von Greta Waldmann.
Ich rannte. Meine Füße stolperten über das Kopfsteinpflaster, mein Atem ging stoßweise. Ich stürzte um eine Hausecke und musste mich kurz an der Wand abfangen, um nicht hinzufallen. Ich trug einfach die falschen Schuhe für diesen Mist. Ich riss mich zusammen und hetzte weiter. Ich wusste, dass mir bald die Kraft ausgehen würde. Und er hatte leider eine bessere Kondition als ich. Meine Augen suchten die Straße ab. Ein Haus reihte sich ans nächste, Laternen, Bäume, Geschäfte. Eine Fußgängerzone! Ich schlitterte in die Straße. Ich musste mich irgendwo verstecken. Mein Blick fiel auf ein kleines Café in einer Nische der Straße. Es trug den wahnsinnig kreativen Namen „Das Café“. Egal, für meine Zwecke reichte es.
Ich hetzte darauf zu, riss die unauffällige dunkelbraune Tür auf und machte einen großen Satz hinein.
Schwer atmend stütze ich mich auf einen leeren Tisch und beobachtete meinen Verfolger durch das kleine Schaufenster, wie er an mir vorbei jagte. Ich lächelte.
„Vor wem bist du denn auf der Flucht?“, fragte mich jemand.
Ich fuhr herum und erfasste jetzt erst das Innere des Cafés. Es war sehr klein und in eher dunklen, wunderbar unauffälligen Brauntönen gehalten. Im Hintergrund erklang klassische Musik, die beinahe sofort meinen viel zu schnellen Atem beruhigte. Ganz sanft war sie, schon fast romantisch. Die Einrichtung wirkte ein wenig altmodisch, aber durchaus sehr nett. Aber scheinbar sahen das nicht alle so wie ich, denn es war vollständig leer. Außer mir befand sich nur ein junger Mann hinter dem Tresen und räumte in paar Gläser weg. Er sah mich abwartend an und mir fiel auf, dass ich nicht auf seine Frage geantwortet hatte.
„Mmh?“, machte ich und lehnte mich betont lässig gegen den Tisch.
Der Mann sah mich an, als ob er genau wüsste, dass ich mich dumm stellte.
„Du bist doch gerade vor jemandem weggelaufen, oder nicht?“, hakte er nach.
„Was ich? Nein. Neeein!“, beteuerte ich, obwohl es sich selbst für mich nicht glaubhaft anhörte.
Ich war eine miserable Schauspielerin.
„Sicher“, erwiderte er und lachte. Ich dachte, dass ich sein Lachen mochte.
„Ich… äh wollte nur einen Kaffee“, improvisierte ich schnell.
„Tatsächlich?“, fragte er, immer noch schmunzelnd.
„Ja!“, sagte ich enthusiastisch und setzte mich an die Theke. Dann sah ich mich um.
„Habt ihr überhaupt auf?“, fragte ich verwirrt, weil mir wieder bewusst wurde, dass wir hier ganz alleine waren.
„Ich weiß nicht, haben wir?“, fragte er und stützte sich mir gegenüber auf die Theke, „Sollte die begeisterte Kundin, die definitiv nicht vor jemandem auf der Flucht ist, nicht beim Reinkommen bemerkt haben, was auf dem Schild vor der Tür steht?“
„Gut, du hast gewonnen“, stöhnte ich, „Ich war tatsächlich auf der Flucht.“
„Ach“, machte er und legte neugierig den Kopf schief. Und ich dachte, dass ich seine Augen ebenfalls mochte. Ich schüttelte leicht den Kopf und sah weg. Dabei fiel mein Blick auf das
Schildchen auf seiner Brust: Theo, stand darauf.
„Vergiss es, ich sag dir nicht, vor wem“, sagte ich schmunzelnd.
„Schade“, erwiderte der junge Mann, Theo, unbekümmert, stieß sich von der Theke ab und stellte eine Kaffeetasse unter den Automaten.
