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Der Beginn meines neuen Lebens

Der Beginn meines neuen Lebens

von Melissa Korsch

 

Ich mache meine Augen langsam auf. Alles um mich herum ist so hell, dass ich nichts erkennen kann. Ich drehe mich auf die Seite und sehe einen jungen Mann mit schwarzen Haaren und kristallblauen Augen, der neben meinem Bett sitzt und mich anschaut. Sobald sich unsere Blicke treffen, springt er auf und rennt aus dem Raum. Ich schaue mich um, mittlerweile haben sich meine Augen an das Licht gewöhnt und ich erkenne, wo ich bin. Im Krankenhaus?! Ein Augenblick später geht meine Tür wieder auf. Der junge Mann kommt wieder ins Zimmer, diesmal ist er aber nicht allein. Neben ihm stehen ein älteres Pärchen und eine Frau in einem weißen Kittel. Eine Ärztin, vermute ich.

“Hallo Viktoria…wir müssen Ihre Medikamente einstellen… dann kann sie entlassen werden", erklärt die Frau im Kittel. Sie sagt noch mehr, aber ich kann ihr nicht folgen. “ Ich will hier weg”, entgegne ich. Da kommt das ältere Pärchen zu mir. Die Frau nimmt meine Hand. Sie schaut mich an, als würde ich sie kennen, aber das tue ich nicht.

“Was ist los mit ihr?”, fragt der Mann die Ärztin. Die Ärztin fordert das Pärchen auf, ihr vor die Tür zu folgen.

“Hey Tori, du siehst echt beschissen aus”, sagt der junge Mann und lächelt.

“Das ist aber nicht so nett, wer bist du?” frage ich ziemlich verwirrt. Ihm fällt das Lächeln aus dem Gesicht. “ Oh fuck, Tori, mach keine Scheiße.” Er hält inne. “Ich bin Jason, dein Bruder.

Okay, das erklärte, warum der Typ sich so komisch verhalten hat. Das bringt mich auf den Gedanken, dass das ältere Paar dann wohl unsere Eltern sind. Ich schau an mir herunter und sehe eine riesige Narbe, die meine Arme hochläuft, bis sie unter meinem Krankenhaushemd verschwindet. “Was ist mit mir passiert?” frage ich Jason.

Er erzählt mir von einem Unfall inklusive Schädel-Hirn-Trauma und Koma. Ich bin wohl betrunken mit meinem Freund Fynn Motorrad gefahren und wir hatten einen Unfall. Ich gerate in Panik.

“Fynn?!”, frage ich sicherheitshalber nochmal.

“Ja, ein aufgeblasener Sportler, aber irgendwie hat er dich rumgekriegt und trotzdem schafft er es noch Mum und Dad zu gefallen. Er passt zu dir”, erklärte Jason.

Ich erinnere mich an Fynn. Er kam in meinen Träumen vor, aber es waren keine romantischen Träume. Er hat mich in seinen Keller gelockt, den er in eine Folterkammer umfunktioniert hat. Er betäubte mich mit Drogen und fügte mir mit einem gemeinen Lächeln höllische Schmerzen zu. Ich weiß zwar, dass ich alles geträumt habe, allerdings fühlten sich diese Träume so real an. Ich habe keine anderen Erinnerungen mehr, nur noch diese Träume.

*** 

Heute ist mein allererster Tag wieder Zuhause. Meine Erinnerungen sind noch nicht wieder da, ich erinnere mich zwar teilweise wieder an Orte, aber mein Zuhause ist mir fremd. Ich war jetzt genau ein halbes Jahr im Krankenhaus, und Jason hat mir Bilder gezeigt, aber ich erkenne mich nicht. Nicht nur, dass ich anders aussehe. Nein, ich habe eine ganz andere Ausstrahlung. Auf diesen Bildern ist eine selbstbewusste junge Frau zu sehen, von der es keine ungeschminkten Fotos gibt. Sie wirkt ehrlich gesagt nicht wirklich sympathisch. Ich stelle mich in meinem Zimmer vor den Spiegel und musterte mich. Ich habe immer noch meine langen blonden Haare. Aber mein Gesicht sieht ganz anders aus. Nicht nur, dass es ungeschminkt ist, es hat all seine Ausstrahlung verloren. Auch mein Körper hat sich verändert. Ich habe etwas abgenommen, aber vor allem habe ich eine riesige Narbe, die meinen Arm hochläuft und kurz vor meiner Brust endet.

