wie kurz dieser bereits geworden war. Sie fing an, an ihre Kindheit und Liebe zum Wasser zu denken und versprach sich, sobald dieser Lippenbalsam aufgebracht war, würde sie etwas unternehmen.

 


 

Kapitel 4

 

 

 

Dirk war außer sich vor Wut. Er konnte noch immer nicht fassen, was er vor zwei Wochen von Lea erfahren hatte. Er wusste, er musste handeln. Er musste ihr zeigen, dass er der Mann im Haus war.

 

 

 

Zur selben Zeit saß Kiana, mal wieder, mit Matt in der Cafeteria des Krankenhauses und hörte ihm zu, wie er von einem peinlichen Erlebnis aus seiner Kindheit erzählte. Während sie ihn ansah, bemerkte sie die Wärme, die sich in ihrer Magengegend bildete. Ihre Gedanken schweiften ab und sie dachte an ihren Lippenbalsam, der schon beinahe komplett aufgebracht war.

 

 

 

Sie erinnerte sich an ihr Versprechen, etwas zu unternehmen, sobald dieser komplett aufgebracht war. Er war zwar nicht komplett leer, aber kurz davor. Also warum noch warten?

 

 

 

Matt bemerkte Kianas verträumtes Lächeln und fragte sie, ob alles okay sei.

 

 

 

,,Ja. Ich habe nur an etwas gedacht. Tut mir leid. Erzähl ruhig weiter.”, antwortete sie ihm.

 

 

 

Den Rest der Mittagspause sprachen sie weiter. Als Kiana ihren Tag, wie gewöhnlich, beendete und nach Hause fuhr, bemerkte sie, dass Dirk auf dem Sofa saß.

 

 

 

Verwirrt trat sie ins Wohnzimmer und fragte ihn: ,,Was machst du denn hier? Arbeitest du nicht normalerweise länger?”

 

 

 

Anstatt ihr zu antworten, starrte er sie an.

 

 

 

Unsicher wendete sie ihren Blick ab und fing an, mit ihren Fingern zu spielen.

 

 

 

Nach etwa zwei Minuten seufzte Dirk und forderte sie mit den Worten ,,setz dich!” auf, sich auf das Sofa zu setzen. Kiana bemerkte, wie ihr Herzschlag sich verschnellerte, davon ausgehend, dass etwas in Kürze passieren würde. Sein Ton bestärkte sie nur noch mehr in ihren Sorgen.

 

 

 

,,Ich hatte ein Gespräch mit deiner Mutter-”

 

 

 

So weit, so gut. Gespräche zwischen Lea und Dirk waren nicht ungewöhnlich, das wusste Kiana. Immerhin hatten sie eine gute Beziehung.

 

 

 

,,-und sie hat mir etwas...Beunruhigendes erzählt.”, fuhr er fort.

 

 

 

,,Okay?”

 

 

 

In Kianas Stimme war die Unsicherheit deutlich zu hören.

 

 

 

,,Sie sagte mir, dass du an unserer Ehe zweifeln würdest.”

 

 

 

Sie sagte nichts, nicht sicher, wie sie antworten sollte. Doch vor allem konnte sie es nicht glauben, dass ihre eigene Mutter so etwas Privates weitererzählt hatte.

 

,,Warum hast du mit mir nicht darüber geredet? Wir hätten das doch unter uns regeln können.”

 

 

 

Diese Worte weckten Hoffnung in ihr. Vielleicht empfand er genauso und wollte ebenfalls die Scheidung. Doch als sie ihren Kopf hob und ihn in Dirks Richtung drehte, sah sie in sein vor Wut verzerrtes Gesicht und ihr wurde klar, dass er ihr definitiv nicht zustimmte. Erschrocken sprang sie vom Sofa und entfernte sich einige Schritte von ihm.

 

 

 

,,Verkauf mich nicht für dumm, Kiana. Ich weiß ganz genau, in wen du dich “verliebt” hast. Und ich habe auch schon gemerkt, wie du die Koffer aus dem Keller geholt hast.”, schrie Dirk Kiana an.

