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EIN FREIER FALL

EIN FREIER FALL

von 
Luis Schmelzer

 

Sein Puls erhöhte sich, der Schmerz war unerträglich, seine Gedanken ratterten mit dem einzigen Ziel seinem Körper zu signalisieren: „Verdammt, du musst irgendwie überleben, also fang gefälligst endlich an, dich zu bewegen und tu irgendetwas!“ Die Temperaturen um ihn herum waren bereits meilenweit unter den Gefrierpunkt gesunken. Dabei schien der Gott, an den seinen Glauben zu verschwenden er sich weiterhin weigert, nicht einmal den Versuch zu unternehmen diesen freien Fall etwas abzustoppen und es gut mit ihm zu meinen, sondern mit der alleinigen Absicht den einsamen Kletterer in seinem Elend jämmerlich erfrieren zu lassen, zu beobachten. Für einen Rückzieher war es schon längst zu spät, aus dieser Nummer kam er nicht mehr heraus. Zum ersten Mal in seinem Leben war er fast dazu geneigt sich an das imaginäre Etwas im Himmel, das sogenannte Christen als „Gott“ verehren, zu wenden und um Vergebung oder Gnade, wie auch immer, zu bitten. Er musste noch weiter nach oben, doch seine Arme würden ihm bald nicht mehr gehorchen, seine Beine begannen schon zu zucken, sein Herz hämmerte schneller, als würde die Kälte durch sein Sicherungsgeschirr und die dicke Kleidung dringen. Es fühlte sich an, als ob die Kälte seinen Oberkörper zuschnürt. Doch das hätte er beinahe schon nicht mehr mitbekommen, so taub war sein Oberkörper und so tief begann er in seinen Erinnerungen zu schwelgen. 

Das tobende Schneegestöber holte ihn mit einem kräftigen Hauch  in sein Gesicht in die Wirklichkeit zurück, was er beinahe mit einem lauten Aufschrei quittiert hätte, wenn der Sauerstoffmangel nicht seine Zunge erschlaffen ließe und den Kiefermuskel versteifen würde. Er blinzelte die kleinen auftretenden schwarzen Schleier vor seinem Auge weg und mobilisierte sein Gedankengut und versuchte vergebens seine immer zittriger werdenden Beine zu kontrollieren, um einen gefährlichen Rutsch in das unter ihm sich vergrößernde schwarze Meer zu verhindern, wo ihn schon die lächelnde, gierige Fratze des Teufels zu erwarten schien. Er konnte seine Gedanken nicht mehr klar ordnen, alles schien surreal, der von ihm ganze bezeichnete Nonsens ballte sich zu einer maskenhaften Gestalt zusammen, die ihn erschaudern ließ. Er kam nun stückweise mit seiner geschwächten Gestalt voran, wo, hätte er beinahe vergessen, wenn er sich nicht die Warnung eingebläut hätte. Gut, eigentlich waren es nur einige undetaillierte Beschreibungen oder Gerüchte, er wusste es nicht genau, aber wer auf die Schnapsidee kommen sollte im Winter den kältesten Berg der Welt „Denali“ zu besteigen, sollte vorher von seiner Kleidung bis zu den persönlichen Daten, sowie die Ausrüstung penibel genau angeben, da es die Identifikation von den Toten erleichtern und den Rangern hier im Nationalpark in Alaska unnötige Überstunden ersparen soll. Doch darum hat er sich doch dorthin begeben. Er hätte sich gerade deshalb niemals darauf einlassen dürfen. Doch wie immer versagte der gesunde Menschenverstand gegenüber seiner mangelnden Kompetenzen. 

Er ist allein, geschwächt, beinahe blind in seiner Umgebung und binnen Kurzem am Ende mit dem Sauerstoffvorrat in dem himmelblauen Rucksack auf seinem Rücken, falls er überhaupt so lange überleben kann, wenn er nun keinen Platz findet, wo er wenigstens die bleischweren Sauerstoffflaschen auswechseln kann. Die Gewichte schienen ihn nach unten ziehen zu wollen. 