Ich öffne meinen Kleiderschrank, um mir endlich mal etwas anderes anzuziehen. Okay, anscheinend besitze ich nur knappe Tops, hautenge Hosen und Miniröcke. Ich nehme mir das Erstbeste aus dem Schrank heraus und ziehe es mir an. Es klopft an meiner Zimmertür. „Herein!”. Jason öffnet die Tür und drückt mir ein rot eingeschlagenes Buch in die Hand. “Lies das, ich glaube das verschafft dir einen Überblick.” Mit diesen Worten verlässt er mein Zimmer dann auch wieder. Ich setze mich auf das Bett und schlage das Buch auf.

“Liebes Tagebuch, irgendwie peinlich meine Gefühle in ein Buch zu schreiben, aber ich kann niemandem davon erzählen. Ich hatte gerade einen großen Streit mit meinem Vater. Er war sauer auf mich wegen meiner Klausur. Ich habe eine zwei minus geschrieben und er ist ausgerastet. Normalerweise schreibe ich nie schlechter als eine glatte Eins. Er bezeichnete mich als wertlose Schlampe, die sich nur auf billigen Partys aufhält, anstatt etwas zu tun, auf das er stolz sein könnte. Ich habe ihm versucht zu erklären, dass es einfach nur eine missverständliche Aufgabe war, aber er hat mich nicht aussprechen lassen und mir stattdessen ins Gesicht geschlagen. Ich habe mich entschuldigt und bin hoch in mein Zimmer gegangen, um zu weinen und mein jetzt schon geschwollenes Auge zu überschminken. Mittlerweile bin ich gut darin, jede Art von blauen Flecken oder Würgemalen zu verstecken, mit der Zeit habe ich es perfektioniert.”

Ich klappe das Buch zu. Was? Habe ich mich deshalb immer so stark geschminkt? Um meine blauen Flecken zu überdecken? Ich klappe das Buch wieder auf, um mehr über mich zu erfahren.

”Liebes Tagebuch, ich hasse meine Eltern! Wir waren eben alle zusammen in der Küche. Mama und ich haben Essen gemacht. Ich habe beim Umdrehen den Kaffeebecher meines Vaters umgeworfen und noch bevor ich die Scherben aufkehren kann, hatte ich seine Faust im Gesicht. Meine Mutter verlässt den Raum und lässt mich mit ihm alleine. Ich habe Angst vor ihm und sie entzieht sich immer diesen Situationen. Als ich wieder auf dem Weg in mein Zimmer war, fing sie mich auf der Treppe ab. Sie fragte mich, ob ich nicht wüsste, dass mein Vater es ja nicht so meine und das dies ein Unfall gewesen wäre. Ich brach in Tränen aus und flehte sie an, ihn zu verlassen. Sie wirkte abwesend. Dann schreckte sie in sich zusammen. Ich musste versprechen, es niemandem zu erzählen. Sie sah so verzweifelt aus. Wir sind zusammen die Treppen hochgegangen, haben mich zurechtgemacht und danach das Thema totgeschwiegen, wie wir es immer taten.”

Ich hatte mich gerade dazu entschlossen, dieses Buch zu schließen und es auch nicht erneut zu öffnen. Ich weiß weder, was ich jetzt tun soll, noch wie ich diesen fremden Leuten nun gegenübertreten soll. Der einzigen Person, der ich in diesem Haus vertraue, ist Jason. Ich öffne meine Zimmertür, weil ich zu ihm will. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wo sein Zimmer ist, obwohl er es mir heute morgen, als wir nach Hause gekommen sind, gezeigt hat. Ich gehe also aus meinem Zimmer und öffne die Tür gegenüber von meiner. Ein Badezimmer, stimmt ja. Ich öffne die Tür neben dem Badezimmer. Jetzt bin ich richtig, das ist Jasons Zimmer, er ist nur gerade nicht da. Er ist selten zuhause, das habe ich schon herausgefunden. Sein Zimmer ist groß und dunkel eingerichtet, er hat ein Skateboard an der schwarz tapezierten Wand. Sein Zimmer passt nicht zu den anderen Räumen. Der Rest des Hauses ist hell eingerichtet und wirkt warm und wohnlich mit minimalistischer Dekoration und alter Kunst an den Wänden. Ich gehe langsam die Treppen runter und in der Küche finde ich dann die ganze Familie. Meine Mutter, mein Vater und Jason. Ich betrete langsam die Küche.

