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Der Therapeut

geschrieben von Can Uslu.

 

1.  Akt 

 

 

Sein Wecker ertönt und er wacht auf - Diring Diring Diring Diring

So klingt mein Wecker, welcher jeden Tag mein perfektes Leben startet. Der Anfang der Woche ist immer das beste. Es fühlt sich jedes Mal wie ein neuer Start an und meine tägliche Routine ist dabei das Wichtigste, für mich und meine Struktur. Ich lasse mir deswegen sehr viel Zeit morgens.

Er sieht zum Wecker.

Wenn ich nicht schon längst zu spät wäre!

 

Paul Mark Sinner ist Psychologe mit der besten therapeutischen Praxis in seiner amerikanischen Mittelstadt. Er ist 29, doch er möchte sich nicht die nähende 30 eingestehen, weil er schon als kleines Kind spätestens mit 30 verheiratet sein wollte, dabei ist sein Sex-Leben noch mehr tote Hose als die des 70jährigen Nachbarn.

,,Socken, wo sind meine Socken?? Ach da. Jetzt muss ich nur noch meine Haare machen, nein shit keine Zeit!“

 

Als Einzelkind viel arbeitender Akademiker-Eltern, Vater Anwalt und Mutter Arzt, ist er ein sortierter, kleiner Perfektionist, und sein klassischer Style erinnert eher an einen Professor als an einen Therapeuten. Sein Apartment ist viel zu riesig für ihn allein, aber sein gutes Gehalt und die gute Lage, die es ihm erlaubt, seine Praxis zu Fuß zu erreichen, haben es möglich und wert gemacht.

 

,,Egal, was ich mache, ich bin schon zu spät! Und wo ist jetzt meine Aktentasche?? Och manno, so ein Scheibenkleister! …ach da ist sie, jetzt aber schnell.“

Paul schießt aus der Tür, vergisst fast, abzuschließen und flitzt danach durchs Treppenhaus. Am Ausgang läuft er besagtem Nachbarn übern Weg, Herrn Raskowski. Raskowski ist ein ehemaliger sowjetischer Soldat; durch den kalten Krieg hat er Amerika hassen, doch durch seine amerikanische Frau lieben gelernt. Er kann sich sein Apartment durch die Lebensversicherung seiner Frau leisten, die vor einem halben Jahr gestorben ist. Wahrscheinlich möchte er aber immer noch im Apartment und in Amerika bleiben, weil es das letzte ist, was ihn an seine erste und letzte Liebe erinnert. Unabhängig davon hat er Amerikas Sport für sich entdeckt, so wie Paul ihn immer bei einem Football-Spiel schreien hört, doch der Kapitalismus stört den alten Sowjet gewaltig. ,,Mein Junge Paul, auf ein Wort!“

 

,,Ach Hallo, Herr Raskowski, nein nein, ich muss weiter, ich bin schon zu spät.“ ,,Wenn Sie schon zu spät sind, was machen die paar Minuten schon? Außerdem bist du gestern eiskalt an mir vorbei gegangen, wo du mir bei der Post helfen solltest.“ ,,Gestern? Aber gestern war doch Sonn…“

Bevor Paul antworten kann, unterbricht ihn der alte Mann und versucht währenddessen, seinen Postkasten zu öffnen.

,,Alles gut, Junge, ich verstehe das, du bist Amerikaner, ihr jagt das Geld, aber der Kapitalismus verdirbt euch. Du bist der einzige Amerikaner, der nicht dem Geld hinterherjagt, sondern um für das Wohlergehen anderer sorgt. Hast mal vom Kommunismus gehört? Ich denke, diese Denkweise könnte dir guttun. Verdammt nochmal, was ist mit diesem Ding los?“

In derselben Sekunde schafft er es, den Briefkasten zu öffnen, doch es war so viel Post im Postkasten, dass der Inhalt explosionsartig rausschoß. Das Geräusch und die Verteilung der Blätter holte Erinnerungen hoch und er warf sich panisch mit seinen Armen über den Kopf auf den Boden.

