von Sara Ilic.
Der Richter nahm Platz und räusperte sich. Er strich sich durch die schwarzen Haare und glättete seinen Anzug.
„Wir fahren fort.“ der Richter schlug mit seinem Hammer zweimal auf das dicke Holzplättchen. “ Wir waren stehen geblieben, bei der Anschuldigung. Der Kläger möge sich erheben, und seine Anschuldigungen erläutern.“ Mein Mandant blieb sitzen. Der Richter runzelte die Stirn. Ich sprang auf: “Entschuldigen Sie, mein Mandant ist anscheinend nicht sehr gesprächig. Ich selbst hatte noch nicht die Gelegenheit gehabt, mit ihm persönlich über den Fall zu sprechen, da mich Recherche und ausgiebige Gespräche viel Zeit gekostet haben. Wir hatten bislang nur einen schriftlichen Austausch. Ich bin für die heutige Anklage sein Sprachrohr. Das einzige, was ich Ihnen über meinen Mandanten mitteilen kann, ist, dass sein Name Casanova Casablanca der Vierte ist.” Der Richter hustete kurz und sagte dann zu mir: „Nun gut, eigentlich sollte zwischen Mandant und Anwalt viel Kommunikation herrschen, aber wenn sie sich gut mit dem Fall auskennen und ihr Mandant allem zustimmt, was sie sagen, sollte das ja reichen. Nicht wahr? Wir überlassen nun Musik das Wort. Sie haben das Recht, sich zu verteidigen. Und Sie-“, er blickte streng zu uns, „haben das Recht zu schweigen.“ Musik erhob sich.
(MUSIK)
Meine Ohren empfingen die merkwürdigen Wellen, aber ich verstand überhaupt nicht, worum es ging. Deshalb bat ich um eine Erläuterung. Musiks Übersetzer stand auf und fing an zu erklären, was seine Mandantin erzählt hatte.
„Musik hat gerade erklärt, das es überhaupt nicht so war wie es schien. Zumal war sie nicht eingebrochen, sondern hatte ein offenes Fenster entdeckt, welches in einen Raum hineinführte. Sie hat überhaupt nichts gestohlen oder jemanden verletzt.“
Der Richter öffnete eine der Holzschubladen an seinem Tisch. Heraus holte er eine dicke Akte. In fetten Lettern stand oben drauf: Musik. Dazu brachte ihm einer der Assistenten ein noch viel dickeres Buch, auf dem ‚Grundgesetz’ stand. Er tauschte ein paar Blicke mit uns aus und blätterte dann in dem Grundgesetz. Nach einigen Minuten räusperte er sich wieder und gestand:
„Tatsächlich steht im Grundgesetz rein gar nichts über Musik. Wir haben also keinen rechtlichen Anhaltspunkt. Um diese Anklage also überhaupt gelten zu lassen, brauchen wir sehr gute Beweise und mehrere Zeugenaussagen.
Wir schauen noch einmal kurz in die Akte von Musik, ob sie schon ein Vorstrafenregister hat. Oh ja. Oh oh oh. Hmm…. Interessant 5700 Seiten… gut. Also Musik hat ein sehr…ausgiebiges…Vorstrafenregister. Folgende Dinge wurden als Serienverbrechen eingetragen: Gefühlsmanipulation, Einbruch, Nachtruhestörung, wiederholte Verführung, Erregung der Tanzbedürfnisses, Identitätsdiebstahl, Verbreitung gefährlicher Nostalgie, Täuschung durch Playback. Wie Sie sehen, ist Musik nicht ganz unschuldig.“ Ich lächelte siegessicher. Ich hatte mich ganz detailliert vorbereitet und auch sehr viel Recherche getrieben. Als Anwalt muss man gute Arbeit für seine Mandanten leisten.