“Hey Schatz, wie geht es dir?”, fragte meine Mutter in einem warmen Ton.

“Ganz gut”, antworte ich.

“Dein Vater und ich haben überlegt, ob du morgen wieder in die Schule gehen möchtest?” “Gerne!” Ich würde gerne wieder in die Schule. Ich fühle mich unwohl in diesem Haus und alle Ausflüchte kommen mir recht.

Am nächsten Morgen reißt mich mein Wecker aus dem Schlaf, aber ich freue mich. Heute ist der erste Tag, an dem ich wieder in die Schule gehe. Ich mache mich fertig und verlasse das Haus auf die Sekunde pünktlich. Jason begleitet mich und setzt mich vor dem Büro des Schulleiters ab. Ich bin mit ihm verabredet, damit wir besprechen, was wir wegen der verpassten Schulzeit tun. Ich klopfe an die Tür und sie öffnet sich sofort.

“Guten Morgen Viktoria. Bitte setz dich. Ich habe schon mit deinen Eltern gesprochen und sie haben mich darum gebeten, dich in deiner aktuellen Klasse zu lassen. Jetzt würde ich aber wissen, was du davon hältst."

„Klar, ich bin das Material durchgegangen und schulisch habe ich keine Wissenslücken. Mir fehlen hauptsächlich die Erinnerungen an Personen.”

“Das ist schon mal gut. Aus meiner Sicht steht dem nichts im Weg, das du in deine alte Klasse zurückkannst. Ich möchte aber eine Bedingung stellen. Du triffst dich für den Rest des Schuljahres jeden Nachmittag mit Noah, um den Stoff der verpassten Zeit aufzuarbeiten. Er ist ein sehr guter Schüler und nur ein Jahrgang über dir”

“Okay, das ist kein Problem für mich." Ich verlasse das Büro mit einem guten Gefühl und suche die Schulflure nach meinem Klassenzimmer ab. Komischerweise kommt meine Orientierung ziemlich schnell zurück, und ich weiß, wo ich hinmuss. Ich komme also etwas zu spät in den Unterricht und setzt mich neben ein braunhaariges Mädchen, das mich zu sich rüber gewunken hat. Sie trägt Klamotten, die genauso gut aus meinem Kleiderschrank kommen könnten und etwas unangemessen für die Schule wirken.

“Hey Tori, ich war voll am Arsch ohne dich, hab keine Prüfung bestanden - haha,” sagt das Mädchen während sie lacht. Ich weiß nicht genau, was ich antworten soll, darum lächle ich einfach. Dann spricht sie aber gleich weiter. “Jetzt aber zum wichtigeren Part: Du hast voll die krasse Party verpasst! Kannste dir vorstellen, Chad, der heiße Typ aus der 12. hatte was mit dem Troll. Er hat sie dann vor allen abserviert, das war lustig.” Ich schaue sie verwirrt an. “Der Troll?”

“Ja, du hast sie doch so getauft. Ich glaub sie heißt Sarah oder so, sie ist voll widerlich und läuft immer rum wie so ne Nonne”

Ich halte kurz inne. ”Ich hab sie so genannt, weil sie nicht so hübsch ist?”

“Ja man, hat die voll verdient!”

“Was hat sie denn gemacht, warum sollte sie das verdient haben, so genannt zu werden?”

“Keine Ahnung man, ist doch auch scheißegal, voll lustig, wenn wir die immer so nennen und dann das Heulen anfängt.”

Ich schlucke, ich verstehe nicht, warum ich so gemein sein sollte und warum dieses Mädchen das auch noch gut findet.