 

 

 

Aggressiv zog er sie an ihrem Arm zu sich heran. Sie versuchte zwar sich von ihm loszureißen, doch er war zu stark. Mit Wucht zog er sie in ihr Schlafzimmer und warf sie auf das Bett, welches sie sich teilten.

 

 

 

Kiana fing an zu zittern. Es war nicht neues, dass er verdammt grob war, aber dieses Mal war es noch furchterregender als sonst. Die nächsten 30 Minuten vergingen wie in Trance für sie. Sie bekam nur im Hintergrund mit, wie er an ihren Haaren zog und immer wieder die Worte ,,Regel Nummer 3: Kiana ist das Eigentum von Dirk. Du gehörst mir.” wiederholte.

 

 

 

Als er den Raum verließ, wurde alles um sie herum wieder klarer. Der Schmerz zwischen ihren Schenkeln wurde präsent und sie spürte, wie sich Tränen hinter ihren Augenlidern bildete, die gleich darauf auch ihre Wangen hinunter flossen. Den Schmerz ignorierend ging sie ins Badezimmer, ließ die Badewanne mit heißem Wasser volllaufen und setzte sich in dieses.

 

 

 

Das Wasser half ein wenig. Sie konnte sich nicht entspannen, doch sie konnte für kurze Zeit abschalten. Sie blieb im Wasser sitzen, bis es eiskalt war, zog sich anschließend an und legte sich ins Bett, obwohl alles in ihrem Inneren schrie, es sein zu lassen und wegzurennen.

 


 

Kapitel 5

 

 

 

Seit dem “Gespräch” zwischen Dirk und Kiana sind 3 Tage vergangen und Kiana war wieder bei der Arbeit. Sie saß in der Cafeteria und wartete auf Matt. Sie wusste, bei ihm würde es ihr gleich besser gehen.

 

 

 

Doch was als nächstes passieren würde, hätte sie ganz sicher nicht erwartet.

 

 

 

Er kam mit einem Humpeln, und für sie überraschend ohne Essen, an ihren üblichen Tisch an und bevor Kiana etwas sagen konnte, schlug Matt auf den Tisch, wodurch die Aufmerksamkeit ein paar Leute auf ihnen lag, und sagte: ,,Ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben. Du bist es nicht wert.”

 

 

 

Ohne weitere Worte, drehte er sich weg und setzte sich an einen Tisch, zu anderen Ärzten, wobei sie ihm verwirrt und verletzt hinterher sah. Da sie sich unwohl fühlte, joggte sie aus der Cafeteria und verbrachte ihre Pause an einem Ort außerhalb des Krankenhauses.

 

Als sie während der Arbeit durch die Gänge ging, konnte sie anderes medizinisches Personal flüstern hören. Ob es Realität, oder doch nur Einbildung war, konnte sie nicht sagen.

 

Als sie nach Hause ging, ging sie ihre Routine durch, obwohl sie seit dem Vorfall Bauchschmerzen hatte. Da sie am nächsten Morgen immer noch spürbar waren, meldete sie sich krank für die nächsten Tage, doch sie stand trotzdem auf, um Dirk sein Frühstück zu machen und aufzuräumen.

 

 

 

So ging es die nächsten zwei Tage weiter. Am dritten Tag jedoch hatte Kiana nichts zu tun und war komplett ihren Gedanken überlassen. Sie fing an, über ihr Leben nachzudenken. Sie war ein komplett anderer Mensch, bis zu ihrer Hochzeit. Ihre Eltern hatten ihr den, damals, 35-Jährigen vorgestellt, da sie dachten, eine Ehe würde sie beruhigen, sie auf die richtige Spur des Lebens bringen. Sie hatten ihn aber wohl vor allem aufgrund seines Namens gewählt. Kiana hatte abgelehnt, doch ihre Eltern nutzten jedes Mittel, um Schuldgefühle zu erzeugen und machten Andeutungen, dass sie, sollte sie nein sagen, auf sich alleine gestellt sein würde.