,,RENN JUNGE, RENN! DIE AMERIKANER KOMMEN, UM SICH ENDLICH ZU RÄCHEN! LANG LEBE MUTTER RUSSLAND, LANG LEBE DER VODKA. ICH WERDE MICH NIE DEM KAPITALISMUS BEUGEN, ABER VIELLEICHT TOM BRADY!“

Während sein Nachbar beschäftigt war, alte Kriegserinnerungen zu durchleben, sammelte Paul seine Post ein, sortierte sie, legte sie neben ihn und machte sich endlich los zur Arbeit.

,,Auf Wiedersehen, Herr Raskowski, wir können später reden!“ schrie er und rannte weg.

 

Paul besitzt eine besondere Gabe, die er durch einen Unfall in seiner Kindheit erhielt. Er hat dieser Gabe den Großteil seines Erfolges als Therapeut zu verdanken, da er mit dieser Gabe in die Erinnerungen und Wahrnehmungen anderer eindringen kann und sie 1 zu 1 nachempfinden kann, was es ihm ermöglicht, seine Patienten auf eine Art zu behandeln, wie es kein anderer Therapeut kann. Einziger Nachteil: Bei diesem Vorgang durchleben die Patienten auch wieder dieselben Erinnerungen, was zu Wutanfällen oder Angstzuständen führen kann, doch Gary findet, dass dies der Preis wert sei, außerdem helfe es ihnen, die vergangenen Ereignisse besser zu verarbeiten.

 

Angekommen in seiner Praxis, sieht er drinnen bereits seine Patienten. Wie immer sitzen Jose und Grace, die Empfangsdamen, vor der Empfangstheke und Surt, der Sicherheitsmann, steht neben dem Büro. Zuerst kommt Paul hinter die Theke und redet mit seinen Empfangsdamen. ,,Und, was hab ich bis jetzt verpasst?“, fragt er.

,,Nicht viel, einige sind zwar ungeduldig, aber es reicht ein Blick von Surt, um sie wieder zu beruhigen, also nehmen Sie sich ruhig die Zeit, die sie gleich im Büro brauchen“, sagt Jose ruhig mit einem süßen Lächeln.

,,Aber können Sie mir sagen, was gestern mit ihnen los war?", fragt sie weiter. "Sie wirkten wie ausgetauscht, waren nicht wiederzuerkennen weder im Aussehen noch in ihrer Art. Sie trugen einen komplett schwarzen Anzug und waren unfreundlich, stürmisch und ungeduldig.“ ,,Was…?! Ha, ach war ich das ja? Ist ja lustig, ha.“

,,WAS? MIT WEM REDEST DU JOSE? OH HERR SINNER, SIE AUCH HIER, SIE SIND ABER SPÄT!“

,,Ist doch egal, Grace!", meint Jose. "Gehen sie schonmal rein Garry.“

,,WAS IST LEGAL!? MEINST CANNABIS ODER? JA HEUTZUTAGE MACHEN DIE AUCH ALLES LEGAL"

,,Ach lass es gut sein, Grace.“

,,ICH SOLL GUT SEIN? DANKE JOSE!“

Jose seufzt. „Bald ist Urlaub, nur noch ein kleines bisschen …“

 

Paul geht Richtung Büro, nicht ohne Surt vorher die Hand zu schütteln.

 

,,Na mein Sicherheitsmann, waren die anderen bis jetzt schön brav?“

,,Naja, ein paar schmollen und wurden bisschen sauer, aber ansonsten alles gut.“

,,Na dann ist gut.“

,,Ey, Paul, warte kurz, kannst du mir sagen, was gestern mit dir los war? Du hast kaum meine Hilfe gebraucht und die Anfälle bei den Patienten selber übernommen, was ich ja eigentlich mache. Einen hast du sogar selbst rausgeschmissen, als er zu aggressiv wurde. Hat das was mit deiner Gabe zu tun? Denn das gestern warst nicht du.“

 

,,Ich komm schon klar Surt, wirklich, ist nur der Stress und ich wollte etwas Neues ausprobieren, haha. Sei so lieb und schick gleich die ersten rein, ja?“

,,Na gut, dann vertrau ich dir ,aber du weißt, wenn etwas ist, kannst du immer zu mir kommen.“ ,,Das weiß ich Surt, danke.“

Surt öffnet ihm die Tür und Paul geht in sein Büro. Er setzt sich auf seinen Stuhl und legt seine Sachen beiseite.