Der Unterricht endet und ich gehe in die Cafeteria, um mich dort mit Noah zu treffen. Kurz nach mir kommt ein großer Junge herein. Er trägt einen schwarzen Hoodie und eine Mütze, die seine dunkelblonden Haare fast komplett verdeckt. Er sieht aus wie ein Nerd, trotzdem hat er was. Seine grünen Augen stechen heraus, weil sie so strahlen. Er setzt sich gegenüber von mir und legt seine Bücher auf den Tisch.

“Hallo, du bist wahrscheinlich Noah, oder?”, frage ich ihn.

“Ich dachte, du bist so schlau", entgegnete er in einem abwertenden Tonfall.

“Entschuldige, vielen Dank, dass du mir hilfst.”

“Glaub nicht, dass ich das freiwillig mache, ich verbringe nicht gerne Zeit mit dir!”

Ich schaue runter, die Situation ist mir etwas unangenehm. Für mich ist es, als würde ich ihn zum ersten Mal sehen und es scheint, als würde er mich bereits hassen. Mir ist bewusst, dass alle anderen ihre Erinnerungen behalten haben. Aber ich weiß nicht, was zwischen uns vorgefallen sein könnte, also versuche ich einfach weiter nett zu sein.

“Womit wollen wir anfangen?", frage ich vorsichtig.

“Physik“, antwortet er kühl.

Er erzählt mir leidenschaftlich etwas über Quantenphysik. Ich verstehe zwar, was er sagt, trotzdem war Physik immer mein schlechtestes Fach. Er kann sehr gut erklären, darum ergibt es tatsächlich Sinn, was er sagt. Wir machen ca. zwei Stunde weiter.

“Ich glaub, ich brauche eine Pause, das ist ziemlich viel neues Wissen”

“Ist okay”

“Darf ich dich was fragen?”

"Ich dachte du willst eine Pause machen”

Die Situation wird gleich wieder angespannter, trotzdem bin ich entschlossen, ihm meine Frage zu stellen.

“Das hat nichts mit Physik zu tun, ich wollte dich fragen, was ich getan hab, dass du so kühl bist?”

“Wow, das fragst du noch? Ich verpiss mich jetzt.” Er steht auf und geht.

Dann kann ich ihm auch nicht helfen. Ich mache mich auf den Weg zurück nach Hause, wo mein Vater mir die Tür öffnet. Ich weiß nicht genau, wie ich ihn begrüßen soll, also sage ich einfach Hallo und geh an ihm vorbei. Er dreht sich um und schaut mich streng an. “Wo warst du so lange?” “In der Schule. Ich bekomme Nachhilfe, um meine Lücke aufzuarbeiten.” Er schaut sehr wütend und mustert meine Kleidung. “Seit wann rennst du so zugeschnürt rum? Zieh dich um!” Ich schlucke, aber tue was er sagt, weil ich Angst habe, was sonst passieren könnte. Ich gehe also in mein Zimmer, ziehe mir ein Top mit Minirock an. Dann ruft mein Vater wieder nach mir: “ Viktoria, komm runter!”

Ich gehe die Treppen runter und sehe Fynn in der Tür stehen. Er schaut mich an, als würde er mich nicht mehr erkennen.

“Hey Tori, schön dich wiederzusehen." Mein Vater bittet Fynn um einen Moment und geht mit mir nach draußen vor die Tür, wo Fynn uns nicht mehr hören kann. “Warum kannst du diese hässliche Scheiße auf deiner Haut nicht abdecken?”

Ich bin verwirrt, vermute aber, dass es ihm nicht passt, meine Narbe zu sehen. Er erhebt seine Hand und ich zucke zusammen. Das macht ihn aber noch wütender und er legt seine eine Hand um meinen Hals. Während er mit dieser zudrückt, schlägt er mir mit der anderen eine Backpfeife. Als er mich loslässt, zittert mein ganzer Körper, nicht nur von dem Schmerz, vor allem vor der Angst. “Geh rein und mach dich wieder ansehnlich! Was sollen sonst die Leute denken? Ich habe einen Ruf, der auf dem Spiel steht." sagt mein Vater streng. Ich gehe wieder rein, um in mein Zimmer zu gehen. Fynn läuft mir hinterher und erreicht wenige Sekunden nach mir die Zimmertür. Er sieht mich an, er ist total schockiert über den roten Handabdruck auf meinem Hals und dem, auf meiner Wange. “Wasch du dir dein Gesicht, ich hole ein Kühlpack", fordert Fynn mich auf. Ich glaube, er weiß selbst nicht, was er tut, aber ich mache, was er sagt. Als wir wenig später wieder in meinem Zimmer sind, überwinde ich mich, ihn darauf anzusprechen. “Warum hast du nicht gefragt, was passiert ist?”