“Ich würde gerne als einen Beweis einen guten Freund meines Mandanten bitten nach vorne zu kommen.“ Ich hörte aus den hinteren Gängen, dass er aufstand und sich langsam Richtung Tisch bewegte. Er setzte sich auf den Zeugen-Stuhl und schaute auf seine Füße. Der Richter fragte: „Wie heißen Sie?“ „Luigi Nottono“ flüsterte er und blickte gedankenlos und bedrückt auf den Boden. Ich fuhr fort: „Luigi war lange Zeit ein Sklave der Musik. Er war ein italienischer Balladen Sänger und hat im Auftrag von Musik, Manipulation und Depression begangen. Irgendwann wollte er nicht mehr und Musik hat seine eigenen Waffen gegen ihn angewendet. Wie Sie sehen können, geht es Luigi nicht so gut. Was aber wichtig ist: Musik hat alles sehr gut durchdacht, denn die Verbrechen gehen nur in das Vorstrafenregister von ihr. Und da im Grundgesetz nichts über Musik steht, bedeutet das, dass sie auch nicht angeklagt werden kann. Luigi kann das bestätigen.“ Luigi nickte nur und verließ dann den Stuhl. Da stand Musik auf.
(MUSIK)
Ich lauschte erneut den merkwürdigen Klängen und Melodien. Ich beschloss meine Argumente aufzutischen: „Auch wenn ich Musik überhaupt nicht verstehen kann, weiß ich, dass ihre Argumente nicht ansatzweise so gut sind wie meine. Abgesehen davon, dass mein Mandant Musik hasst, gibt es viele weitere Gründe warum Musik es nicht verdient, auf dieser Welt zu sein.“
Der „junge Mann“ aus dem Zeugenstand, welcher vom Richter angekündigt worden war, stand auf. Er war vermutlich 15 Jahre alt und trottete nach vorne.
„Sorry, wollte eigentlich nicht unterbrechen, aber das ist lowkey dumm hier.“
Ich war leicht erstaunt von der Gelassenheit des Jungen. „Unterbrich mich nicht, junger Mann.“, sagte ich ernst. Der Junge schaute mich an und grinste.
Ich fuhr fort: „Musik besteht aus mehreren aneinandergesetzten Tönen. Meistens wahllos. Musik hat überhaupt keine Aussagekraft. Sie ist sehr abstrakt und merkwürdig. Die Menschen verlieren sich, meinen etwas zu hören, was es überhaupt nicht gibt. Und sowieso sind Worte viel besser als Klänge. Wenn ich taub bin, kann ich Lippen lesen. Die Wörter kann ich verstehen. Aber wenn mir jemand Musik abspielt kann ich es nicht hören.“
Der Junge hob die Hand.
„Sind Sie denn taub?“
„Eh…Nein.“
„Dann müssen wir doch gar nicht darüber reden.“
„Natürlich müssen wir das. Musik zerstört diese Welt, unsere Leben. Sie manipuliert uns. Verstehst du das denn nicht? Es gibt so viele Musiker, die sich das zum Job machen. Ich sag dir was, diese Menschen denken sie seien frei, aber eigentlich sind sie alle nur Sklaven egal von wo sie kommen, ob eigenständige Sänger, Chöre oder Orchester. Sie alle werfen ihre Freiheit in den Papierkorb, sobald sie nur ein Instrument berühren.”
„Ich muss dir ehrlich sein, wen juckt das? Plus, zu was soll ich dann lipsyncen in meinen TikTok Videos?“
„Das… das weiß ich nicht. Du musst dann reden.“
„Das nervt. Ich will nicht meine echte Stimme zeigen. Datenschutz und so.“
„Aber, aber...Musik kann dich traurig machen und wütend! Du wirst gezwungen, zu tanzen. Du…“, ich stellte mich mitten vor den Richter und schaute in den Saal, in die verblüfften Gesichter. „Unser Wille. Wir haben ihn nicht mehr. Wir werden beeinflusst. Merkt ihr das nicht? Dem muss man ein Ende setzen.”, schloss ich.
„Ne ne! Vielleicht hat nicht Musik an sich eine Bedeutung, aber die Lyrics schon. Und öffentlich zu tanzen macht sowieso niemand. Außer vielleicht Rentner. Passt also zu dir.“
„Entschuldige mal, ich bin 36. Außerdem, was ist mit klassischer Musik? Diese drückt ja „anscheinend“ etwas aus, ohne, dass jemand darin singt.“
„Ich höre keine klassische Musik. Aber…“
Der Richter schlug mit seinem Hammer auf das Holz. „Ich würde Sie bitten, die Diskussion kurz einzustellen und Musik sprechen zu lassen.“ Musik sah zum ersten Mal so aus, als hätte sie Argumente, die mich zerstören könnten.
