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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas
von
Maria Monteiro da Silva

Die Kindheit ist die freieste Zeit im Leben eines Menschen. Ein Kind ist nicht deshalb frei, weil es keine Regeln gibt, an die es sich halten muss, ein Kind ist frei, weil es nicht weiß, was es erwartet. Aus der Perspektive eines Kindes ist alles möglich und seine Träume werden nie als zu groß angesehen. Kinder sind frei, weil sie niemanden hören, der ihnen sagt, dass sie ihre Ziele nicht erreichen können, und sie hören nicht den herablassenden Ton, mit dem die Gesellschaft, in der wir leben, ihnen sagt, dass sie ein bisschen realistischer sein sollen. Ich erinnere mich an die Blumen, die ich für meine Mutter gepflückt habe und an die Zeichnungen, die ich meinem Vater schenkte. Ich erinnere mich an die sonnigen Tage im Sandkasten und an die Sandburgen, die ich gebaut habe. Ich konnte stundenlang Sandburgen bauen und weinte, wenn der Wind die Sandkörner verwehte. Bevor ich nachts einschlief, sah ich zu den hellen Sternen hinauf, die an die Decke meines Schlafzimmers geklebt waren, und stellte mir vor, dass ich eines Tages ein Schloss bauen würde, in dem ich wohnen würde. 

Zu meinem achten Geburtstag schenkten mir meine Eltern ein Schloss aus Glas. Das Schloss liegt heute im Schrank in dem Wohnzimmer der Wohnung, die ich mit meinem Ehemann teile. Bevor wir einzogen haben James und ich lange überlegt, wo es am besten aussehen würde. Wir wussten beide, wie viel mir dieses Glasstück bedeutete, und wollten, dass es an einem Ort platziert würde, an dem es die Blicke derjenigen auf sich zieht, die das Haus betreten. Ich war besonders stolz darauf, wie ich das zerbrechliche Stück so lange bewahren konnte. Das Schloss ist kristallklar und wunderschön. Unter allen Merkmalen gefiel mir besonders seine Durchsichtigkeit, denn man konnte erkennen, was dahinter steht, und das war für mich als Kind spannend. James und ich beschlossen, es in die Mitte eines Schranks in der Nähe der Wohnzimmertür zu stellen; es war nicht der praktischste Platz, aber wir passten es dort hinein und es war in Ordnung so. Ich gehe zum Schrank und entscheide mich für ein Buch, das mich an diesem Nachmittag begleitet. Einen ganzen Tag lang allein zu Hause wird schnell langweilig. Ich finde Trost in meinen Büchern, meinen Taylor-Swift-CDs und dem Glas Wein, das seit kurzem zu meinen einsamen Nachmittagen gehört. James hat in den letzten Wochen viel gearbeitet und die Dinge zwischen uns beiden laufen seit einiger Zeit nicht gut, aber ich bin mir sicher, dass wir das überstehen. 

Wir kennen uns schon lange, schon seit unserer Kindheit. Wir haben uns im Kindergarten kennengelernt, wir waren während der Grundschule in der gleichen Klasse und wurden Freunde, dann fingen wir am Ende der High-School an, uns zu verabreden. James macht mich glücklich und er war immer für mich da. Er war das Zuverlässlichste in meinem Leben, bei ihm fühlte ich mich immer sicher, auch als ich jünger war. Die Dinge sind nicht gerade so gelaufen, wie ich es erwartet hatte, aber ich bin glücklich so. Ich verbringe den Nachmittag damit, in dem Meer von Worten zu ertrinken, die ich in meinen Händen halte und erinnere mich später daran, dass ich Abendessen zu kochen habe; James muss bald nach Hause kommen. 