“Das musste ich nicht, ich weiß was passiert sein muss. Ich weiß nur nicht, wie ich reagieren soll, ich bewundere ihn und er ist mein berufliches Vorbild.“

 

Seine Antwort verwundert mich. Inzwischen habe ich zwar gelernt, dass all die schlechten Erinnerungen, die ich an ihn habe, ausschließlich Träume waren, aber er verhält sich, auch jetzt nicht wie ein fürsorglicher Freund. “Tori, du weißt, ich bin die einzige Person, die das wissen darf, nicht wahr?" Ich bin geschockt, er verhält sich genauso wie meine Mutter. “Es tut mir leid, ich muss jetzt auch los, ich wollte eigentlich nur deinen Vater abholen, weil wir zur Arbeit wollen”, ich schaue ihn verwirrt an “Ich mache ein Praktikum in seiner Kanzlei, das ist eine super Chance für mich”, erklärt er mir. Fynn geht die Treppe herunter und kurz danach höre ich die Tür ins Schloss fallen.

Ich glaube, ich bin allein. Als ich allerdings gerade noch dabei bin zu verarbeiten, was grade passiert war, klopft es an meiner Zimmer Tür. Ich ignoriere es. “Tori, alles gut?”, höre ich Jason vor der Tür fragen. “Komm rein!” Langsam öffnet Jason die Tür und sieht mich vor meinem Schminktisch sitzen. “Fuck, was ist denn mit dir passiert?” Ich wollte mir wirklich nicht nochmal anhören, dass unser Vater ja kein schlechter Mensch ist, also antworte ich ihm nur: “Ich weiß, ich erzähl es niemandem”

“Dad?”, fragt er nur.

“Ja”

“Das tut mir so leid, dass es immer dich trifft. Ich würde dich gerne beschützen, aber ich kann es nicht.”

Ich würde gerne weinen, aber ich weiß, dass es mich nicht weiterbringt, also lasse ich es.

Seit unserem Gespräch sind drei Wochen vergangen und ich musste Jason versprechen, niemandem davon zu erzählen. Unser Vater leitet eine angesehene Anwaltskanzlei und sein Ruf ist ihm das Allerwichtigste. Jason wird die Kanzlei eines Tages übernehmen und dann ist es auch sein Ruf, der auf dem Spiel steht.

Langsam beginne ich mein altes Leben zu verstehen. In der Schule gibt es genau zwei Meinungen über mich. Einmal die aus meinem Freundeskreis, die zu mir auf schauen und alles gutheißen, was ich tue . Und dann gibt es noch das komplette Gegenteil davon, von meinem gesamten Umfeld, die mich hassen, weil ich die Oberzicke der Schule war. Noah ist eine der Personen, die nichts von mir hält. Wir verbringen jeden Nachmittag zusammen und er hasst mich, ohne dass ich weiß warum. Heute in der Schule werde ich Layla, das braunhaarige Mädchen, das in der Klasse neben mir sitzt, fragen, was ich ihm getan habe. Normalerweise frage ich Jason nach meinen Lücken, allerdings weiß er weniger als gedacht von mir.

“Hey Layla”, begrüße ich sie, als ich den Klassenraum betrete: “Ich hab nochmal eine Frage an dich.”

“Ja, hau raus!”

“Du kennst doch Noah, warum hasst er mich?”

“Ich schätze, wegen Sarah. Seiner Schwester. Der Troll. Immerhin hast du sie so getauft. Aber warum interessiert du dich für das, was er denkt, der ist voll der Nerd?”

Sarah ist Noahs Schwester, das ergibt Sinn. "Weißt du wo sie ist, ich möchte mich bei ihr entschuldigen”, antworte ich ihr.

