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Das Schiff

von Matilda A. Kaya.


Hier stand ich nun, an der Reling eines Schiffes, das mich weit weg bringen sollte. Weit weg von allem, was mir einst vertraut war. Und das war auch gut so.

Der Wind blies mir eiskalt ins Gesicht und ließ meine Mimik erstarren.

Im Nachhinein kann ich nicht mehr sagen, ob ich lächelte, oder ob mein Gesicht lediglich vom Wind verzogen wurde. Meine Hände krallten sich an der Reling fest, als wollten sie sich an meinem alten Leben festhalten. Ein Leben, aus dem ich mich mit so viel Mühe befreit habe.

Und nun war es endlich soweit. Ein neuer Pass, ein neuer Name, eine neue Identität, neue Ufer, ein neues Leben.

Letztendlich war es doch so einfach gewesen.

Von irgendwo hinter mir erklang Musik, doch ich konnte mich nicht dazu bringen, den Kopf zu drehen, um die Quelle auszumachen. Nein, ich starrte gierig, geradezu besessen auf das Meer vor mir, als könnte es mir Antworten auf die vielen Fragen geben, die ich bezüglich meines neuen Lebens hatte.

Die Musik jedoch schob sich immer mehr in mein Bewusstsein. Sie kämpfte gegen den kreischenden Wind in meinen Ohren an. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich das Stück kannte.

Instrumental. Ich konnte mich nicht an den Komponisten erinnern, aber ich war mir sicher, dass ich es vor etlichen Jahren in der Schule gespielt hatte.

Ich hatte damals Klarinette gespielt. War sogar recht gut. Ich hatte vorgehabt, mich nach dem Abi bei Musikhochschulen zu bewerben, doch daraus ist ja leider nie etwas geworden.

Als ich 16 war, hatte ich zum ersten Mal Kontakt zum organisierten Verbrechen. Mein Onkel hatte mich in München, wo ich mit meiner Mutter wohnte, aufgesucht. Ich sollte zu ihm nach Norddeutschland ziehen. Ich war gut in der Schule, nie in Konflikt mit dem Gesetz geraten, außerdem kannte mich im Norden niemand. Er wollte mich bei der Polizei unterbringen, um dort seinen Befehlen zu folgen. Ich weigerte mich, doch mir wurde erklärt, dass mein Onkel nicht jemand war, dessen Befehlen man sich widersetzen konnte. Und so war es aus mit dem Traum, Musikerin zu werden.

Stattdessen folgten auf das Abitur eine dreijährige polizeiliche Ausbildung und darauf weitere zehn Dienstjahre, in denen ich für meinen Onkel Verbindungen zu anderen korrupten Polizisten schuf.

Bis Anfang dieses Jahres der gefährlichste Auftrag von alle kam: Eine Journalistin wollte die institutionalisierte Korruption bei der Polizei aufdecken. Die Leute meines Onkels brachten sie um. Ich wurde als Hauptkommissarin in der Ermittlungen zu ihrem Mord eingesetzt und sollte einen unschuldigen Mann als obsessiven Stalker darstellen und festnehmen.

Alles war perfekt durchgeplant. Nie wäre ein Wort von institutionalisierter Korruption an die Öffentlichkeit geraten — hätte ich die Ermittlung nicht von vornherein gegen den Willen meines Onkels sabotiert.

Die eine verschwundene Akte hier, die andere Tonaufnahme von Gesprächen, die es gar nicht hätte geben dürfen, dort — und schon war es so weit: Korruptionsintervention, Festnahmen, ein neun Stunden dauerndes Verhör und schließlich: die Aussage, Zeugenschutz, ein neues Leben.

Und so hatte mich dieser Fall unter einem neuen Namen auf dieses Schiff gebracht, hinaus aus Deutschland.

Die Musik hinter mir schwoll an und war so laut, dass es unangenehm wurde. Eine bittere Erinnerung an alles, was nie werden konnte, nie werden durfte. Aber auch eine neue Hoffnung.

Dieses Schiff würde mich nach Norwegen bringen. Mein Leben in Norwegen war ein unbeschriebenes Blatt. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich vollkommen auf die Musik, versuchte, mich an die Griffe auf der Klarinette zu erinnern, die ich brauchte, um dieses Stück zu spielen.

Ich hatte eine zweite Chance bekommen. Wer hatte im Leben schon so ein Glück?

Ich stellte mir vor, die letzten 13 Jahre seien nie geschehen. Ich bin wieder 18, kurz vor dem Abitur und auf einmal steht mir die ganze Welt offen.

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