 

Es ist 21:48 Uhr, als er schließlich zu Hause ist, das Essen, das ich vorbereitet hatte, ist nicht mehr warm. Er kommt leise, fast unbemerkt, als ob ich nicht darauf gewartet hätte, dass er endlich nach Hause kommt. Er kommt zu mir, begrüßt mich und küsst mich auf die Stirn, dann setzt er sich hin. Ich verliere mich im Chaos meiner Gedanken während ich das Essen aufwärme. Die Stille ist nicht normal, aber keiner von uns zeigt, dass er sich daran stört. Sie ist nicht angenehm, sie enthält die Schreie und Beschwerden, die ich nicht herauszulassen wage. Und so stelle ich das Essen auf den Tisch, setze mich und wir essen. Seine Schultern sind angespannt, seine Augen leer und sein Mund geschlossen. Wir gehen ins Bett und er küsst mich noch einmal auf die Stirn. Es vergehen etliche Tage genau wie dieser. Ich weiß nicht, wie lange wir das schon machen und ich weiß nicht, wie wir so geworden sind. Aber ich weiß, dass wir es schaffen werden. Er arbeitet hart; ich werde ihn nicht stören. Wenn er abends nach Hause kommt, beherrscht mein Egoismus meine Gedanken und verlangt eine Erklärung, wenn er morgens geht, wird dieser Egoismus frei wie ein Wasserfall, der herabfließt. Aber ich bleibe stumm. 

Meine Mutter ruft an, um zu wissen, wie es mir geht, und lädt James und mich am Sonntag zum Mittagessen ein. Ich erkläre ihr, dass James sehr beschäftigt ist, aber dass ich mit ihm reden werde. Ich verspreche auch, sie in den nächsten Tagen anzurufen und ihr zu sagen, ob wir kommen oder nicht. In der Zwischenzeit bereite ich mich darauf vor, das bleischwere Schweigen zwischen meinem Mann und mir zu brechen. Als James heimkommt, ist der Himmel nicht mitternachtsblau wie an den vorangegangenen Tagen; aber nicht, weil er früher zu Hause ist, sondern weil die Sommerzeit anbricht. Er kommt herein und bringt ein sehr vertrautes Déjà-vu-Gefühl mit sich. Er kommt, begrüßt mich und küsst mich auf die Stirn, dann setzt er sich hin. Diesmal ist das Essen nicht kalt, als fangen wir an zu essen.

„Meine Mutter hat heute angerufen.” Er blickt von seinem Teller auf und sieht mich an. Er sieht fast überrascht aus, mich reden zu hören; jedes Anzeichen von Überraschung wird jedoch gleich aus seinem Gesicht gewischt. 

„Ja? Wie geht es ihr?”, fragt er und nimmt einen Schluck aus seinem Weinglas.

„Es geht ihr gut. Sie hat uns für diesen Sonntag zum Mittagessen eingeladen”, lasse ich ihn wissen und er seufzt. “Ich habe ihr gesagt, dass du viel zu tun hast, und ich also nicht weiß, ob…”

„Du kannst ihr sagen, dass wir kommen”, entscheidet er.

„Das müssen wir nicht… Ich bin mir sicher, sie wird es verstehen”, versuche ich ihn zu beruhigen.

Er sieht mich noch einmal an, aber diesmal verweilt sein Blick ein paar Sekunden auf meinem Gesicht, als würde er versuchen, mich zu durchschauen. Er schüttelt langsam den Kopf, dann seufzt er: „Wir gehen. Es ist in Ordnung.”