„Heißt das, ihr habt auf?“, fragte ich, erleichtert, dass er nicht nachhakte. „Möglicherweise“, antwortete Theo.
„Warum ist es dann so leer hier?“, fragte ich verwirrt.
„Ist um diese Tageszeit immer so.“, er stellte meinen Kaffee vor mir ab. Ich hob die Tasse an und nahm einen Schluck. Wow. Der war wirklich gut.
Ich trank noch ein paar Schlucke, bevor ich weiter fragte: „Arbeitest du alleine hier?“
„Das Café gehört mir“, antwortete er, während er sich wieder daran machte, Gläser und Flaschen
in die Schränke zu sortieren, „Ich habe es von meinem Großvater übernommen“
Das erklärte die altmodische Einrichtung.
„Okay“, sagte er, ging um den Tresen herum und setzte sich auf den Hocker neben mir, „Wo drückt denn der Schuh?“
Ich lächelte über seine altmodische Ausdrucksweise. Aber er sah mich aus ehrlichen, neugierigen Augen an und irgendwie fühlte ich mich wohl in diesem kleinen, unscheinbaren Café oder vielleicht war es auch einfach der Kaffee, der wirklich so gut war, dass er nicht von dieser Welt sein konnte, auf jeden Fall hörte ich mich auf einmal selbst sagen: „Mein Vater versucht, mich zu verkuppeln“
Theo blinzelte kurz und runzelte dann die Stirn: „Okay, und mit wem?“
Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee: „Mit dem Sohn eines Geschäftspartners“
„Und du willst das nicht?“, riet Theo von der Seite.
Ganz plötzlich wurde mir klar, wie sehr ich jemanden zum Reden gebraucht hatte. Deswegen stellte ich meine Kaffeetasse ab und erzählte dem fremden, jungen Mann einfach alles. Was hatte ich zu verlieren?
„Mein Vater ist Geschäftsführer eines Pharmaunternehmens. Impfstoffe und so. Aber das klingt toller als es ist,“ fügte ich mit einem Schulterzucken hinzu, „Ich weiß nicht mal genau, was die da überhaupt machen, außer Geschäftsessen, Meetings und wieder Geschäftsessen. Jedenfalls hat er jetzt wohl einen größeren Deal an Land gezogen, er redet seit Wochen von nichts anderem mehr. Es ist wohl eine Fusion oder so mit einem anderen Unternehmen, nur, dass er nicht nur die Firmen, sondern - wo er schon dabei ist - auch am liebsten die Familien fusionieren will. Und das heißt, er versucht mich jetzt schon seit Wochen, mit diesem Tobi zu verkuppeln. Und ich“, ich fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, „Ich kann den nicht leiden. Er ist arrogant, hat mit mir noch nie mehr als zwei Sätze geredet und er riecht immer so seltsam, weil er, glaub ich, auch irgendwas Illegales raucht“
„Wow, okay, das ist viel“, lachte Theo.
Ich schnaubte: „Das ist nicht witzig!“
„Alles klar, ich lache auch nicht“, sagte er schnell, richtete sich gerade auf und setzte eine neutrale Miene auf. Ich schmunzelte. Jetzt, wo ich das alles ausgesprochen hatte, fühlte ich mich schon viel leichter.
„Okayyy, und der Mann vor dem du gerade geflohen bist, war…?“, fragte Theo
„Der nervige Security meines Vaters“, seufzte ich.
„Ich bin abgehauen“, gestand ich dann etwas kleinlaut, „Heute Abend ist nämlich wieder irgendein Geschäftsessen, zu dem mein Vater mich schleppen will, damit ich diesen Tobi noch ein bisschen besser kennenlerne.“
„Du könntest ihm doch einfach sagen, dass du kein Interesse hast“, schlug Theo vor.
„Ja, ich weiß“, ich sah zur Seite, „Aber ich kann mich nicht gegen ihn stellen“
„Warum nicht?“, fragte Theo.