 

Jose und Grace sind die Empfangsdamen der Praxis. Jose ist ein wenig jünger als Paul und hat eine Menge Erfahrung im Umgang mit Menschen und Management. Sie würde niemals in so einer Praxis arbeiten, wäre sie nicht unsterblich in Paul verliebt, daher würde sie für ihn in jeder Praxis arbeiten. Grace dahingegen ist nur ein paar Jahre jünger als Herr Raskowski. Sie ist zwar schwerhörig, aber keine zweite, wenn es um Emails oder Verwaltung geht, deshalb ist sie sehr wichtig, doch arm; und dies ist die einzige Arbeit, die sie in diesem Alter noch verrichten kann. Surt ist ein alter Freund von Paul, er hat ihm im College als Zimmergenossen kennengelernt. Aber nachdem er als Polizist dem Vergewaltiger eines kleinen Mädchens fast die Schädeldecke zerschmetterte und suspendiert wurde, arbeitet er nun als Sicherheitsmann bei Paul, falls es zu gewalttätigen Zwischenfällen durch seine Gabe geben sollte. Er ist der Einzige, der von Pauls Gabe weiß.

 

Während Paul sich bereit macht, versucht er, sich seine Amnesie zu erklären.

 

Was war gestern los?? Ich kann mich an Reingarnichts erinnern. Nur noch, dass ich Sonntag einschlief, aber anscheinend war ich Montag normal auf den Beinen. Scheiße, ich glaub ich arbeite zu viel, vielleicht erleide ich ja bald ein Burnout. Ja das muss es ein, der Stress, ein Burnout ja natürlich.

 

Seine Gedanken werden durch die ersten Patienten, die ins Büro eintreten, gestoppt. Es ist ein unruhiges Paar, und sie setzen sich distanziert voneinander auf die Coach.

Findest du nicht, die beiden ähneln Mom und Dad? Ob es bei ihnen auch genauso endet?

Was, was denk ich da??

 "Guten Tag, wo drückt den der Schuh?"

 

M: ,,Hallo, ja nun wir sind offensichtlich hier, weil wir Eheprobleme haben.“

F: ,,Du meinst, weil DU Probleme hast!

M: ,,Schatz…bitte…“

F: ,,NEIN, ich verstehe nicht warum wir hier sind oder ICH, wobei du es bist der Probleme hat!

 

,,OK ok, schön ruhig bleiben ja? Ich merk schon, da ist eine Menge Spannung in der Luft. Doch ich habe eine Lösung, wie wir wenigstens starten können. Strecken sie je eine Hand aus und legen sie sie auf meine.“

Zuerst gucken die beiden sich verwirrt an, doch sie versuchen es trotzdem und geben ihm ihre Hände. ,,Entspannen sie sich, schließen sie die Augen und erinnern sie sich zurück an den Zeitpunkt, wo es alles zu bröckeln begann.“

 