“Nope, kein Plan.” Was ich inzwischen über Layla gelernt habe ist, dass sie niemals ein schlechtes Gewissen hat und es ihr egal ist, wenn sich die Menschen um sie herum schlecht fühlen. Sie ist ziemlich oberflächlich. Ich bin aber wohl die Letzte, die sie verurteilen darf, denn ich war noch viel schlimmer.

Ich bin auf dem Weg in die Cafeteria, heute hatten wir länger Schule als normal, daher hoffe ich, dass die Cafeteria überhaupt noch offen hat. Glück gehabt. Sie ist auf und ich sehe Noah auch schon darin sitzen. Ich setze mich zu ihm und wir fangen an, uns mit Geschichte zu befassen. Wir sind ganz alleine und manchmal kommt es zu einer gewissen Spannung, die ich allerdings nicht genauer definieren kann. Noah ist sehr schlau, und wir verstehen uns auch eigentlich ganz gut, also bis ich ihn irgendwas frage, was nichts mit der Schule zu tun hat. Nach unserer Lerneinheit gehe ich also das Risiko ein und stelle ihm die Frage, über die ich schon den ganzen Tag nachdenke.

“Wo ist eigentlich deine Schwester?”

“Das geht dich nichts an.“

Ich weiß, glaub mir, aber ich möchte mich bei ihr entschuldigen.”

“Ich lasse dich nicht einmal in ihre Nähe, ich weiß nicht genau, was für ein Spiel du hier spielst, aber ich glaube dir kein Wort.”

Das tat weh. Mir ist bewusst, dass ich echt scheiße gewesen sein muss, aber ich möchte mich ja ändern und verbessern, was ich allerdings nicht kann, wenn er mir nicht die Chance dazu gibt. Er steht auf und will gehen, doch die Tür ist verschlossen. “Was hast du mit der Tür gemacht, warum geht sie nicht mehr auf ?”, fragt Noah mich genervt.

“Ich weiß es nicht, ich habe nichts gemacht.” Während ich das sage, stehe ich auf und versuche ebenfalls, die Tür zu öffnen. Sie bleibt zu. Noah schlägt gegen die Tür, aber es ist niemand mehr da, der und hören könnte. Wir holen beide unsere Handys heraus, aber wir haben keinen Empfang. Noah ruft noch weiter.

“Lass es, es bringt nichts”, fordere ich ihn auf. Na toll, was für ein Klischee. Ich nutze die Gelegenheit, dass er nicht fliehen kann und spreche ihn erneut auf seine Schwester an. Langsam sieht er ein, dass wie hier so schnell nicht rauskommen werden und es kaum möglich ist, mich so lange zu ignorieren.

“Sie ist noch in der Klinik”, sagt er verletzt.

“Was für eine Klinik?”

“Psychatrie. Nach dieser Party, wollte sie sich das Leben nehmen. Sie hat das Mobbing kaum ausgehalten, aber als dieser Typ sie dann so vorgeführt hat, wurde es zu viel für sie. Sie kommt aber in zwei Tagen wieder nach Hause”

Ich muss schlucken und die Tränen zurückhalten. Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt. Ich nehme ihn in den Arm, ohne darüber nachzudenken. Ich weiß nicht was ich sonst tun soll und ich möchte ihn trösten. Während ich in meinen Gedanken versinke, merke ich, dass er ebenfalls seine Arme um mich legt. Ich fühle mich zum ersten Mal nach meinem Unfall geborgen. Einen Moment später löst er sich aus der Umarmung und schaut mich an, als ob er auch nicht wüsste, was er sagen soll. Mir geht es genauso.

“Ich möchte mich wirklich bei deiner Schwester entschuldigen. Mir ist bewusst, dass ich lange Zeit ein schlechter Mensch war, aber es tut mir ehrlich leid. Ich verstehe, wenn du mich hasst, aber bitte hilf mir, mich zu entschuldigen”, flehe ich ihn an.

“Ich hasse dich nicht. Nicht mehr denke ich. Ich will dich nur nicht gern haben.” Seine Antwort bringt mich zum Lächeln. ”Also hilfst du mir?”