„Mein Vater hat gewisse Erwartungen an mich.“
„Und was wäre, wenn du die enttäuschen würdest?“, hakte er nach.
„Das weiß ich nicht“, ich sah ihn wieder an und musste schlucken. Eine schwere Machtlosigkeit prasselte auf mich herab. Ich konnte mich nicht gegen meinen Vater auflehnen. Vielleicht würde er mich hassen und was sollte ich dann tun? Er war alles, was mir geblieben war, nachdem meine
Mutter uns verlassen hatte. Ich konnte nicht alleine weitermachen.
Und was genau tat ich hier überhaupt? Ich saß mit einem fremden Mann in einem fremden Café und schüttete ihm mein Herz aus, bevor ich wieder zurück in meine Realität treten musste. „Und ich weiß auch nicht, warum ich dir das alles erzählt habe“, sagte ich schnell und drehte mich weg. Ich konnte spüren, dass Theo mich von der Seite beobachtete. Inmitten unseres Schweigens, bemerkte ich eine Veränderung in der Hintergrundmusik. Sie war nicht mehr so romantisch und beruhigend wie bei meinem Eintreffen. Stattdessen war sie schnell und verspielt.
Sie schien vor Entschlossenheit geradezu zu strotzen.
„Was ist das?“, fragte ich geistesabwesend, während ich die Klänge in mich aufnahm. Schon fast auf magische Weise nahm mich die Melodie mit auf eine Reise und erfüllte mein ganzes Wesen. „Das ist ein Klarinetten-Quintett von einem der Lieblings-Komponisten meines Großvaters“, erwiderte Theo, „In meiner Kindheit lief dieses Stück hier den ganzen Tag rauf und runter. Es ist praktisch die Musik, mit der ich aufgewachsen bin“
„Es ist so…“, ich brach ab, suchte nach den richtigen Worten, „…so kraftvoll.“
„Das ist es. Es stammt von einem sehr talentierten, schwarzen Komponisten, der allen
Widerständen zum Trotz voller Energie war und viel vorhatte. Er ist leider viel zu früh gestorben. Aber mein Großvater hat immer gesagt, dieses Stück würde ihm Kraft schenken, weil dort ein Teil dieser Energie sozusagen hineingeflossen ist“, antwortete Theo gedankenverloren. „Ja, das kann ich mir vorstellen“, murmelte ich, während ich der Musik lauschte.
„Also“, Theo fing meinen Blick auf, „Ich hoffe, es kann auch dir Kraft schenken. Die Kraft, mit deinem Vater über die Dinge zu reden, die er von dir erwartet und ihm zu sagen, was du dazu fühlst. Die Kraft, etwas zu verändern“
Ich starrte in Theos Augen. Seine Worte vermischten sich mit der Musik und trafen auf mein Herz. Ich atmete ein und die Musik erfüllte jede Zelle meines Körpers bis in den letzten Winkel und verwandelte sich in eine Kraft, die ich so noch nie zuvor gespürt hatte.
Ich konnte doch nicht für immer zuhause sitzen und meinen Vater sämtliche meiner Entscheidungen treffen lassen.
Ich stand auf und betrachtete Theo mit einer plötzlich aufwallenden, ungeheuren Dankbarkeit. Aus reinem Impuls heraus umarmte ich ihn.
„Danke, danke, danke!“, rief ich, „Du hast recht! Ich werde mit meinem Vater reden. Es wird Zeit, dass ich selbst entscheide!“
Ich lief zur Tür, konnte es kaum noch erwarten, meine neu gewonnene Kraft in Taten umzusetzen. „Ach, eins noch“, ich blieb an der Tür stehen. Theo saß immer noch an derselben Stelle und sah mich an, „Kann ich… wiederkommen?“, fragte ich mit einem schiefen Lächeln.
„Sicher, jederzeit“, sagte er und erwiderte mein Lächeln.
Ich stürmte aus dem Café und rannte den gleichen Weg zurück, den ich gekommen war, mindestens genauso schnell.
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