„Er“ ist Mike Bellson und kommt aus einem kleinen Kaff aus Arkansas nahe dem Mississippi. Vor seinen Augen flatterte seine Kindheit vorbei. Heute ist er mittelgroß, schlank und besitzt eine kräftige Statur. Früher wäre er in seinem Zustand schon längst in der tiefsten Finsternis. Seine Eltern würden ihn sogar etwas Schlimmeres als die Hölle wünschen. In Mikes blauen Augen begann es zu schimmern, was er nun in seinem blutleeren Gesicht gar nicht mehr wahrnahm. Er wuchs ohne Geschwister auf und das Verhältnis zu seinen strenggläubigen Christen-Eltern hätte nicht giftiger sein können. Nichts hatten sie gemein, nicht einmal den Glauben. Mike hatte sich stets gegen die strenge Erziehung gestemmt, die harten Strafen hingenommen und sich weiter von seinen Eltern befreit. Er sehnte sich nach Freiheit, an einen Ort der Ruhe, wo ihm niemanden etwas vorschrieb, wo er ganz er selbst sein konnte, wo ihn niemand niedermachen konnte. Mike ließ sich körperlich immer weiter gehen, die gesundheitlichen Beschwerden waren dabei die einfacheren Folgen für ihn, als auf der Middle School ausgelacht, verprügelt zu werden, seine Sachen demoliert auf dem Klo wiederzufinden und keine Freunde zu haben. Als er sein angepinkeltes Notebook mal wieder in seinem aufgebrochenen Spind vorfand, starteten bald darauf Racheaktionen, die einige Verletzungen und einen Schulverweis nach sich zogen. Viel Wert auf Bildung hatte er sowieso nie gelegt. Als ob er auch in einer Schule wie seiner etwas hätte erreichen können, die Direktorin wusste nicht einmal selbst was für unzulässige Tutoren an der Schule eigentlich unterrichteten. Seine Eltern bekamen es schon nicht mehr mit, jeden Tag wollten sie lieber von Gott hören, warum er ihnen ein solches Kind habe schicken müssen und wofür sie gesündigt hätten. Sie haben kein Interesse an dem gezeigt, was Mike alles widerfährt, dass er sich auch ein Leben ohne seelische und körperliche Unterdrückung wünschte. 

Er floh mit sechzehn Jahren aus Arkansas für genau diesen Neuanfang, was wahrscheinlich keiner beachtet hat noch, dass es jemandem aufgefallen wäre. Es führte ihn durch verschiedene Bundestaaten schließlich nach Detroit, Michigan, in die nächste Knechtschaft. Auf seinem Weg dorthin hatte er gar nichts, kein Geld, keine Arbeit, kein Auto und keine Versorgung. Sein Hunger war das einzige, das wirklich zunahm und der begann ihn langsam in den Wahnsinn zu treiben. Er hatte immer eine Lösung finden können und auch hier hielt ihn nichts davon ab diese Probleme zu überwinden. Doch dafür hat er sich mehr Freiheiten genommen als ihm eigentlich zustehen, überhaupt niemandem stehen eigentlich solche Freiheiten zu. Bis jetzt ist er wegen Zechprellerei, Laden- und Taschendiebstählen aufgefallen, er hat ein paar Wagen aufgebrochen, damit einige Touren gemacht und alles, was ihm in die Hände fiel an jedermann billig verscherbelt, keine großen Delikte. In seiner Situation hatte er nichts verbrochen, was viele in seiner Situation nicht auch schon gemacht haben. Wie ein Aal wand er sich durch jedes Problem und aus jeder Falle heraus, nur war er dann doch nicht so durchtrieben wie er immer von sich erhofft hatte. Zu diesem Zeitpunkt fühlte er sich mächtig, groß und unaufhaltbar, wie etwas Übernatürliches, wo es niemand wagen würde seine Autorität zu verleumden. Aber selbst in diesen Visionen ist er nur ein erbärmlicher Emporkömmling. Er würde alles in unter zwei Tagen schon wieder verloren haben. Als ein Landei mit seinem Status von Intellektualität ist es eigentlich schon eine Kunst, dass er seine Luft nicht hinter Gitterstäben mit anderen Gescheiterten teilen muss. Sein Gesicht ist bei vielen Police Departments bekannt, aber nicht gerade mit der großen Relevanz registriert, als dass jemand versucht wäre, seine Kaffeepause zu unterbrechen. 