Er nickt und lächelt ebenfalls. Wir unterhalten uns noch stundenlang über alles Mögliche. Es tut sehr gut, mal mit jemanden zu reden, der meine Meinung teilt.

“Ich hab einen Film auf meinem Handy heruntergeladen. Wenn wir hier schon sitzen, können wir uns auch die Zeit vertreiben”, schlägt er vor.

“Sehr gerne.”

Wir legen eine Wolldecke, die in der Cafeteria liegt, auf eine Bank und stellen sein Handy so auf, das wir dien Film gut sehen können. Es war ein Horrorfilm und ich wusste nicht wie schreckhaft ich eigentlich bin. Zuerst saßen wir nebeneinander auf der Bank, dann hat er allerdings seinen Arm über mich gelegt, um mir etwas die Angst zu nehmen. Nach dem Film haben wir uns noch kurz unterhalten, bis ich dann in seinem Arm eingeschlafen bin.

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf und wusch mir den Makeup-Rest vom Vortag am Waschbecken ab. Das Geräusch vom Wasserhahn weckt Noah und er schaut mir verschlafen zu, ohne das ich es bemerke. Als ich fertig bin, drehe ich mich um und sehe zu ihm. Er hat seine Mütze nicht mehr auf und seine Haare sind ziemlich verstrubbelt. Er lächelt mich an. “Guten Morgen. Warum schminkst du dich eigentlich jeden Tag so extrem, du siehst echt gut aus ohne den ganzen Kram in deinem Gesicht.”

Ich weiß nicht was ich sagen soll, ich kann ihm schlecht die Wahrheit sagen, aber ich möchte ihn auch nicht anlügen, nach dem, was er mir gestern Abend über seine Schwester anvertraut hat. “Danke, ich glaube ich versuche mich unter meinem Makeup zu verstecken”, die Antwort war nicht einmal gelogen.

“Wovor muss sich ein Mädchen wie du denn verstecken?”, fragt er mich verwirrt. Ich beschließe ihm jetzt die Wahrheit zu sagen. Warum sollte ich meinen Vater weiter in Schutz nehmen?

“Mein Vater rastet manchmal aus. Und damit niemand die blauen Flecken sieht, überschminke ich sie.” Im fällt alles aus dem Gesicht. Mit der Antwort hatte er nicht gerechnet. Er kommt auf mich zu, bis wir uns fast berühren und schaut mir tief in die Augen, dann nimmt er mich in den Arm. Ich glaube, er weiß nicht, was er sagen soll. Er schaut mich kurz an und küsst mich. Sofort geht er wieder einen Schritt zurück und dreht er sich von mir weg.

“Entschuldigung, das war unangemessen. Nicht nur in dieser Situation, sondern auch, weil du ja noch mit Fynn zusammen bist. Können wir so tun als wäre das nie passiert?”

“Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich bin nicht mit Fynn zusammen, also zumindest nicht so richtig. Ich habe ihn einmal nach dem Unfall gesehen und ich mag ihn nicht wirklich.” Noah lächelt verlegen. Bevor er was sagen kann geht die Tür und Frau Jones kommt herein. Sie ist für die Cafeteria zuständig und schaut uns ziemlich verwirrt an. Wir begrüßen sie, erklären ihr die Situation und gehen dann. Ich verabschiede mich von Noah, weil ich dringend nach Hause muss. Auf dem Weg schau ich auf mein Handy, ich habe wieder Empfang und sehe 17 verpasste Anrufe. Alle von meinem Vater.

Zuhause angekommen öffnet meine Mutter mir die Tür. Sie sagt nichts und lässt mich rein. Den Ersten den ich dann sehe ist mein Vater und er sieht viel wütender aus, als beim letzten mal. Er schreit mich an “ Wo hast du dich die ganze Nacht herumgetrieben? Du hast einen Freund du …” er wird unterbrochen weil Fynn überraschend aus dem Wohnzimmer in den Flur kommt. Ich nutzte die Gelegenheit und renne hoch in mein Zimmer und schließe mich ein. Weil es an der Tür klopft, verbinde ich mein Handy mit meiner Musikbox und mache die Musik so laut, bis ich nichts anderes mehr höre. Nach ein paar Stunden mache ich die Musik aus. Sofort höre ich wie es wieder klopfen. Es ist spricht eine Stimme die weder meinem Vater noch Jason gehört. Fynn? Ich lasse ihn rein.

