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Weihnachtsmannrennen

Nur noch wenige Stunden, bis das jährliche große Weihnachtsrennen beginnt. Eilig bahnt sich Elise einen Weg durch die beschäſtigten Menschen auf den Straßen und schlüpſt ungesehen in die Hintertür des Stalls. Im dämmrigen Licht tastet sie sich zu den letzten Boxen, gräbt die Finger in das vertraute, borstige Fell. Die Wolfshunde dösen noch vor sich hin, sammeln ihre Kräſte. Mit wenigen Handgriffen zieht sie eine Ampulle aus ihrem Ärmel, mischt die tiefrote Flüssigkeit mit einem Holzlöffel unter den Brei im Futtertrog und verschwindet. Sie spürt ihr kräſtiges Blut in ihren Adern pulsieren, und langsam auch an dem Ort, wo sie es hinterlassen hat. 

 

Die Kirchenglocken läuten. Eisiger Wind weht durch Mühlental, die Dächer sind von Schnee bedeckt. Die Sandstürme dieses Jahr waren besonders ausgeprägt und haben eine magere Ernte hinterlassen. Sie alle hoffen, auf ein Wunder an Weihnachten. Dicht gedrängt stehen die Menschen an dem Stadttor und warten auf die Auswahl des diesjährigen Kandidaten für das große Schlittenrennen. Neben dem fünf Meter hohen Eisentor warten bereits drei grau-braune Wolfshunde. Aufgeregt fletschen sie die Zähne und zerren an ihren Halsketten. Ein älterer Mann steigt die Empore hinauf, sein Gesicht von Falten überseht, der Blick trüb in die Menge gerichtet. Allmählich wird es still. Elise hastet die Gasse hinunter, drängelt sich durch die Wartenden und starrt gebannt nach vorn. Deutlich spürt sie, wie das Band zwischen ihr und den Wölfen stärker wird. Fühlt die Aufregung, die sie fühlen. Der alte Herr räuspert sich, nimmt einer Brieſtaube das Papier ab und verkündet mit lauter Stimme den Namen: Linus von Haagen. 

 

Ein Raunen geht durch die Menge, ein halbgroßer Junge mit blondem Haar tritt aus den vorderen Reihen. Mit zerschlissener Kleidung doch stolzem, geraden Rücken schüttelt er die Hand des alten Herrn. Ihm wird die Wolfspeitsche überreicht, woraufhin er dem Dorf heroisch zuwinkt und in den Schlitten steigt.  

 

Mit zusammengebissenen Zähnen taucht Elise in der Masse unter und verschwindet. Nicht nur spürt sie das Adrenalin der Wölfe, auch ihre Sicht ist gestochen Scharf, ihre Schritte leichtfüßiger als sonst.  

 

Von Weitem ertönt das Schellen der gelösten Ketten, lautes Jaulen der Wölfe und eine tosende Menge. Ein Schuss wie ein Beben hallt durch das Gebiet: Möge das Rennen beginnen!  

 

Siegessicher schlägt der Junge die Peitsche an das Holz des Schlittens. Die Wölfe jagen unermüdlich in den Wald, einen einzigen, weißen Pfad zwischen haushohen Tannen hinauf . Beflügelt klammert er sich an den rumpelnden Schlitten, den eisigen Fahrtwind im Gesicht. Auf ein sattes Weihnachtsfest und dass ihn jeder ehren wird! 

 

An einer Kreuzung vereinen sich fünf Wege in einen breiten Aufstieg und der erste fremde Schlitten rast an ihm vorbei.  Wütend schlägt er die Peitsche. Jaulend hetzen seine Hunde hinterher. Schweiß perlt von seiner Stirn. Er dreht sich um. Drei weitere Schlitten im Rücken. Als der blaue Reiter ihn seitlich rammt, gerät Linus aus der Bahn. Die Wolfshunde ächzen unter dem Gewicht des Schlittens im Tiefschnee. Linus brüllt. Zwei Schlitten ziehen an ihm vorbei. Die Peitsche, nichts passiert. Zittrig springt er aus dem Wagen, versinkt halb im Schnee. Fluchend schiebt er das Gefährt hinauf auf die Bahn. Zurück im Rennen, den immer steileren Pfad hinauf. Linus schaut sich um, sie mussten die letzten sein.  

 

„Schneller, schneller!“ krächzt er verzweifelt.  

