von Elin Laurillard.
Ich lief. Ich lief, und ich wusste nicht wohin und wieso, eigentlich wusste ich nichts, außer dass ich lief, und zwar davon lief, weit weg, wo mich niemand finden würde. Wo ich mich selbst nicht finden würde.
Mir war kalt, eiskalt, dennoch schwitze ich, mein Atem ging stoßweise, ging er das? Ich hätte nicht sagen können, ob ich atmete, hörte nichts, Stille, als wäre alles eingefroren.
Es war dunkel, doch zugleich so hell, als würde ich geradewegs in die Sonne blicken. Meine Augen brannten, ich konnte nicht sehen. Konzentriere dich, ermahnte ich mich, kniff die Augen zusammen, doch je mehr ich mich anstrengte, desto weniger gelang es mir. Desto weniger sah ich, alles unscharf, hell, dunkel, es veränderte sich, blitzartig, mir wurde schlecht.
Eine Stimme erklang. Oder war sie schon immer da gewesen? Sie weinte, sehnsüchtig und voller Schmerz. Dann schrie sie, wütend, brüllte mich an. Ich hörte lachen, weinen, nicht nur eine Stimme, viele Stimmen, durcheinander, ungebremst und voller Emotionen, ob gut oder schlecht.
Es war so laut, überall Geräusche, ein Gewirr aus Stimmen, Stimmen die nach mir riefen, die ich nicht erkannte. So viele Geräusche, sie wurden immer lauter und lauter, klagten, beteten, wisperten, riefen.
Ich presste meine Hände auf die Ohren, hielt sie zu, doch es half nicht. Die Stimmen waren nicht dort draußen. Nicht in dieser Welt, die langsam über mir zusammenbrach. Sie waren in meinem Kopf, und die Tatsache war schlimmer, viel schlimmer, beängstigend. Es gab keine Ohren, die ich zuhalten konnte, um nichts zu hören. Keine Augen, die ich verschließen konnte, um die Wahrheit nicht erblicken zu müssen. Keine Beine, die mich hinfort tragen könnten oder Hände, welche sich wehren könnten, gegen das, was vor mir stand.
Hier gab es nur Leere, einsame Leere, nicht stark genug, um die Gedanken aufzuhalten, die ich nicht denken wollte, die Gefühle, die ich nicht fühlen wollte. Und in die Leere stürmten sie, Schmerz, Sehnsucht, Wut, um mich zu erreichen. Ich wollte fliehen, ich wollte es wirklich. Doch dort war diese unsichtbare Mauer gegen die ich prallte, immer wieder, bis sie mich einholten, mich umringten, meinen Namen riefen.
Aufhören, wollte ich mir sagen, doch ich hatte keinen Mund, konnte nicht sprechen, nicht schreien, nichts kontrollieren.
Sie kamen näher. Ich kannte sie nicht, konnte ihre Gesichter nicht ausmachen, wusste nicht, ob sie Menschen waren, Tiere oder nur Erinnerungen, die mich einholten.
Sie kamen näher und ich war mir sicher, er wäre gekommen, der Augenblick, an dem ich von dieser Welt verschwinden würde, für immer.
Ich hatte Angst, doch fühlte nichts. Die Leere in meinem Kopf kämpfte gegen die Gefühle in meinem Herzen, doch wer würde gewinnen? Würde mein Herz verlieren und nur noch leerer werden, würde ich nichts mehr fühlen, innerlich tot? Würde die Leere verlieren und ich könnte nur noch weinen, weil die Gefühle, die ich niemals zugelassen hatte, mich überrannten? Oder aber würde keiner gewinnen, sie beide ewig kämpfen, und ich würde zuschauen müssen, nichts tun können, niemals glücklich werden, weil ich nicht wusste was richtig war, nicht wusste wovor ich davon lief, sondern immer nur lief und lief? Ich wusste, ich dachte vieles, ich dachte zu viel, zu tief, doch nur einiges konnte ich in Worte fassen. Ich hatte mehr Gedanken, verzweifelte Gedanken, als mir guttaten, dass mein Kopf schmerzte, als würde ein Hammer unaufhörlich von innen auf ihn einschlagen, doch nur ein Gedanke sickerte ganz durch. Egal, wie der Kampf ausgehen würde - Ich würde sterben. Im inneren.
Dann plötzlich, ein tiefer Ton, ein Ton, voller Klarheit, Optimismus. Augenblicklich war alles still, die gesichterlosen Stimmen, verschwunden, die Gefühle, verschwunden, die Gedanken, verschwunden. Das Einzige was ich hörte, war dieser Ton. Sachte verwehte er, wurde immer leiser, und ich lauschte.
Kaum verklangen, setze ein neuer Ton ein, höher, sanfter, lieblich. Meine Kopfschmerzen waren fort, die Temperatur angenehm, keine Geräusche, nur die Musik. Ich fühlte mich beschützt. Als würde die Musik ihre Arme um mich legen und alles vertreiben, das mich angreifen wollte, wie ein Feuer wilde Tiere vertrieb.
Ein dritter Ton, warm, vertraut, und er sprach mit mir, ohne etwas zu sagen. Alles wird gut. Die Sehnsucht war fort, wurde durch etwas anderes ersetzt, zuhause, als wäre ich nach langer Zeit endlich angekommen.
Und das Stück begann. Neue Töne, neue Klänge, neue Instrumente.
Andere Instrumente, sie klangen verschieden, doch sie ergänzten sich, wurden eins. Sie alle waren wichtig, unersetzbar, würde auch nur eines fehlen, wäre das Stück unvollständig.
So unterschiedlich, und doch spielten sie im Einklang miteinander, brauchten einander, jeder Ton perfekt. Mir wurde klar, sie hätten auch kämpfen können. Sie hätten versuchen können, lauter als alle anderen zu spielen, am besten gehört zu werden, durcheinander, egoistisch. Sie hätten sich selbst in den Mittelpunkt stellen können, hätten schneller spielen können als alle anderen, um aufzufallen, besonders zu sein. Doch das hätte das Stück ruiniert. Hier gab es keinen Gewinner. Es gab keinen Verlierer. Nur Einklang. Frieden.
Ich lief. Ich lief, und ich wusste nicht wohin und wieso, eigentlich wusste ich nichts, außer dass ich lief, und zwar davon lief, weit weg, wo mich niemand finden. Ich wusste nicht wovor ich davon lief. Doch ich würde es herausfinden. Und ich würde Frieden schließen.
Mit meinen Gedanken. Mit meinen Gefühlen. Also blieb ich stehen.
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