(MUSIK)
„Hahaaaa! Das ist krass. Junge sie hat dich auseinandergenommen.“, lachte der Teenager.
„Wie, du kannst sie verstehen?“, fragte ich verwundert.
„Ja, du nicht?“ Ich schüttelte den Kopf. Der Junge prustete los.
„Du bist so hobbylos, ey. Auf Ernst. Du machst eine Anklage gegen jemanden den du nicht verstehst und du kannst überhaupt nichts dagegen sagen, weil…du nichts verstehst!“
Ich zog mich ein wenig zurück und blickt hinüber zu Musik. Sie grinste mich frech an. „Das ist ganz klar eine Allianz!“, rief ich.
„Chill. Auf keinen Fall alliiere ich mich mit irgendwem. Und sowieso, das sagst du nur weil du keine Argumente mehr hast.“
Ich war beleidigt.
„Bro, Ich sag dir mal, warum wir Musik brauchen. Stell dir mal vor: Donnerstag ersten beiden Stunden Chemie. Die Lehrerin kommt 5 Minuten zu früh und hat zehn Arbeitsblätter vorbereitet. Die Hälfte der Klasse kommt zu spät, sie ist sofort angepisst und du weißt direkt: die Zeit wird in Geschwindigkeit 0,25 vergehen. Dann fängt sie an etwas von Ionisierungsenergie und Ionenverbindungen zu labern. Was machst du dann? Ganz einfach: nur ein AirPod ins Ohr stecken, Musik anmachen und den Main-Character Moment genießen. Sorry, aber du bist der einzige, der Musik nicht mag. Jeder andere Mensch kam schon immer damit klar. Musik ist irgendwie ein Teil von uns nicht wahr?“
Ich war wütend, sehr sehr wütend: „Ich werde fuchsteufelswild. Ich kann es einfach nicht fassen, dass ihr da nicht durchblicken könnt. Ja, dann geh ich halt! Von euch ist sowieso niemand zu gebrauchen!“ Der Richter schlug mit dem Hammer auf das Holztäfelchen. „Bitte, Herr Anwalt, beruhigen Sie sich doch.“ Ich hob die Hand und unterbrach. „Euer Ehren. Meine Arbeit ist getan.…“ „…und sie haben versagt…“ „und mein Mandant und ich verlassen diesen Raum jetzt!“ Ich blickte zu Casanova hinüber und gab ihm mit einer Handgeste zu verstehen, dass wir nun gehen sollten. „Adieu!“ Ich stampfte nach draußen und zog Casanova hinter mir her. „Ich kann es nicht fassen. Können Sie es fassen? Ich habe wirklich versagt. Jetzt stehen sie nicht so dumm da. Sagen sie doch was!“ Casanova blickte stumm zu mir herunter und machte eine Handbewegung die ich nicht verstand. Ich zuckte mit den Schultern und wieder schien er merkwürdige Zeichen in der Luft zu formen. Er wedelte mit den Hände zu seinem Gesicht und vor der Brust. Und da verstand ich. DER MANN WAR TAUB! „Heilige Schei-„, entfuhr es mir fast, „Warum haben Sie mir das nicht gesagt? Waruuum?!?!“ Ich erwartete ein Antwort und und erinnerte mich dann wieder, dass er ja taub war. Ich seufzte und blickte in den langen Gang des Gerichts. Auf einmal kam Musik von hinter mir aus der Tür. Sie bückte sich kurz zu mir herunter und sagte nur: ‘Musik’
Ich weiß nicht genau was sie gesagt hat aber ich glaube es war sowas wie: “Kannst dreimal raten, warum der taub ist.” Mir klappte der Mund auf und Musik lief lachend davon. Die Welt wird wahrscheinlich noch lange ihre Geschichten hören …
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