Er steht auf, nimmt das Geschirr und geht in die Küche. Ich folge ihm, aber er sagt mir, ich solle ruhig zu Bett gehen. Vom Fenster unseres Schlafzimmers aus sehe ich ihn auf der Terrasse; ich bemerke einen hellen roten Punkt inmitten der Dunkelheit und erkenne, dass es eine Zigarette ist. Damals in die Universität rauchte James, wenn er sich gestresst fühlte. Immer, wenn ich sah, dass er sich eine Zigarette anzündete, nahm ich sie ihm aus der Hand und lächelte ihn an. Ich tröstete ihn und wir sprachen über das, was ihm auf dem Herzen lag. Er wusste, dass ich es eigentlich hasste und hörte schließlich auf zu rauchen. Als ob er gespürt hätte, dass ich ihn beobachte, schaut er auf und sieht, dass ich ihn direkt anschaue. Er dreht sich um und führt die Zigarette wieder an seinen Mund. Ich sitze auf unserem Bett und starre auf die leere weiße Wand vor mir. Es wird doch alles gut… oder? Ich höre seine Schritte und verschwinde unter der Decke. Er zieht seinen Pyjama an und geht ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Ich versuche mich zu entspannen und schließe meine Augen, als ich das Wasser ins Waschbecken fließen höre. Kurz darauf kommt James zurück und legt sich neben mich, er dreht seinen Kopf und sieht mich an. Seine Hand fährt durch mein Haar und er flüstert ein „Gute Nacht“, dann schaut er an die Decke. Ich wünsche ihm eine gute Nacht, atme ein und hoffe auf bessere Tage.

Am Sonntagmorgen zwingt mich der Sonnenschein meine Augen zu öffnen, ich schaue auf die andere Seite des Bettes, sie ist leer. Als meine Sinne nach all den Stunden des Schlafs langsam zurückkehren, rieche ich Kaffee. Ich wasche mir das Gesicht, putze mir die Zähne und gehe die Treppe hinunter. James hört, wie ich mich ihm nähere, reicht mir eine Tasse Kaffee und wünscht mir einen guten Morgen. Wir setzen uns und ich versuche, an etwas zu denken, worüber wir reden können, aber es fällt mir nichts ein. Er ist schon angezogen, also gehe ich zurück in unser Zimmer, ich ziehe sein Lieblingskleid an und frage mich, wie er reagieren wird. Als wir uns unten treffen, sehe ich den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen, als seine Augen auf dem Kleidungsstück liegen, das ich trage. Auf dem Weg zum Haus meiner Eltern herrscht im Auto eine angenehme Stille, im Radio läuft harmloser Pop. Als wir ankommen, steigen wir aus dem Auto und nach einigem Zögern und mit einer beträchtlichen Menge von Kühnheit ergreife ich seine Hand und klingle. Meine Augen suchen nicht nach seinem Gesicht um seine Reaktion aufzunehmen, denn ich habe Angst vor dem, was ich finden könnte. Meine Mutter öffnet die Tür und ich setze mein bestes Lächeln auf.

„Hallo mein Schatz. Wie geht es dir?”, fragt sie und verliert keine Zeit, mich in eine liebevolle Umarmung zu ziehen. Ich begrüße sie und sage ihr, dass es mir gut geht. „James! Ich habe dich schon so lange nicht mehr gesehen? Wie geht's dir? Ich habe von meiner Tochter gehört, dass du sehr viel zu tun hattest. Sieh nur zu, dass du dich genug ausruhst!”

„Mir geht's gut, Anna. Es gibt nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssen”, beruhigt er sie und lächelt.

Meine Mutter bittet uns herein und ich frage nach meinem Vater. Sie sagt, er sei in der Nachbarschaft spazieren gegangen und schlägt James vor, er solle ihn holen. Er tut, was meine Mutter ihm gesagt hat und lässt uns allein. Ich helfe ihr, das Mittagessen fertig zu machen und wir decken den Tisch. Meine Mutter liest Menschen so leicht wie ihre Lieblingszeitschriften, deshalb merkt sie schnell, dass ich mich schlecht fühle und zögert nicht zu fragen, was los ist. 

“Es ist nichts Ernstes…”, antworte ich vage, entschließe mich dann aber, offen zu sagen, was mich bedrückt. „Habt ihr, du und Papa jemals eine wirklich schwere Zeit durchgemacht?”

Sie sieht mich an, verblüfft über meine plötzliche Frage. „Was ist das denn für eine Frage? Ist zwischen dir und James alles in Ordnung?”