Als die Verbindung zwischen Pauls Verstand und den Erinnerungen des Paares hergestellt ist, beginnt er, sie sich anzugucken und zu entschlüsseln. Der Mann war ein hart arbeitender Kerl, sowie wie auch seine Frau. Er arbeitete so sehr, dass sie manchmal Tage ohne ihn auskommen musste, denn seine Sehnsucht nach finanzieller Stabilität für das zukünftige Kind, das sie in Planung hatten, war groß. Der Frau gefiel das gar nicht, sie verstand nicht, warum ihr Mann das tat, aber nach einiger Zeit verstand sie es, doch sie begann eine Hass-Liebe zu entwickeln, die ihn langsam quälte. Nicht nur, weil er ihr keine Aufmerksamkeit schenkte, sondern auch, weil es ihr Spaß machte, ihn leiden zu sehen. Sie fing erst mit leichten Dingen an, wie seine Lieblingshose mit falscher Wäsche zu waschen, sodass sie unbrauchbar wurde, mit der Zeit dennoch wurde sie brutaler und mischte ihm giftige Stoffe ins Essen, welche ihn krank und impotent machten, nach dem Motto ,,Arbeite dich zu Tode, du Schwein!“ Eines Tages hatte es sich sogar so weit hochgeschaukelt, dass er sie schlug. Sie wollte ihm daraufhin an Ort und Stelle die Kehle aufschlitzen, aber es war Besuch anwesend, was es unmöglich für sie machte, ihn unbemerkt abzuschlachten. Also manipulierte sie ihn und ließ es so aussehen, als wäre das Meiste seine Schuld und als wäre er ein gewalttätiger Ehemann. Das führte zu dieser Therapiesitzung. Paul sieht sich das Ganze in ihrer Erinnerung an, dabei begleitet ihn ein mulmiges und nostalgisches Gefühl, als hätte er all dies schon einmal erlebt. Eine Stimme hindert ihn weiter nachzudenken.

Du siehst es, sie sind genauso wie Mom und Dad, diese Frau ist genauso geschädigt wie sie und der Mann genauso arbeitssüchtig wie er, ohne Interesse für die Familie.

Was ist das? Wer bist du? Verschwinde aus meinem Kopf! Das stimmt alles nicht!

Sieh es dir an Paul, sieh genau hin.

ICH SAGTE VERSCHWINDE!

 

Paul ist aus seinem Stuhl gesprungen und wird bewusstlos, das Paar hingegen ist verwirrt und erleidet keinen Anfall, aber zum ersten Mal erleidet Paul einen. Nach einiger Zeit kommt Paul wieder zu sich und das Paar hockt besorgt vor ihm. Er springt auf, reißt die Tür auf und schreit ,,RAUS!“. Das Paar verlässt erschrocken das Büro, und draußen sehen alle die drei geschockt und verwirrt an, jedoch will der Mann nicht ohne Antwort gehen.

,,Sehen sie, ich weiß zwar nicht, was da gerade eben passiert ist, aber bitte geben sie mir ein Rat!“ ,,Einen Rat!? Na gut den können sie haben. Kriegen sie ihr beschissenes Leben in den Griff! Leben sie, anstatt zu arbeiten und trennen sie sich von dieser alten Verrückten, die gehört eingewiesen, in Jacke und Gummiraum!“

Der Mann guckt ihn weiterhin verzweifelt an, seine Frau lacht nur hysterisch und verlässt die Praxis, er gleich hinterher. Jeder guckt nun geschockt Paul an, der immer noch in der offenen Tür steht und die Blicke seiner Patienten und seiner Mitarbeiter kreuzt.

ICH MÖCHTE NICHT GESTÖRT WERDEN, BIS ICH WIEDER RAUSKOMME, schrie er und knallte die Tür zu. Er drehte sich von der Tür weg und da war er, mitten in seinem Büro – er selber mit schwarz gekleidetem Anzug und schäbigen, schadenfrohem Lächeln. Er konnte seinen Augen nicht glauben, also guckte er ihm mit offenem Mund und schockiertem Gesicht an und rieb sich mehrmals die Augen.