Nach mehreren Monaten hatte er zwei Fehler begangen dumme Fehler, es hätte selbst ihm niemals passieren dürfen. Bei seiner Ankunft in Detroit hatte er seine Kontrolle verloren. Er hat sich mit der Zeit zu einem aufbrausenden Menschen entwickelt, der bei jeder Kleinigkeit seine Wut mit Gewalt an jedem auslassen muss, der die Ursache seiner Kontrolllosigkeit darstellte. Dabei blieben nicht einmal diejenigen verschont, die sich seiner vermeintlich gerechten Sache in den Weg stellen zu müssen glauben. Jedes Mal musste er Spott, Hohn und Schmerz über sich ergehen lassen, immer mehr Energie entstand in dem tiefsten seiner Seele und bahnte sich seinen Weg aus seinem Körper, bis er sie irgendwann entlud und nun… befindet er sich in Detroit, in einem Gefängnis. In Detroit, dem gefährlichsten Staat der USA mit inkompetenten, unterbesetzten und geschwächten Hütern stünde dem Abschluss seiner Odyssee nichts mehr im Wege. Aber den waghalsigen Versuch zu unternehmen einigen dieser Hütern in einem nicht gerade sehr nüchternen Zustand ihr Gefährt zu stehlen und dabei alle mit ungezielten Schlägen auf den Asphalt zu befördern, brachte ihm aufgrund seiner anderen Straftaten sieben Jahre ein. 

Nun ist er gefangen in der Gesellschaft und dann war sie wieder da, die alte Vergangenheit. In den nächsten drei Jahren verbrachte er mehr Zeit auf der Krankenstation aufgrund schwerer Knochenbrüche und mit üblen Hämatomen als in seiner Zelle. Namen zu nennen, wagte er nicht einmal in den finstersten Träumen, denn die Gefahr war zu groß, dass er in seiner Zelle in einer Lache seines Blutes aufwachte oder nicht, die von einer Zahnbürste mit geschärftem Griff stammte. Seinen jetzigen Zustand verdankte er nicht mal einem auffälligen, dummen oder gar unvorsichtigem Verhalten, er war einfach das wertlose Spielzeug von jedermann, mit dem man sich seine Zeit versüßen konnte. Niemand schien es groß zu interessieren, was mit Mike gemacht wurde, aber als ob es in seinem Leben jemals anders gewesen wäre. Hier zählte das eigene Überleben, man brauchte eine Gang, um wenigstens für einen Teil der Häftlinge unantastbar zu werden. Hier im Gefängnis haben sich genau sechs Gangs zusammengefunden und von jeder war er sozusagen ein Teil. Jede hatte mit ihm als Dummy seinen Spaß, er war das Einzige, was von jeder Gang ohne weitere Kämpfe geteilt wurde, weil keiner ihn wollte. Sie prügelten auf ihn ein, solange seine Beine ihn hielten, auf dem Boden folgten die Tritte, bis er halbtot war. Man verlegte ihn daraufhin ihn ein Gefängnis mit niedrigeren Sicherheitsstufen, an einen Ort der Trostlosigkeit und Schwäche. Er wurde zwei Jahre früher entlassen, wahrscheinlich um seine erbärmliche Gestalt loszuwerden, da er es sowieso in dieser Welt zu nichts bringen würde. Doch Mike wollte es jedem zeigen, dass er mehr als das war, was er glaubte, dass die anderen über ihn dachten. Der Grund, warum er sein ganzes Leben nie dem Leid entkommen konnte. Nicht mal er selbst glaubte an seine Fähigkeiten, er wusste nicht einmal ob und welche er überhaupt hat. Er suchte nach einer Herausforderung, einer, bei der selbst viele von den Härtesten einen Rückzieher machen würden; eine, um sich seiner selbst würdig zu werden. Eine, bei der die Gefahr großgeschrieben wird. Er fragte sich die längste Zeit, warum er noch existiert. Was würde ihn schon vom Schluss abhalten. Bei einem nachdenklichen Spaziergang erweckte eine auf einer Parkbank liegende, zerfledderte, komplett durchweichte Zeitung mit Schlagzeile „Zwölf Todesopfer beim Bergsteigen auf dem Berg ´Denali´ geborgen. Zehn weitere vermisst.“ seine volle Aufmerksamkeit. Beim Lesen war er wie vom Donner gerührt. Nun hatte Mike nicht nur einen neuen Lebenstrieb gefunden, sondern auch noch die nötigen Informationen für einen kurzgefassten Plan. Eine Stimme begann ihn anzutreiben. Er würde den Berg furchtlos erklimmen, die Gefahren überleben und so endlich den ihm zustehenden Zuspruch von jedem, aber auch jedem auf diesem gottverdammten Planeten erhalten. Die Ausrüstung ließ Mike aus diversen Läden mitgehen. Und er begab sich mittels einem unter den Nagel gerissenen Wagen nach Alaska, zum „Denali“. Er erkannte zum Schluss wie er sich seinen Weg bahnte, zu einem besseren Ort, wo er ganz neu anfangen kann. 