„Es ist nichts Ernstes, wirklich… Wir kommen schon klar, es ist nur… wir reden nicht mehr miteinander, überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte. Ich weiß, dass er viel zu tun hat, und ich will ihn nicht belästigen, aber ich vermisse ihn. Ich sitze zu Hause fest und tue nichts, und ich wäre glücklich damit, wenn James öfter an meiner Seite wäre”, rutschen meine Gefühle heraus, meine Mutter nimmt alles auf, bevor sie antwortet. 

„Oh, du hast mich wirklich erschreckt. Einen Moment lang dachte ich, du würdest sagen, dass du wieder als Architektin arbeiten möchtest”, atmet sie aus und lächelt dann erleichtert. “Das ist normal, Süße, du kannst nicht ewig in Flitterwochen-Stimmung sein. Das ist so gewollt, Ally. Genau wie bei deinem Vater und mir. Ich bin sicher, James ist sehr beschäftigt, sei einfach da, um ihn zu unterstützen. Du bist eine gute Ehefrau, du kümmerst dich um den Haushalt und bist für ihn da. Er ist ein vielbeschäftigter Mann, arbeitet und so ist es nun mal.”

„Aber die Stille… Ich habe nie erlebt, dass du und Dad nicht miteinander redet.”

„Süße, es ist schwer für ein Haus, still zu sein, wenn ein so energiegeladenes Kind wie du darin ist”, antwortet sie.

„Wo ist das energiegeladene Kind geblieben? Mama, das kann nicht normal sein. James und ich waren immer füreinander da, wir hatten immer etwas zu besprechen. Wir wussten genau, was der andere dachte oder fühlte, und jetzt… reden wir kaum noch” versuche ich, meinen Punkt deutlich zu machen.

„Das Kind ist weg! Du bist erwachsen, du und James habt euch verändert, ihr seid schon seit Jahren zusammen, ihr wart Highschool Sweethearts. Du kannst unmöglich erwarten, dass alles so bleibt, wie es war. So ist es nun mal, Ally. Ich weiß nicht, was ich dir noch sagen soll.” Sie atmet aus und ich versuche, mich von dem überzeugen zu lassen, was sie sagt. Es ist einfach so, wie es ist. Es ist alles in Ordnung.

Später in der Nacht liege ich wach; die Worte meiner Mutter hallen in meinem Kopf nach. Ich versuche, mich an irgendeinen Moment der Zärtlichkeit zwischen meinen Eltern zu erinnern. Ich streife durch meine Kindheitserinnerungen und finde keine, ich springe zu meinen Teenagerjahren und bleibe erfolglos. Ich durchforste Geburtstage, Weihnachtsabende und Osternachmittage und stelle fest, dass ich diejenige war, die sie verbunden hielt. Vielleicht werden sich die Dinge ändern, sobald James und ich ein Kind haben. Fürs Erste werde ich mit der Zuneigung zufrieden sein, die er zeigt, wenn er mich auf die Stirn küsst, und werde die angenehme Stille zwischen uns nicht als selbstverständlich ansehen. Ich rede mir wieder und wieder ein, dass sich die Dinge zum Besseren wenden werden, ich lächle und schlafe ein, während ich spüre, wie eine Flamme der Hoffnung auflodert.