,,Du kannst dir so oft die Augen reiben wie du willst, es ändert nichts an meiner Erscheinung.“

,,W-W-Was bist du?! WER BIST DU!?“

,,Herr Gott nochmal, stell dich nicht dümmer als du bist, aber ich will mal nicht so sein. Ich bin Mark. Genau genommen bin ich eine ausgereifte Version von dir, finde ich jedenfalls, du magst diesen Namen sowieso nicht, weil Mom uns immer so genannt hat.“

,,Woher weißt du… Nein, nein, NEIN. Ich bin verrückt geworden, das ist kein Burnout mehr.“

,,Ohhhh schlauer Junge, aber das hier…DAS ist viel mehr als nur ein Burnout und auch viel mehr, als du dir nur vorstellen vermagst.“

,,Ok das reicht, ich bin fertig. Das hier ist nicht real.“

 

Paul geht zu seinem Medikamentenschrank, holt sich Medikamente für starke Wahrnehmungsstörungen raus und nimmt seine Sachen.

,,Realer, als du glaubst, Paul“, sagt Mark ihm hinterher.

,,Leck mich, du existierst nicht!“ erwidert er, schließt die Tür auf und geht raus. Vor seinem Büro warten Patienten und Mitarbeiter auf eine Erklärung, doch Paul geht einfach weiter, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

,,Liebe Patienten, aufgepasst. Wir schließen die Praxis hier für eine Woche!“ Jose kommt hinter der Theke hervor: ,,Paul was ist denn in dich gefahren?!“ Surt erwidert von der Seite: "Genau, was zum Teufel ist los mit dir?"

,,Meine lieben Mitarbeiter, bitte schließt die Praxis. Ihr bekommt bezahlten Urlaub, es ist ein Notfall und kein Wort mehr!“

,,Aber Paul!“

Wow Paul willst du wirklich ohne eine Erklärung gehen? Hör doch, wie große Sorgen sie sich machen.

,,Kein Wort!“

Paul verlässt die Praxis und stampft in Richtung Zuhause, wobei sich Jose und Surt nur ahnungslos angucken. Grace hat währenddessen eine Email geschrieben und guckt jetzt über ihrem Computer hervor.

,,WAS IST?? WAS HAB ICH VERPASST?“

Zuhause angekommen, lässt Paul seine Sachen fallen und schluckt eine kräftige Dosis des Medikaments.

,,Du denkst doch nicht etwa, dass das mich stoppen wird.“

,,Oh doch das denk ich, diese Pillen hauen sogar die stärksten schizophrenen Wahrnehmungen weg!“

,,Bestimmt, aber ich bin keine Wahrnehmung, ich bin eine Manifestation deines Unterbewusstseins.“

,,Klar, bald bist du aus meinem Kopf verschwunden und ich kann endlich wieder anfangen zu leben! Genau in derselben Sekunde fängt Paul an, Mark nicht mehr zu sehen, doch eine Nebenwirkung des Medikaments zeigt sich, erhöhte Müdigkeit. Paul geht schlafen in der Hoffnung, Mark nie wieder sehen zu müssen.

 

2. Akt

 

Paul wacht in einer unbekannten Umgebung auf. Er steht auf und sieht sich um, alles schwarz. Der Boden, der Himmel, ja sogar an jedem Horizont ist alles schwarz, aber sich selber kann er noch sehen. Aus dem Nichts taucht Mark hinter ihm auf.

,,Na? Gut geschlafen? Wie gefällt es dir in deinem Unterbewusstsein?"

,,Was ist das hier? Das kann unmöglich mein Unterbewusstsein sein. Warum bist du noch nicht weg??“

,,Ich habe es dir doch schonmal gesagt, ich bin keine Störung, und das hier ist dein Unterbewusstsein in all seiner Pracht. Nun es ist gerade noch verpackt wie ein Bonbon, weil du wie schon dein ganzes Leben lang wie ein Feigling davonläufst, aber jetzt nicht mehr. Jetzt fallen die Vorhänge!“

Die unendlich schwarze Leere verwandelt sich von einem Moment zum anderen in einen Schauplatz von Erinnerungen, Wahrnehmungen und Gefühlen. Paul hat genau diese jedoch nie richtig verarbeitet, und sowohl sein Verstand als auch sein Körper werden nun mit unglaublichen Mengen an Gefühlen, Informationen und Schmerz geflutet. Es ist, als würde man einen riesigen Damm aufreißen und den Fluss wieder frei fließen lassen. Es ist so überwältigend, dass Paul auf den Boden fällt und seine Hände am Kopf hält, denn es fühlt sich so an, als würde er zerreißen.