“Ich weiß du hältst nicht viel von mir, aber ich kann dich nicht länger anlügen”, sagt er bedrückt.

“Falls wir aneinander vorbei leben, wir sind nicht zusammen, das waren wir vielleicht vor unserem Unfall, aber ich kenne dich nicht mehr und ehrlich gesagt möchte ich das auch nicht mehr.”

“Ich weiß es tut mir leid. Das ist aber nicht das, was ich mit dir besprechen möchte. Ich bin an deinem Unfall schuld, aber nicht so, wie du und alle anderen es denken. Ich kann nicht mehr mit dem Geheimnis leben. Auch wenn ich den Zorn deines Vaters auf mich ziehen werde, muss ich dir die Wahrheit sagen”

“ Okaaay … ”

“Ich wollte dich zu einer Party abholen,. Ich stand unten im Flur und habe auf dich gewartet. Du hattest einen Streit mit deinem Vater und im nächsten Momnet hab ich gesehen, wie er dich die Treppen herunter gestoßen hat. Ich wusste nicht, dass es nicht das erste Mal war. Ich dachte es ist ein blöder Unfall. Ich bin zu dir gelaufen und wollte den Notartzt rufen, aber dein Vater hat meinen Arm festgehalten. Er bot mir an, in der Zukunft Junior-Partner in seiner Kanzlei zu werden, wenn ich den Sanitätern erzähle, wir hätten einen Motorradunfall gehabt. Ich war einverstanden und wir haben alles so arrangiert, dass es aussah wie ein Unfall. Wir wussten nicht, ob du jemals wieder aufwachst. Aber ich habe dennoch an einen Unfall geglaubt. Ich wollte ihm helfen, so dass er im Fall der Fälle nicht wegen Totschlags vor Gericht steht. Aber ich habe eingesehen, dass es falsch war, und du glaubst nicht, was für ein schlechtes Gewissen ich dir gegenüber habe. Vor allem, als ich mitbekommen habe, dass dein Vater dich schlägt und ich ihn auch noch in Schutz genommen hab.”

Ich weiß nicht wie ich mit dieser Information umgehen soll.

“Geh raus! Raus aus meinem Zimmer, aus diesem Haus und meinem Leben!“, das war das einzige, was ich erwidern konnte. Ich wollte jetzt nur zu einer Person, Noah. Aber ich weiß, dass seine Schwester morgen nach Hause kommt und möchte ihn nicht zusätzlich belasten.

Die letzten Tage habe ich mein Zimmer nicht verlassen, aber heute will ich wieder in die Schule.

Dort angekommen sehe ich Noah neben einem Mädchen stehen. Ich gehe vorsichtig zu ihnen.

“Bist du Sarah?”, frage ich das Mädchen.

„Ja”, antwortet sie unsicher.

„Kann ich mit dir reden?” Sie schaut unsicher zu Noah auf, er lächelt ihr aber ermutigend zu.

Ich habe mich sehr oft bei ihr entschuldigt. Sie ist super lieb und überhaupt nicht nachtragend. Wir haben stundenlang geredet und ich habe ihr von meinem Koma erzählt und das ich nicht weiß, was davor war, aber dass ich es mir denken kann und wie leid mir alles tut.

*** 

Es ist ein Monat her, dass ich mich bei Sarah entschuldigt habe und sie ist meine neue beste Freundin geworden. Noah und ich sind nun ein Paar, und ich wohne momentan bei den beiden Zuhause, um meinen Vater aus dem Weg zu gehen. Seine Familie ist super nett und hat mich aufgenommen, ohne zu fragen, was überhaupt los ist. Morgen ist mein Gerichtstermin. Noah und Sarah haben mich überredet, meinen Vater anzuzeigen. Fynn sagt auch als Zeuge aus, er hat immer noch ein schlechtes Gewissen und möchte nun endlich das richtige tun. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, das alles gut wird.

Ich spüre, es wird anders.

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