 

 

 

Er hatte keinen guten Einfluss auf ihr Leben. Die meisten Kontakte wurden vergessen und sie begann, ihr Leben nach ihm zu richten. Ihre Eltern unterstützten ihn und winkten alle ihre Sorgen ab. Auf der Arbeit lief es auch nicht besser. Ihre Kollegen auf der Station mochten sie nie wirklich und nach dem Vorfall würde es bestimmt nicht besser werden.

 

 

 

Warum leben? Sie hatte eine Familie, bei der sie sich nicht wohl fühlen konnte und alles andere in ihrem Leben war definitiv nicht besser und es würde wahrscheinlich auch nicht besser werden. Sie dachte wieder an ihren Lippenbalsam. Sie hatte sich vorgenommen, etwas zu ändern und doch lag sie nun hier und nichts hatte sich verändert.

 

 

 

Da sie nicht weiter an ihr Leben denken wollte, beschäftigte sie sich mit Filmen. Sie sah sich unter anderem Romeo und Julia an.

 

 

 

Am nächsten Tag ging sie wieder zur Arbeit und es war wie erwartet. Sie fühlte sich wie in irgendeiner Krankenhaus-Drama-Serie. Obwohl sie Matt im Gang traf, würdigte er ihr keines Blickes. Davon ließ sie sich jedoch während ihrer Arbeit nicht beeinflussen. Auf dem Heimweg hatte sie allerdings einen Entschluss getroffen. Sie hatte lange nachgedacht und konnte von Herzen sagen, dass sie wusste, dass ihr ihre Entscheidung Glücklichkeit bringen würde.

 

 

 

Zuhause angekommen legte Kiana ihre Sachen ab, nahm sich nur ihren Lippenbalsam und machte sich mit einem Lächeln auf den Weg zu ihrem Zielort.

 


 

Epilog

 

 

 

Sie stand an einer Brücke und sah auf das Wasser hinunter, wobei sie allein der Blick auf das Wasser beruhigte. Sie atmete tief ein und aus.

 

 

 

In ihrer rechten Hand hielt sie ihren, inzwischen aufgebrauchten, Lippenbalsam, in einem festen Griff. Sein Leben kontrolliert und unzufrieden leben oder selbst entscheiden, wie man sein Leben verliert?

 

 

 

Diese Frage war für Kiana leicht zu beantworten. Sie streckte ihren Arm aus und ließ den Lippenbalsam ins Wasser fallen, worin dieser für wenige versank und anschließend wieder auftauchte und auf der Oberfläche trieb. Tränen liefen ihre Wangen runter, doch trotz dessen lächelte sie, aus dem einfachen Grund, dass sie glücklich war. Sie wusste, es war die richtige Entscheidung.

 

 

 

Sie trat ans Geländer und ließ sich fallen. Der Fall vorm Eintauchen dauerte nur wenige Sekunden, doch in dieser Zeit dachte sie an verschiedene verletzende Worte, die an sie gerichtet wurden.

 

 

 

 ,,Ein Mann kann seine Frau nicht vergewaltigen.”

 

 

 

,,Du gehörst mir.”

 

 

 

,,Du bist es nicht wert.”

 

 

 

Mit ihrem Eintauchen waren all diese verletzenden Worte vergessen.

 

Nach kurzer Zeit im Wasser spürte Kiana, wie sich ihre Lungen füllten und sie anfingen zu schmerzen. Doch obwohl sie Schmerzen verspürte, war sie beruhigt. Ihr Bewusstsein schwand und sie schloss ihre Augen. Das war das Gefühl, wonach sie sich seit Jahren sehnte. Das Gefühl, welches sie vermisste.

 

 

 

Das Gefühl frei zu sein.

 

 

 

Das Gefühl, die tiefen Gewässer erkunden zu können, sei es auf die eine oder andere Weise.