,,STOPP, HÖR AUF BITTE!“

,,Nein, ich denke nicht, denn ich finde, du hast die Wahrheit so langsam verdient.“

,,WELCHE WAHRHEIT? WOVON REDEST DU? WAS BIST DU ÜBERHAUPT?“

Mark duckt sich zu ihm runter, während Paul immer noch vor Schmerz auf dem Boden kauert.

,,Du willst wissen, was ich wirklich bin? Na gut. Ich bin all das, was du hier spürst! Ich bin all das, was du hier hörst! ICH BIN ALL DAS, WAS DU HIER SIEHST! Das hier ist der Ort, an dem du all die Jahre deine negativen und traumatisierenden Erfahrungen und Erinnerungen gelagert hast, um sie nie richtig durchleben zu müssen. Zuerst war dies hier nur ein Ort, wie eine Müllhalde für all das, was du nicht erleben wolltest, aber mit der Zeit hat das nicht gereicht. Du wurdest immer feiger und feiger und feiger, bis nun mal die Abrechnung kommt. Deine Müllhalde, dein Verstand hat sein Limit erreicht und dafür zahlst du nun.“

,,ABER WARUM?! SAG MIR, WARUM!“

Mark stoppt den Redefluss und das Unterbewusstsein wird wieder schwarz, Paul kommt wieder zu Sinnen und richtet sich auf. Paul und Mark stehen sich gegenüber.

,,Du willst den Auslöser sehen? Der Grund, weswegen ich existiere? Die Wahrheit? Dann sieh hin.“

Beide sehen nach rechts. Mark zeigt Paul die Erinnerungen vor 20 Jahren.

,,Da siehst du, immer, wenn Dad weg war, misshandelte sie dich, genau wie diese eine Frau neulich. Nur, dass Mutter jemanden hatte, an dem sie ihren Aggressionen freien Lauf lassen konnte. Du als 9-jähriger konntest das kaum verarbeiten, weswegen auch dein krankes Unterbewusstsein entstanden ist. Wie du auch sehen konntest, waren die Erinnerungen aus jener Nacht dabei. Die, worin Mom Dad umbringt. Als sie sich mal wieder prügelten, wolltest du dazwischen gehen, doch Dad schlug dich weg, volle Kraft gegen die Tischkante, wobei wir unsere Gabe bekommen haben. Du warst noch bei Bewusstsein, aber Mom und Dad dachten, du wärst tot, also griff sich Mom in der Wut ein Messer und brachte Dad vor unseren Augen um. Du konntest soviel nicht ab, also musste jemand anders den Kopf hinhalten, jemand wie ich, jemand, der es ausbaden musste, alles ausbaden musste.“

,,Aber warum zeigst du mir das alles erst jetzt? Warum nicht früher?“

,,Nun, deine Psyche wurde so schwach in letzter Zeit, dass ich dich übernehmen konnte und dann ist es mir klar geworden. Paul, ich will dich.“

,,Ey sorry, aber so ein krasser Narzisst bin ich nicht, dass ich mich selber geil finde.“

,,Nein du Idiot, ich will deinen Körper, deinen Geist, dein Leben, einfach alles!“

,,Du machst wohl Witze, warum?“

,,Wenn du über 20 Jahre in einem Käfig eingesperrt wärst, würdest du nicht auch die nächstbeste Chance zur Freiheit ergreifen?

,,Nein, ich werde dir niemals mein Leben geben, vergiss es!“

,,Och nein, du wirst es mir nicht geben müssen, du wirst es mir überlassen wollen!“

 

Mit dieser Drohung verschwand Mark in der Dunkelheit und Paul konnte nichts anderes tun, als zu schreien.