Und nun war er hier, gefangen in seiner Orientierungslosigkeit am Berg und nur noch von Schicksal und Glück am Leben gehalten. Was für eine Qual. Seine Hoffnungen waren noch tiefer gesunken als die Temperaturen es jemals könnten und trotzdem gelang es ihm, sich irgendwie fortzubewegen. Verbissen tastete er nach einer Stelle, wo er sich hinaufziehen könnte. Endlich, als er gerade einen festen Halt bekam, gaben seine Beine endgültig nach. Der Schmerz schoss in seine Arme und ließ beinahe die gesamte Luft aus seinen Lungen entweichen. Mike hing da, vom Schock erstarrt. Er ignorierte die kommende Schwärze und zog sich mit seiner letzten Kraft und einem enormen Willen nach oben auf einen kleinen Felssprung in der ansonsten beinahe glatten Bergwand, was jedoch in seiner Verfassung ungewöhnlich leicht erfolgte. Er lehnte sich mit tiefen Atemzügen an die Felswand hinter ihm und überlegte, was er eigentlich noch hier, in so einer Welt mache. Er rang sich durch, seine Sauerstoffflasche endlich auszuwechseln, um wieder klarer denken zu können. Und nun wurde Mike klar, als er in seinen Rucksack blickte, warum er sich so schnell hat hochziehen können. Bei seinem Sturz sind fast alle vier Sauerstoffflaschen in die Tiefe gefallen. Die letzte, die ihm geblieben ist, würde sein Überleben nicht einmal für den Abstieg sichern. Mit einem Lächeln im Gesicht fing Mike an, den Rucksack mit der einzigen Sauerstoffflache von seinen Schultern abzuschnallen und ließ ihn in den Abgrund fallen. Er schob sich weiter an die Kante. Die Schleier vor seinen Augen verdichteten sich, er wehrte sich schon gar nicht mehr, nicht gegen seine schwindenden Kräfte und gar nicht erst gegen seine hektischen, flachen Atemzüge. Mike hatte nicht das Streben, sich an die sichere Steinwand hinter ihm zu lehnen. Er genoss seinen letzten Blick auf die kaum erkennbare, aber plötzlich schön gewordene, schneebedeckte Bergkette, bevor er seine Augen schloss. Langsam kippte sein erschlaffter Körper über die Kante, er fiel in den Abgrund, wie eine sausende Guillotine. 

Mike würde nichts spüren, nicht den eisigen Wind, der sich wie tausend scharfe Messerklingen durch seine Haut schnitt, keine Angst vor dem Ende, seinem Ende und nicht einmal den Aufprall. Aufwachen wird er nie mehr können, was ihn eigentlich gar nicht mehr richtig stört. Mike hat es geschafft, die in sich zusammenfallende Welt in seiner Vergangenheit ruhen zu lassen, den Gefahren zu entkommen, um nun den Frieden zu finden, den er sich immer gewünscht hat, in einer Oase der Ruhe zu sein, die Gelassenheit in seiner Umgebung zu erleben, aber vor allem seine Freiheit.