Die nächsten Tage vergehen und es gibt nicht viel Fortschritt, aber ich lasse mich nicht entmutigen. Meine Mutter hat häufiger angerufen und ich frage mich, ob sie nur nach mir sehen will oder ob sie einen Sinneswandel hatte darüber, was eine Ehe ausmacht. Ich verwerfe diesen Gedanken schnell wieder. Sie schien sehr überzeugt und ich muss ihr vertrauen. James kommt immer später nach Hause und ich frage mich, ob er arbeitet oder ob er einfach so erschöpft ist, dass er noch mehr Zeit weg von diesem Haus, von mir, von uns verbringen muss. Unser fünfter Hochzeitstag ist bald, im September; ich beschließe, mir einen Notizblock und einen Stift zu schnappen und aufzuschreiben, was wir tun könnten, um ihn zu feiern. Wir könnten einen kleinen Ausflug machen, wir könnten einfach den Tag hier verbringen und irgendwo schick essen gehen. Ich überlege, was ich ihm schenken könnte, ich könnte sein Lieblingsgericht kochen und wir würden einfach zu Hause bleiben, abends würden wir auf der Terrasse sitzen und unter dem Sternenhimmel süße Nichtigkeiten austauschen. Vielleicht fasse ich den Mut, ihm von meiner Einsamkeit zu erzählen und ihn zu fragen, ob wir bereit sind, ein Kind zu bekommen. Vielleicht wird er lächeln und mich umarmen, er wird mir sagen, dass er auch darüber nachgedacht hat und wir werden die unzähligen Stunden des Schweigens wiedergutmachen. Ich füge der Liste „über Kinder reden” hinzu und verbringe den Rest der Zeit mit Tagträumen darüber, wie unsere Kinder aussehen würden und wie sie sein würden. Ich unterstreiche die letzten drei Worte auf dem Block.

Es ist ein schöner Samstagnachmittag und James ist zu Hause. Er war sehr müde und hat beschlossen, sich ein paar Tage frei zu nehmen. Ich sammle schmutzige Wäsche, um sie später zu waschen, halte aber plötzlich inne, als ich nach seinem hellblauen Hemd greife und einen auffälligen roten Fleck am Kragen sehe. Mein Blick hängt nicht lange an dem Fleck, weil ich mich weigere zu glauben, was ich da vor mir habe. Es ist ein Fleck von einem Lippenstift… Was sollte es sonst sein? Meine Hände fangen an zu zittern und ich spüre einen Knoten in meinem Hals, ich lasse die Tränen nicht heraus. Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet habe, gehe ich langsam die Treppe hinunter, mache mich auf den Weg zur Terrasse und finde James, der den Notizblock in der Hand hält, auf den ich meine Ideen für unseren fünften Hochzeitstag geschrieben hatte. 

„James”, rufe ich ihn so ruhig, wie ich kann. Er steht auf und sieht mich an, den Block fest in der Hand.

„Was du hier geschrieben hast… meinst du das ernst?”, fragt er leise. „Wolltest du die ganze Zeit warten, nicht mit mir reden, kein Wort sagen und mich dann einfach fragen, was ich vom Kinderkriegen halte? Du willst so tun, als ob nichts passiert, als ob dieses Schweigen zwischen völlig normal ist. Siehst du nicht, was aus uns geworden ist? Findest du das in Ordnung?” Ich sehe ihn an und erkenne Wut in seinem ruhigen, gelassenen Ton.

Ich schüttle den Kopf, ich fasse es nicht, wie er sich verhält, ich gehe näher an ihn heran und drücke ihm das Hemd an die Brust.

„Ich wollte mit dir reden, ja. Nachdem ich mit meiner Mutter gesprochen hatte und mir klar wurde, dass wir den Rest unseres Lebens so verbringen würden, wollte ich ein Kind. Ich glaube nicht, dass ich das jetzt noch will. Ich will kein Kind mit jemandem, der Geheimnisse vor mir hat. Und das hast du, oder?” Er schaut mich ungläubig an, sagt aber nichts. „Wer ist sie? Die, die den Fleck auf deinem Hemd hinterlassen hat… Arbeitet sie mit dir? Ist sie der Grund, warum du immer später nach Hause kommst?” Die Tränen laufen mir schließlich über das Gesicht, „Natürlich ist sie das. Die Anzeichen waren die ganze Zeit da, die ganze Zeit. Ich war nur zu blind, um sie zu sehen.”