,,Bleib hier, Feigling! Ich werde das niemals tun! HÖRST DU MICH!? NIEMALS!“

 

3. Akt

 

Ich weiß nicht, wie lange Mark mich schon am Quälen ist, aber er beraubt mich langsam meines Verstandes. Nachts, wenn ich schlafen will, zeigt er mir Unvorstellbares, sodass ich keinen Schlaf finde. Tags ist er immer bei mir und nervt mich, um meine Geduld zu strapazieren und mich labiler zu machen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit bis jetzt vergangen ist, 1 Tag? 1 Woche? 1 Monat? Er raubt mir jegliches Zeitgefühl, womit er mich noch mehr zermürbt. Dazu hat er meine komplette Routine und Strukturierung zerstört, jetzt sehe ich noch mehr wie ein Penner aus, als jemand, der wirklich auf der Straße lebt. Er möchte die Kontrolle, und das bewirkt er langsam, ich fühle mich immer schwächer und labiler. Bald wird Mark aufhören zu existieren. Aber heute scheint er mich in Ruhe zu lassen, das ist vermutlich die Ruhe vor dem Sturm. Hey, heute sind ja alle Läden zu, das heißt, es ist Sonntag. Er will mir wahrscheinlich heute als letzten Tag lassen. Nun, dann besorg ich mir mal meine Henkersmahlzeit.

 

Paul holt sich seine letzte Mahlzeit, bei einem eigenständigen Laden, der sonntags geöffnet war. Er tritt ein und guckt nach Lasagne, jenem Gericht, welches er schon sein ganzes Leben lang liebt. Als er sich irgendeine Fertiglasagne nimmt und Richtung Kasse geht, läuft ein kleines Mädchen an ihm vorbei, das nach seiner Mutter sucht und ruft. Er bringt es nicht übers Herz, das Mädchen zu ignorieren. ,,Mama? Mamiiiii. Wo bist du?“

,,Hallo Kleine, suchst du nach deiner Mutter?“

Zuerst guckt sie nervös auf den Boden, doch dann spricht sie wieder. ,,Du siehst aus wie die Leute im weißen Van, vor meiner Schule.“ ,,Aber nein, so einer bin ich doch nicht, ich will nur helfen.“ ,,Hm, ich weiß ja nicht, vielleicht nimmst du mich ja gleich mit!“

,,Ach komm schon, lass mich helfen, warum sollte ich ein kleines Mädchen in einem Laden mit Menschen und Überwachungskameras entführen?“ ,,Na gut, da ist was dran…“

,,Gut, streck deine Hände aus, es wird helfen, deine Mutter zu finden, vertrau mir.“

Trotz großem Misstrauen gibt das Mädchen ihm ihre Hände. Paul benutzt seine Gabe, um zu gucken, wo die Mutter des Mädchens zuletzt war und wird schnell fündig. ,,Sie ist in der Hygieneabteilung.“

,,Danke sehr, ich hatte riesige Angst!“

Das Mädchen will losrennen, aber dreht sich noch ein letztes Mal zu Paul um.

,,Wovor haben Sie Angst?“

,,Vor einem Monster. Es verfolgt mich und lässt mich nicht in Ruhe. Genau davor hab ich Angst.“ ,,Vor einem Monster? Ich hatte auch einmal Angst vor einem Monster, es war immer nachts in der Ecke meines Zimmers und hat mir total Angst gemacht.“ ,,Und fürchtest du dich immer noch davor?

,,Nein, nicht mehr, seit meine Mama mir sagte, dass es kein Monster sei, sondern genauso wie ich. Mit gleichen Gefühlen und Gedanken. Und vielleicht fürchte sich das Monster auch vor mir und wollte nur jemanden zum Reden. Danach hab ich es nicht mehr als Monster gesehen und hatte auch keine Angst mehr. Vielleicht solltest du einfach mal mit deinem Monster reden und es akzeptieren.“

,,Du redest ganz schön viel für dein Alter, und bist auch schlau dazu. Komm geh zu deiner Mutter.“ Paul schickt das Mädchen zu seiner Mutter, kauft sich seine Lasagne und geht nach Hause. Er hat die Wahrheit herausgefunden. Durch die Worte des Mädchens erkennt er endlich, was Mark wirklich ist.