 

Hinter der Kurve erhascht er einen Blick auf seine Konkurrenz. Nicht mehr lange. Mit pochendem Herzen blickt er auf die Rote Fahne am Gipfel.  

 

Da geraten zwei Schlitten an der Front ins Schleudern. Als würde ihnen der Halt unter den Kufen verloren gehen, sausen sie ungebremst die Böschung hinunter. Linus hält gespannt den Atem an. Seine Hunde ziehen noch immer mit hoher Geschwindigkeit. Der blaue Wagen wird langsamer. Ein gelber Schlitten überholt und rutscht zielsicher an der selben Stelle in den Abhang. Als Linus die Eisfläche endlich erkennt, versucht er panisch zu bremsen. Die Hunde wie wild geworden, rennen nur noch schneller.  

 

Mit ihrem Fernglas behält Elise das Rennen im Auge. Sie schüttelt den Kopf, als sie Linus auf die Rutschbahn zurasen sieht. Das war ihr Ende. Hastig rutscht sie den Stamm der hohen Kiefer hinunter und eilt durch den tiefen Schnee. Am Rand der Rennbahn hält sie sich im Gebüsch versteckt. Sie riecht den Angstschweiß des Jungen, das Blut der Wölfe. Als sie nur noch wenige Meter von der Eisfläche entfernt sind, springt sie auf den Wagen wie ein Äffchen. Linus kreischt. Sie reißt ihm die Zügel aus der Hand, raunt den Wölfen zu: „langsam, links entlang!“ vertraut darauf, dass sie sie verstehen, dass das Bündnis funktioniert hat. Ihre zottligen Haare wirbeln durch die Luſt. Sie weichen dem Hindernis aus, entgehen geschickt der Rutschbahn, nehmen wieder an Fahrt auf. Elise strahlt, in den Fingern das Gefühl von Freiheit. Neben ihr protestiert Linus kleinlaut doch sie zischt nur, ohne ihn anzusehen. Bloß noch wenige dutzend Meter. Der blaue Wagen ist zum Greifen nah.  

 

Elise klettert über das Seil auf den Rücken des Leittiers, gräbt die Hände in das Fell des Tiers. Spürt die Muskeln arbeiten. Gibt ihrem Wolf einen letzten Ruck. Ihr Herz pocht gegen ihre Brust. Noch einmal werden sie schneller, ziehen an dem blauen Wagen vorbei, schneiden ihnen den Weg ab und Rasen ins Ziel.  

 

Elise reißt die Fahne aus der Halterung und bringt die Tiere zum Stehen. Fiebrig schaut sie sich um, in die schneebedeckte Landschaſt in der Ferne. Eiskalte Luſt zieht sich in ihre bebende Lunge.  

 

Hungrig umranden sie drei Schnauzen und lecken ihr das Blut von den aufschlitzten Handflächen. Lobend streicht sie ihnen über die Köpfe: „gut gemacht“ flüstert sie in Worten, die nur sie und Wölfe verstehen. 

Sprachlos schält sich Linus aus dem Wagen, kein Funken von Freude im Gesicht. „Verschwinde“, zischt er. „Bevor die anderen sehen, dass du betrogen hast.“ 

 

Als Elise nicht auf seinen kläglichen Versuch reagiert, packt er sie am Kragen, die Faust drohend erhoben. Seelenruhig schaut sie ihm in die Augen. „Lass mich los“ befielt sie, doch er drückt nur noch fester zu. Sein Muskel zuckt, seine Faust schnellt nach vorne. Doch Elises Pupillen blitzen, verlässlich. Ein Schrei ertönt. Die Hände an die Schläfen gepresst sinkt Linus zu Boden. Elise funkelt ihn an, löst die Hunde von den Schlingen und schüttelt wenig später die Hand des Überraschten Spielmeisters. Gratulierend übergibt er ihr den Schlitten voller Kostbarkeiten und lässt sie davonreiten.  

 

Das Dorf empfängt die Geschenke jubelnd und stimmt die Festlichkeiten an. Überall werden Fackeln entzündet und die große Tafel vorbereitet. Elise verschanzt sich hinter dem Schlitten, steckt sich die Taschen voll mit Keksen und verfüttert heimlich etwas gutes Fleisch an die Wölfe. Gemeinsam huschen sie von dem Fest in die Ställe, lassen die Lichter und die Musik hinter ihnen. Elise fällt erschöpſt ins warme Stroh und die Hunde Rollen sich neben ihr zusammen, wärmen sie, in der kalten Nacht.  

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