„Hörst du dir gerade selbst zu?“, fragt er giftig. „Hörst du eigentlich, wie absurd das klingt?”

„Absurd!? Hört sich das für dich absurd an?”

„Ja, das klingt völlig absurd. Es ist völlig absurd, dass du monatelang verdammt noch mal nicht mit mir redest und wenn du’s tust, dann um mich zu beschuldigen, dich zu betrügen”, die Tränen fließen über sein Gesicht.

„Was ist das denn?”, frage ich ihn und halte ihm das Hemd direkt vor das Gesicht. „Sag mir, wie absurd ich für dich klinge.” 

„Ich betrüge dich nicht! Ich weiß nicht, was das für ein Fleck ist oder wie er dahin gekommen ist. Wir sind seit so vielen Jahren zusammen. Denkst du wirklich, ich würde dir das antun?”

„Ja, das denke ich. Du kommst immer später nach Hause. Wir haben seit Monaten nicht mehr miteinander geredet, das hast du selbst gesagt. Ich wette, wenn ich dein Telefon überprüfe, finde ich auch etwas”, rufe ich blind vor Wut. Ich renne ins Wohnzimmer und versuche, sein Telefon vom Couchtisch zu holen, aber er folgt mir und hält mich davon ab, indem er mich an der Taille packt. „Warum lässt du es mich nicht überprüfen? Wenn du nicht fremdgehst, warum lässt du es mich dann nicht sehen?”

„Weil du nichts finden wirst und du mir vertrauen musst. Ich bin dein Mann, wir kennen uns, seit wir Kinder waren. Wir waren Freunde, bevor wir etwas anderes wurden, du kennst mich”, sagt er und hält sanft mein Handgelenk.

„Wenn du nichts zu verbergen hast, lässt du mich es sehen.”

„Nein, das werde ich nicht! Hat dir deine Mutter das in den Kopf gesetzt? Dass ich dich betrogen habe?”, fragt er.

„Bring meine Mutter nicht in dieses Gespräch. Das ist eine Sache zwischen dir und mir.”

„Ist das so? Denn wenn ich mich recht erinnere, war sie diejenige, die nie damit einverstanden war, dass wir zusammen sind. Sie wollte dich nicht mal aufs College gehen lassen, um zu studieren! Erinnerst du dich an Brandon und wie sie geschworen hat, ihr wärt das perfekte Paar. Der gute Junge, der ein Geschäftsmann wird, und die perfekte Hausfrau, die sie aus dir machen wollte!”, schreit er.

„Das ist lange her. Du weißt, dass es nicht mehr so ist”, antworte ich und befreie mein Handgelenk aus seiner Hand, ohne dass er es erwartet. Ich schnappe mir sein Telefon und versuche, so schnell wie möglich aus dem Wohnzimmer zu kommen, aber James steht vor der Tür und lässt mich nicht durch. „Bitte, tu uns das nicht an. Du musst mir vertrauen.”

„Geh mir aus dem Weg!”, schreie ich und stoße ihn zur Seite; sein Körper prallt gegen den Schrank, auf dem das Glasschloss steht und ich höre nur Scherben klirren. Ich drehe mich um, um zu sehen, was passiert ist und sehe, wie James mich anschaut. Er öffnet seinen Mund, aber es kommt nichts heraus.

Er sieht mich an und sagt schließlich: „Ally, das wollte ich nicht… es tut mir leid.” Ich gehe auf die Knie und will nach einer Glasscherbe greifen, aber James lässt mich nicht. Ich sehe zu ihm auf, aber er hebt mich nur hoch und hilft mir, mich auf das Sofa zu setzen.

„Das Schloss… James… Es tut mir leid, dass ich dich geschubst habe, das wollte ich nicht…”, ich sehe ihn an, immer noch unter Schock. Er umarmt mich und ich weine in seinen Armen während er versucht, mich zu beruhigen. “Was mache ich nur? Warum verhalte ich mich so? Es… es tut mir leid.”