Er legt er sich ins Bett, und anstatt sich zu fürchten und zu erschaudern, schläft er mit einem Lächeln ein.

Er wacht wieder in seinem Unterbewusstsein auf. Mark hat schon auf ihn gewartet.

,,Du weißt, was jetzt passiert, oder Paul? Es wird Zeit, dass sich dein wahres Ich endlich das nehmen darf, was ihm rechtmäßig zusteht! WAS MIR ZUSTEHT!“

Paul starrt ihn unbeeindruckt an.

,,Es reicht Mark, ich versteh es endlich.“

,,Was verstehst du endlich? Ah, du hast wohl deinen Untergang eingesehen, was? War nur eine Frage der Zeit!“

Mark stürmt auf Paul zu und packt ihn mit beiden Händen am Hals. Er versucht, ihn zu erwürgen und er tut dies mit einem psychopathischen und euphorischem Lächeln.

,,NA WER HAT JETZT DIE KONTROLLE? KOMM SCHON, SAGS MIR PAUL!“

,,Egal, was du tun wirst…du wirst mich nicht los…so wie ich dich nicht loswerden kann. Wir beide sind eins.“

,,Was laberst du da für ein Scheiß?! DU UND ICH SIND UND WERDEN NIEMALS GLEICH SEIN! NIEMALS EINS SEIN!“

Mark bemerkt in seiner Wut nicht, dass er Paul schon längst die Luftröhre zerfetzt und schlägt in Rage auf ihn ein, bis die Dunkelheit seine Leiche an sich nimmt. Triumphierend steht Mark vor ihm. Er meint, er würde als Mark Sinner wiedergeboren werden. Zu seiner Überraschung tritt Paul aus der Dunkelheit hervor, unverletzt, als wäre nie etwas gewesen.

,,Wie … wie kann das sein?! SAG MIR WIE!

,,Ich sagte dir bereits, wir beide sind dieselbe Person, dasselbe Ich. Wir können uns nichts anhaben, geschweige denn töten, weil wir beide eins sind.“

,,Nein das akzeptiere ich nicht, NEEEEIN!“

Mark rennt auf ihn zu und schmeißt ihn zu Boden. Er prügelt wieder auf ihn ein, doch Paul wehrt sich nicht. Dies geschieht mehrere Male. Paul taucht wieder auf, wird von Mark getötet und taucht wieder auf. Das passiert solange, bis Mark blutüberströmt und erschöpft auf dem Boden sitzt. Paul steht ihm gegenüber und schaut auf ihn herab.

,,Ich verstehe das nicht…“

,,Ich denke, du verstehst es, Mark, du willst es nur nicht akzeptieren.“

,,Na klar akzeptiere ich das nicht, denn alles, was ich jemals wollte, ist, dass du mich siehst. DASS DU MICH AKZEPTIERST!“

Paul bückt sich zu ihm nach unten und umarmt Mark.

,,Und ich sehe dich, Mark, ich sehe dich. Aber du musst verstehen, wir waren Kinder. Wir konnten nichts tun und wir tragen auch keine Schuld.“

Mark fängt schrecklich an zu weinen und verwandelt sich in Pauls Kindheits-Ich.

,,Alles was ich wollte war, dass sie aufhören! Sie sollten aufhören!“

Nun beginnt er, noch fürchterlicher an zu weinen, aber Paul auch.

,,Ich weiß, ich weiß. Ich auch, aber es ist jetzt vorbei. Du darfst endlich nach Hause, Mark.“

Mark hört auf zu weinen und sie lösen sich aus ihrer Umarmung. Paul wischt seinem Kind-Ich die Tränen vom Gesicht und lächelt ihn an. Mark dreht sich um und verschwindet in der Dunkelheit. Nur noch Paul steht alleine da.

Er wacht am nächsten Morgen auf, mit keiner Stimme und keinem Mark.

,,Bis zum nächsten Mal… Mark.“

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