„Sieh mich an”, bittet er sanft und ich schaue auf. „Es wird alles gut werden. Aber… wir können nicht so weitermachen. So sind wir nicht, Ally, das weißt du.”

„Ich weiß…”, stimme ich ihm zu.

„Wir sind unglücklich und ich weiß nicht, wann oder wie wir so geworden sind, aber so kann es nicht weitergehen. Es wird so weit kommen, dass wir uns hassen. Du bist so still geworden. Ich gebe dir nicht die Schuld, denn ich habe auch nicht gerade viel geredet, aber… wir hatten irgendwann genug voneinander und keiner von uns war bereit, das anzusprechen. Wir ließen das Schweigen gewinnen, wir hörten auf zu reden, nicht weil wir nichts zu reden hatten, sondern weil wir befürchteten, uns gegenseitig zu verletzen, wenn wir über unsere Probleme reden. Das Problem zu ignorieren, hat uns am Ende noch mehr verletzt. Und jeden Tag hoffte ich, du würdest etwas sagen. Ich hoffte, du würdest mich fragen, warum ich so spät von der Arbeit zurückkomme, ich hoffte, du würdest mich fragen, woran ich dachte, als du bemerktest, dass ich wieder rauchte. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn du mich dafür beschimpft hättest, denn alles, was ich wollte, war, deine Stimme zu hören. Ich wünschte, du hättest mir gesagt, dass du mich vermisst. Ich habe mich nur immer wieder gefragt, warum du uns aufgegeben hast, aber jetzt weiß ich, dass ich es nicht besser gemacht habe. Und ich habe es ernst gemeint, als ich sagte, dass ich dich nicht betrüge, das würde ich dir nie antun und ich weiß wirklich nicht, wie mein Hemd diesen Flecken bekommen hat”, sagt er hilflos.

„Ich weiß”, sage ich leise, “es tut mir leid. Ich habe mir jeden Tag eingeredet, dass alles in Ordnung sei, obwohl es das nicht war. Ich habe immer auf bessere Tage gehofft, obwohl ich wusste, dass sie nicht kommen würden, wenn ich nichts tue. Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, um zu erkennen, wie sehr ich in meiner eigenen Blase feststecke.” Ich schaue auf das Glas auf dem Boden und fange an zu lachen. „Ist es nicht komisch? Wie seltsam eng verbunden dieses Schloss mein ganzes Leben lang mit mir war? Jetzt, wo es zerbrochen ist, wird mir klar, wie zerbrochen ich auch war.”

„Du bist nicht zerbrochen, sag das nicht. Du bist jetzt frei, du hast herausgefunden, was dich von deinem wahren Glück abgehalten hat und jetzt kannst du es finden.” Er nimmt seinen Ehering ab, dann nimmt er meine Hand und entfernt auch meinen Ring. “Siehst du? Frei. Das ist etwas, was wir schon lange hätten tun sollen… Ich möchte, dass du auf dich aufpasst, deinen Träumen folgst. Bau’ dir deine eigenen Schlösser, statt die zu behalten, die man dir gegeben hat. Ich will, dass du weißt, dass ich dich liebe, trotz allem, was wir durchgemacht haben. Finde dich selbst, deine Bestimmung und deinen Weg im Leben und eines Tages kannst du vielleicht den Weg zu mir zurückfinden. Wenn du dich dafür entscheidest, werde ich mit offenen Armen hier sein und auf dich warten.” Ich umarme ihn noch einmal und denke mir, wie glücklich ich war, dass ich ihn hatte. Dass ich jemanden hatte, der mich unterstützte und in der Lage war, mich zu befreien, als ich es selbst nicht tun konnte.

Er hat Recht. Ich sollte mein eigenes Schloss bauen, genauso, wie ich es mir vorgestellt habe, als ich jünger war. Und mir fällt noch jemand ein, der diesen Vorschlag vielleicht auch gut brauchen kann.